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Ganztagsschule. Ein Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem?

von Laura Smith (Autor:in)
©2015 Hausarbeit 60 Seiten

Zusammenfassung

Die PISA-Studie 2001 bescheinigte dem deutschen Schulsystem eine unzureichende Chancengerechtigkeit: In kaum einem anderen Land besteht ein so starker Zusammenhang zwischen Leistungsniveau und sozialer Herkunft. Kritiker führten den Misserfolg auf die überwiegend vorherrschende Halbtagsschule zurück, denn führend in den PISA-Studien waren vor allem die europäischen und außereuropäischen Länder, in denen die Ganztagsschule bereits zahlreich etabliert ist. Die vorliegende Arbeit möchte daher eine Antwort darauf finden, ob, wie und in welchem Rahmen von der Ganztagsschule tatsächlich eine kompensatorische Wirkung ausgeht.

Dabei wird in folgenden Schritten vorgegangen: Zunächst wird versucht den Begriff der Chancengerechtigkeit zu definieren. Aufbauend auf diesem Verständnis wird im nächsten Schritt das deutsche Bildungssystem daraufhin untersucht, um schließlich eine Situationsbeschreibung zur aktuellen Lage im deutschen Schulsystem zu liefern. Schließlich rückt die Ganztagsschule in den Fokus des Interesses. Zuerst werden definitorische Ansätze diskutiert, darauffolgend ein kurzer Abriss der aktuellen Ganztagsschulentwicklung gegeben, sowie ein Bild der aktuellen Lage in Deutschland gezeichnet. Abschließend widmet sich die vorliegende Arbeit ihrer zentralen Fragestellung, zu deren Beantwortung sie auch empirische Ergebnisse aus der deutschen Forschung heranzieht: Kann die Ganztagsschule einen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit leisten?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung

2. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems
2.1 Zum Begriff ÄChancengerechtigkeit“
2.2 Die Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssystems
2.2.1 Die Integrationskraft des deutschen Bildungssystems
2.2.2 Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems
2.2.3 Die Kompetenzförderung im deutschen Bildungssystem
2.2.4 Die Zertifikatsvergabe im deutschen Bildungssystem
2.3 Zusammenfassung und Fazit
2.3.1 Bildungsungleichheiten nach sozialer Herkunft
2.3.2 Bildungsungleichheiten nach Migrationshintergrund
2.3.3 Bildungsungleichheiten bei Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischen Förderbedarf
2.3.4 Fazit

3. Zentrale Ursachenkomplexe schichtspezifischer Bildungsungerechtigkeiten20
3.1 Primäre und sekundäre Effekte sozialer Herkunft
3.1.1 Primäre Effekte sozialer Herkunft
3.1.2 Sekundäre Effekte sozialer Herkunft
3.2 Primäre und sekundäre Effekte der ethnischen Herkunft

4. Verbesserung der Chancengerechtigkeit durch den Ausbau von Ganztagsschulen!?
4.1 Begriffliche Annäherung an das Schlagwort ÄGanztagsschule“
4.2 Entwicklung der Angebotsstruktur und Schülerteilnahme an Ganztagsschulen in Deutschland
4.3 Chancen und Grenzen der Ganztagsschule zur Kompensation von Bildungsungleichheiten
4.3.1 Kompensation primärer Herkunftseffekte
4.3.1.1 Individuelle Förderung als grundlegendes Konzept zur Kompensation primärer Herkunftseffekte
4.3.1.1.1 In den Unterricht integrierte Förderung
4.3.1.1.2 Gezielte ergänzende Fördermaßnahmen
4.3.1.1.3 Förderung im Rahmen des Zusatz- und Neigungsprogramms
4.3.1.2 Empirische Belege zur individuellen Leistungsentwicklung
4.3.1.2.1 Wirkungen der Ganztagsschule auf das Sozialverhalten und auf das soziale Lernen
4.3.1.2.2 Wirkungen der Ganztagsschule auf kognitive und motivationale Variablen
4.3.1.2.3 Zusammenfassung der Befunde der StEG- Studie
4.3.2 Kompensation sekundärer Herkunftseffekte
4.3.3 Zusammenschau

5. Ganztagsschule - Stigmatisierung oder Nachteilsausgleich!?

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung und Fragestellung

Vor dem Hintergrund der deutschen PISA-Ergebnisse aus dem Jahre 2001 wurde das deutsche Bildungssystem zunehmend Gegenstand politischer Debatten. Die PISA-Studie bescheinigte darin dem deutschen Schulsystem eine unzureichende Chancengerechtigkeit: In kaum einem anderen Land besteht ein so starker Zusammenhang zwischen Leistungsniveau und sozialer Herkunft. Darüber hinaus lagen die durchschnittlichen Kompetenzen deutscher Schüler/-innen allgemein deutlich unter dem OECD-Durchschnitt.1 Kritiker führten den Misserfolg der Schüler/-innen auf die überwiegend vorherrschende Halbtagsschule zurück, denn führend in den PISA-Studien waren vor allem die europäischen und außereuropäischen Länder, in denen die Ganztagsschule bereits zahlreich etabliert ist.2 Somit wurde der Ruf nach Reformen immer lauter, wobei die Ganztagsschule in den Fokus der Diskussionen geriet. Einen erheblichen Beitrag zur Initiierung und Implementierung der Ganztagsschule leistete dabei das Investitionsprogramm ÄZukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) von 2003, im Rahmen dessen finanzielle Mittel in Höhe von vier Milliarden in den Auf- bzw. Ausbau von Ganztagsschulen flossen.3 Diese beträchtliche Summe an Ausgaben ist im Gegenzug mit einer Reihe an Erwartungen verbunden. Von den vielen Hoffnungen, die sich generell an die Ganztagsschule richten, liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit auf dem Potential der Ganztagsschule zur Sicherung von mehr Chancengerechtigkeit. So hofft man Äangesichts bestehender sozialer Ungleichheiten im Zugang zu unserem Bildungseinrichtungen, im Bildungserfolg und regionaler Disparitäten im Bildungsangebot […] mehr soziale[r] Gerechtigkeit […] [zu verwirkliche[n] - das heißt schulisch gesprochen: die bestmögliche Förderung des Einzelnen bei der Realisierung von mehr Chancengerechtigkeit für alle, um durch Bildung mehr Lebens-, Berufs- und Sozialchancen zu vermitteln.“4 Fraglich ist allerdings, inwieweit diese Zielorientierung im Ganztagsschulbereich in der Praxis tatsächlich realisierbar ist. Die vorliegende Arbeit möchte daher eine Antwort darauf finden, ob, wie und in welchem Rahmen von der Ganztagsschule tatsächlich eine kompensatorische Wirkung ausgeht. Dabei wird in folgenden Schritten vorgegangen: Zunächst wird der Begriff der Chancengerechtigkeit in den Blick genommen und versucht, eine tragfähige Definition zu ermitteln. Aufbauend auf diesem Verständnis von Chancengerechtigkeit wird im nächsten Schritt das deutsche Bildungssystem daraufhin untersucht, um schließlich eine Situationsbeschreibung zur aktuellen Lage im deutschen Schulsystem zu liefern. Schließlich rückt die Ganztagsschule in den Fokus des Interesses. Zuerst werden definitorische Ansätze diskutiert, darauffolgend ein kurzer Abriss der aktuellen Ganztagsschul-Entwicklung gegeben, sowie ein Bild der aktuellen Lage in Deutschland gezeichnet. Abschließend widmet sich die vorliegende Arbeit ihrer zentralen Fragestellung, zu deren Beantwortung sie auch empirische Ergebnisse aus der deutschen Forschung heranzieht: Kann die Ganztagsschule einen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit leisten?

2. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems

2.1 Zum Begriff ÄChancengerechtigkeit“

Der Begriff der Chancengerechtigkeit ist im bildungstheoretischen Diskurs omnipräsent. Im Zuge dessen könnte der Eindruck entstehen, dass eine allgemein akzeptierte Definition zu existieren scheint. Bei näherer Betrachtung der einschlägigen Literatur zeigt sich allerdings, dass es keine eindeutige Definition gibt. Für Chancengerechtigkeit in der Bildung existieren eine Vielzahl an Definitionsversuchen, die inhaltlich große Parallelen aufweisen. Im Folgenden werden daher zwei Definitionen exemplarisch aufgegriffen und miteinander verglichen, um schließlich zentrale Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Eine grundlegende Definition von Chancengerechtigkeit findet sich im Chancenspiegel. Allgemein stellt der Chancenspiegel eine jährlich veröffentlichte Publikation dar, welcher die wichtigsten Erkenntnisse über die Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme im allgemeinen Ländervergleich untersucht.5 Die Autoren des Chancenspiegels betrachten beispielsweise „Chancengerechtigkeit als die faire Chance zur freien Teilhabe an der Gesellschaft, die auch gewährleistet wird durch eine gerechte Institution Schule, in der Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren, sowie durch eine Förderung der Befähigung aller und durch eine wechselseitige Anerkennung der an Schule beteiligten Personen. Diesem gerechtigkeits- und schultheoretisch hergeleiteten Verständnis folgend, bestehen aus Sicht des Schülers immer dann faire Chancen, wenn er integriert wird, zwischen Schulformen wechseln, seine Kompetenzen entwickeln und seine Schulzeit mit einem bestmöglichen Abschluss beenden kann.“6 Eine ähnliche Definition von Chancengerechtigkeit geht auch aus dem OECD-Bericht No More Failures hervor: Demnach herrscht Chancengerechtigkeit in der Bildung, „wenn persönliche oder soziale Merkmale wie Geschlecht, ethnische Herkunft oder familiärer Hintergrund die Schüler nicht darin hindern, ihr Bildungspotenzial zu verwirklichen (Fairness), und wenn alle Schüler wenigstens ein Grundniveau an Qualifikationen erreichen (Inklusion). In Bildungssystemen, die diesen Anforderungen genügen, hat die überwiegende Mehrzahl an Schülern die Möglichkeit, unabhängig von ihren persönlichen oder sozioökonomischen Lebensumständen hochwertige Kompetenzen zu erwerben.“7

Die Gegenüberstellung der beiden Definitionen zeigt, dass die freie Teilhabe des Einzelnen ungeachtet des persönlichen Hintergrunds, sowie die volle Entfaltung des individuellen Leistungspotentials zentrale Kennzeichen von Chancengerechtigkeit darstellen. Die Gewichtung dieser beiden Determinanten fällt in beiden Definitionen relativ gleich aus. Chancengerechtigkeit bedeutet demnach nicht, dass jeder die gleichen Bildungsergebnisse erreichen wird. Vielmehr umfasst der Begriff der Chancengerechtigkeit sowohl die Überwindung von Nachteilen als auch die Entwicklung von Potenzialen.

2.2 Die Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssstems

Um die Chancengerechtigkeit und die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems evaluieren zu können, sind grundsätzlich Indikatoren notwendig. Einen Vorschlag hierfür liefern die Autoren des Chancenspiegels. Im Zentrum der Überlegungen stehen dabei die vier Gerechtigkeitsdimensionen des Schulsystems: die Integrationskraft, die Durchlässigkeit, die Förderung von Kompetenzen und die Zertifikatsvergabe. Diese ÄGerechtigkeitsdimensionen“ wurden basierend auf elementare Ansätze der Gerechtigkeitstheorie - die Verteilungsgerechtigkeit (Rawls 1979), der Befähigungsansatz (Sen 2010) und die Anerkennungstheorie (Honneth 2011) - vom Chancenspiegel festgelegt.8 Entgegen des Forschungsinteresses des Chancenspiegels liegt der Schwerpunkt des folgenden Kapitels nicht auf dem Ländervergleich, sondern auf der Chancengerechtigkeit des deutschen Bildungssystems im Allgemeinen. Somit sind durchaus Abweichungen und Ergänzungen zur aktuellen Publikation des Chancenspiegels 2014 inbegriffen.

2.2.1 Die Integrationskraft des deutschen Bildungssystems

Ausgehend davon, dass chancengerechte Schulsysteme die Teilhabe aller Schüler/-innen unabhängig von potenziellen Beeinträchtigungen in ihren Bildungs-, Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten - fördern, frägt diese Dimension nach, inwieweit es sich bei dem deutschen Schulsystem um ein integratives Schulsystem handelt.9 Im Sinne einer größeren Chancengerechtigkeit für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen lautet das vorrangige Ziel das landesweite Netz von integrativen Beschulungsformen für alle Förderschwerpunkte beginnend in der Grundschule bis hin zu den weiterführenden Schulen kontinuierlich auszubauen. Eine Schule, die diesem Leitprinzip Rechnung trägt, berücksichtigt die diversen (Lern)Voraussetzungen und Bedürfnisse von Schülern/-innen, schafft eine Gemeinschaft, die alle Kinder und Jugendliche willkommen heißt und versucht desintegrative Strukturen zu überwinden.10 In welchem Maß dieser Vorsatz aktuell bereits realisiert ist, soll im nachfolgenden Text geklärt werden.

Bundesweit gesehen lässt sich mit einer Integrationsquote von unter 31,4% (Stand 2013) nachweisen, dass die selektive Beschulung vor dem Hintergrund einer zunehmenden sonderpädagogischen Förderquote dominiert. Trotz dieser aktuell noch nicht wünschenswerten Lage kann seit dem Berichtsjahr 2000 ein starker Anstieg an Integrationsschülern/-innen innerhalb der allgemeinbildenden Schulen verzeichnet werden. Über den Beobachtungszeitraum von 2000 bis 2013 hinweg handelt es sich konkret um eine Zuwachsrate um 17,4 Prozentpunkte.11 Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Anstrengungen der Länder im Bereich der gemeinsamen Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischen Förderbedarf bereits ihre Wirkung zeigen. Als Fazit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass durchaus

Handlungsbedarf im Bereich Integration besteht. Nichtsdestotrotz zeigen die Analysen auch, dass eine positive Entwicklung in puncto Inklusion bereits jetzt deutlich erkennbar ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2015, S.41.

2.2.2 Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems

Allgemein informiert die Dimension der Durchlässigkeit darüber, inwiefern das deutsche Bildungssystem den einzelnen Schülern/-innen Zugangs- und Übergangsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Schulstufen und Schularten gewährt.12 Somit stellt sich die Frage der Durchlässigkeit konkret dort, wo Übergangsstellen im deutschen Bildungssystem vorhanden sind, beispielsweise beim Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe. Des Weiteren geht es auch um potenzielle Auf- und Abwärtsbewegungen und die damit verbundene Möglichkeit einmal eingeschlagene Bildungswege zu ändern.13 Um die Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems zu prüfen, wird im Folgenden der typische Bildungsverlauf bis zum Erreichen eines akademischen Grades (von der Grundschule über das Gymnasium bis hin zu der Universität) aufgezeigt. Der Weg dorthin ist mit zahlreichen Hindernissen verbunden, die das Bundesministerium für Bildung und Forschung 2004 in einem übersichtlichen Schaubild zusammengefasst hat:14

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2007, S.66.

In Anlehnung an dieses Schaubild werden im nachfolgenden Fließtext schrittweise die verschiedenen Barrieren aufgegriffen und näher ausgeführt, sowie durch aktuelle Zahlen untermauert. Besonders interessiert dabei, inwiefern Ägerechte“ Selektionsmechanismen in Deutschland praktiziert werden. Weiterhin wird noch darauf eingegangen, welche Chancen das deutsche Bildungssystem zusätzlich bietet, um auch auf Umwegen einen höheren Schulabschluss zu erlangen. Zur weiteren Verdichtung und Vertiefung der Informationen wird abschließend der sogenannte Bildungstrichter aufgegriffen, welcher die genannten Daten noch einmal veranschaulichen soll.

Die höchste und bedeutsamste Hürde im deutschen Bildungssystem besteht nach der vierten Klasse mit dem Übergang auf eine Mittel-, Real- oder Gesamtschule, auf ein Gymnasium oder eine Förderschule. Hier werden die entscheidenden Weichen für die weitere Entwicklung der Bildungsbiografie gestellt.15 Diesbezüglich kann angemerkt werden, dass seit den 1990er Jahren die Schülerzahlen am Gymnasium deutlich gestiegen sind: Mehr als ein Drittel (37%) der Schülerschaft besucht nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamts im Jahre 2012 diesen Schultyp. Dem gegenüber zeigen die Besucherzahlen der Mittelschule, dass diese in den letzten sechzig Jahren kontinuierlich von 79% (Stand 1952) auf 15% im Jahr 2012 abgenommen haben. Diese Entwicklung ist auf die sogenannte Bildungsexpansion zurückführbar, welches die enorme Ausdehnung des Bildungswesens, sowie die Inanspruchnahme der Bildungsangebote seitens der Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten beschreibt.16

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S.54.

Bei näherer Betrachtung der Schülerpopulation fällt auf, dass Kinder und Jugendliche in starker

Abhängigkeit von ihrem sozioökonomischen Hintergrund auf die unterschiedlichen Schultypen verteilt sind. Die NEPS-Studie (National Educational Panel Study) legt diesbezüglich offen, dass Schüler/-innen mit hohem im Vergleich zu jenen mit niedrigem soziökonomischen Status seltener Hauptschulen (7% vs. 34%) besuchen, jedoch dreimal so häufig ein Gymnasium (64% vs. 21%). Dementsprechend sind Schüler/-innen aus der oberen Dienstklasse im Gymnasium übermäßig vertreten, während Gleiches für Kinder aus einer niedrigeren sozialen Schicht in der Mittelschule gilt. Neben dem sozioökonomischen Status spielt ebenso ein potenzieller Migrationshintergrund eine entscheidende Rolle bei der Verteilung auf die unterschiedlichen Schultypen. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund gehen selbst unter Beachtung des jeweiligen sozioökonomischen Status weiterhin seltener in ein Gymnasium und besuchen häufiger Hauptschulen als diejenigen ohne Migrationshintergrund.17

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Solga / Dombrowski 2009, S.17.

Diese Beobachtungen lassen sich allerdings nicht ausschließlich durch die schulischen Leistungen der Kinder erklären: Auch unter der Berücksichtigung der kognitiven Fähigkeiten hat ein Kind aus der oberen und der unteren Dienstklasse gegenüber einem Kind aus einer Arbeiterfamilie eine fünf Mal höhere Chance eine Gymnasiumempfehlung zu bekommen.18 Welche genaueren Prozesse sich hinter diesen schichtspezifischen Chancenungleichheiten verbergen, wird allerdings erst im nächsten Kapitel (vgl. 3.) näher ausgeführt.19 Für den Fokus dieses Abschnitts bleibt an dieser Stelle zu bilanzieren: Die Selektion am Ende der Grundschulzeit wird wesentlich durch die soziale Herkunft bestimmt, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass keine leistungsgerechte Verteilung im deutschen Bildungssystem erfolgt.20 Grundsätzlich gilt, dass einmal getroffene Entscheidungen für eine Schulform im Verlauf der Sekundarstufe revidiert werden können, jedoch geschieht dies immer noch vergleichsweise selten: Lediglich 2,4% der Schülerschaft realisiert diesen Schritt. Dies belegt zwar, dass der Wechsel zwischen den Schulformen in den letzten Jahren etwas zugenommen hat, nichtsdestotrotz handelt es sich nach wie vor um eine relativ kleine Gruppe an Schülern/-innen. Der wichtigste Punkt bei der Analyse des Verbleibs und Wechsels innerhalb der Sekundarstufe ist, wie es diesbezüglich um das Verhältnis zwischen Auf- und Abwärtswechsel steht. Deutlich geht dabei aus aktuellen Studien des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hervor, dass Abstiege in eine niedrige Schulform dominieren: Auf jeden Aufwärtswechsel kommen beinahe fünf Abwärtswechsel! Dementsprechend handelt es sich eher um eine Korrektur nach unten.21 Angesichts dessen, dass auch der Wechsel zwischen den Schulformen häufig sozial selektiv ist, kann davon ausgegangen werden, dass es sich weniger um eine Kompensation als vielmehr eine Verstärkung sozialer Bildungsungleichheiten handelt. Folglich bleibt selbst dessen Beitrag zum Ausgleich dieser hochgradig verfestigten Form soziokultureller Bildungsvererbung relativ begrenzt.22 Der Übergang vom Sekundarbereich I in den Sekundarbereich II stellt die zweite Barriere dar. Bei guten Zensuren und erfolgreichem Abschluss der 10. Klasse kann auch von der Real- oder der Hauptschule in die gymnasiale Oberstufe (11. bis 13. Klasse) aufgestiegen werden. Die dritte Schwelle bildet der Erwerb einer Studienberechtigung, sprich die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife. Mit dem Bestehen der Reifeprüfung ist dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben, ein Studium an der Fachhochschule bzw. Universität aufzunehmen. Diese Schwelle erreicht ein inzwischen nicht unerheblicher Teil auch auf dem Weg über Fachoberschulen oder andere Einrichtungen der beruflichen Bildung. Ein kleiner Teil gelangt zu dieser Schwelle über die klassischen Formen des so genannten Zweiten Bildungsweges, das Abendgymnasium oder ein Kolleg. Ausgehend davon, dass viele Studiengänge zulassungsbeschränkt sind, bildet somit die Erlangung der Studienberechtigung die vierte Barriere. Ein kleiner Teil der Studierenden (weniger als 1%) kommt ohne schulische Studienberechtigung über besondere Zulassungswege für beruflich qualifizierte Bewerber/innen in die Hochschule. Den Gang zur Fachhochschule bzw. Universität streben mittlerweile 15% (in Bezug auf die Fachhochschule) bzw. 23% (in Bezug auf die Universität) der jungen Erwachsenen an. In Vergleich zu den Hochschulzahlen von 1960 - 6% der Studienberechtigten entscheiden sich für eine Universität bzw. 2% für eine Fachhochschule - ist diesbezüglich ein deutlicher Zuwachs der Besucherzahlen zu vermerken.23 Diese Ausdehnung des tertiären Bildungsbereichs ist in Zusammenhang mit der bereits angesprochenen Bildungsexplosion (vgl. oben) zu verstehen. Aus diesem Grund darf keinesfalls der Fehlschluss gezogen werden, dass alle Schülergruppen gleichermaßen vom Ausbau der Hochschulen profitieren. Die Auswertung der Datenerhebungen des Deutschen Studentenwerks durch die Bundeszentrale für politische Bildung zeichnet diesbezüglich ein sehr eindeutiges Bild ab: Der Ausbau der Hochschulen kommt insbesondere denjenigen Gruppen zu Gute, die bereits im Jahr 1969 vergleichsweise hohe Studienchancen hatten. Dies betrifft vor allem Kinder von Selbstständigen (Zuwachs unter den Studienanfängern bis 2000 um 30 Prozentpunkte), von Beamten (26 Prozentpunkte) und von Angestellten (11 Prozentpunkte). Im Vergleich dazu fällt der Zuwachs an Arbeiterkindern mit 4 Prozentpunkten sehr bescheiden aus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S.59.

Schlussfolgernd handelt es sich bei den eigentlichen Gewinnern der Hochschulexpansion um dieselben Schichten, die auch von der Ausdehnung der Gymnasien in besonderem Maße profitierten. Somit lässt sich auch der tertiäre Bereich unseres Bildungssystems als hochgradig selektiv beschreiben.24 Angesichts dessen, dass keineswegs alle Studierenden ihr Erststudium erfolgreich beenden, liegt die letzte Barriere im Erwerb eines Hochschulabschlusses. Eine zusammenfassende Darstellung zu den bereits genannten Daten bzw. Fakten liefert der Bildungstrichter. Dieser stellt einen Vergleich der Bildungsbeteiligung von Kindern aus Akademiker- sowie Nicht-Akademiker-Familien dar. Aus der Abbildung (vgl. unten) geht deutlich hervor, dass Kinder aus einem akademischen Elternhaus sowohl größere Chancen haben, die gymnasiale Oberstufe einer weiterführenden Schule zu besuchen, als auch ein Hochschulstudium aufzunehmen. 2009 haben 77% der Kinder einer akademischen Herkunftsfamilie ein Studium begonnen. Dieser Anteil ist mehr als dreimal so hoch wie der Kinder von Nicht-Akademikern, der bei 23% liegt.25

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2015, S.58.

Als Fazit dieses Abschnitts kann festgehalten werden, dass das deutsche Schulsystem generell zu wenig durchlässig ist und nicht genug Bildungschancen für alle liefert.

[...]


1 Vgl. Barz, S.2 URL: https://www.phil-fak.uni- duesseldorf.de/fileadmin/Redaktion/Institute/Sozialwissenschaften/BF/Lehre/SoSe2011/VL_International_vergleich ende_Bildungsforschung/Barz_PISA_Schock_Manuskript_Dresden.pdf (02.09.2015).

2 Vgl. Nieke 2005, S.15.

3 Vgl. Zickgraf / Zickgraf 2009, S.99.

4 Aurin 1982, S.16.

5 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014b, S.11ff.

6 Vgl. Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund/Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014, S.7.

7 Vgl. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2012, S.9.

8 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014b, S.11ff.

9 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014b, S.9.

10 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014a, S.17ff.

11 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014, S.41.

12 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014b, S.9.

13 Vgl. Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich- Schiller- Universität Jena 2014a, S.17ff.

14 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2007, S.66.

15 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2007, S.66.

16 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S.54.

17 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014b, S.76-77.

18 Vgl. Wernstedt / John- Ohnesorg 2008, S.5.

19 Vgl. Solga / Dombrowski 2008, S.15.

20 Vgl. Prüß / Kortas / Schöpa 2009, S.21.

21 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2014b, S.74-75.

22 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2007, S.65-67.

23 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S.55.

24 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2014, S.59-60.

25 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2015, S.59.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783668058262
ISBN (Paperback)
9783668058279
Dateigröße
1.3 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Passau
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Note
1,0
Schlagworte
deutsches bildungssystem chancengleichheit ganztagsschule bildungsungleichheit ursachen verbesserung förderung nachteilsausgleich

Autor

  • Laura Smith (Autor:in)

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