Töten oder sterben lassen? Moralischen Äquivalenz in Peter Singers "Praktische Ethik"
Zusammenfassung
Weitere Punkte in Singers Werk, denen sich diese Arbeit widmet, sind die Verpflichtung zu helfen, sowie Argumente für und Einwände gegen diese Verpflichtung. Die Ethik des Aussortierens (Triage) kommt ebenso zur Sprache wie Singers Betrachtungen zu den „drinnen“ und den „draußen“ sowie sein ex-gratia-Ansatz in der Flüchtlingsfrage.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis:
- Einleitung/Arm und Reich (Kapitel 8)
- Das moralische Äquivalent zu Mord?
- Die Verpflichtung zu helfen
- Einwände gegen die „Verpflichtung zu helfen“
- Bevölkerung und die Ethik des Aussortierens (Triage)
- Die drinnen und die draußen (Kapitel 9)
- Der „ex-gratia“ Ansatz
- Fazit
Einleitung Arm und Reich (Kapitel 8)
Singers Grundlagen für seine Forderungen
Eine der wichtigsten Grundlagen, die Singer in seinem Kapitel über Arm und Reich voraussetzt, ist von ihm bereits einige Kapitel zuvor erörtert worden. Dort ging es um die Frage, ob es einen Unterschied zwischen Töten und sterben lassen gibt. Singers Antwort darauf lautete, es gebe keinen solchen Unterschied in Bezug auf die moralischen Konsequenzen einer Handlung. Diese Tatsache nach Singer hat Folgen, die „ weit ü ber die Euthanasie hinausgehen.“1 Bevor er eingehender auf die Bedeutung dieser Feststellung zu sprechen kommt, zählt Singer einige Fakten über die Armut bzw. den Reichtum unserer Welt auf. Dies ist notwendig, um seine nachfolgenden Thesen zu untermauern und plausibel erscheinen zu lassen. Dazu zählen sowohl die Definition von „absoluter Armut“ nach Robert McNamara, ehemals Präsident der Weltbank, als auch eine zahlenmäßige Gegenüberstellung der Lebensverhältnisse armer Menschen verglichen mit jenen reicher Menschen.
Zunächst einmal soll hier die Definition von absoluter Armut nach McNamara angeführt werden: (absolute Armut ist gekennzeichnet durch) „… Lebensbedingungen, die derart durch Unterern ä hrung, Analphabetentum, Krankheit, verwahrloste Umgebung, Kindersterblichkeit und niedrige Lebenserwartung gekennzeichnet sind, dass sie sich jenseits jeder vern ü nftigen Definition von menschlicher W ü rde befinden.“2
Singer geht hier leider nicht auf den von McNamara verwendeten Begriff der Menschenwürde ein. Es wäre sinnvoll, zu erörtern, weshalb Menschen nach einem würdevollen Leben streben und was „Würde“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Ohne diese Klärung bleibt die Frage, warum wir einen Standard der Gleichheit anstreben sollten kontrovers bzw. in diesem Punkt unscharf, sofern man sich auf die Menschenwürde als Grundlage der Rechtfertigung bezieht. Zwar wird dieser Begriff auch in dem ersten Paragraphen des deutschen Grundgesetzes verwendet, doch auch hier vermisst man eine Definition der Menschenwürde.
So muss man Singer jedoch auch eher dahingehend interpretieren, dass er Würde als all jene Bedingungen versteht, die er später in seinem Kapitel im Zusammenhang mit den anzustrebenden Lebensverhältnissen von armen Menschen aufzählt. Auf den ersten Blick scheint es einleuchtend, dem Begriff der Würde zu folgen, doch er bleibt schwammig und streitbar und ist insofern nicht unproblematisch in moralischen Zusammenhängen, wie sie von Singer dargestellt werden.
Die zweite, wichtige Grundlage stellen die bereits erwähnten Fakten über Arm und Reich dar.
Verglichen mit Menschen in reichen Ländern leiden Bewohner armer Länder unter folgenden Benachteiligungen:
1. einer acht mal höheren Kindersterblichkeit
2. einer dreimal geringeren Lebenserwartung
3. einer 60% niedrigeren Quote lese/schreibfähiger Erwachsener
4. einem Grad der Mangelernährung, der für 50% der Bewohner inakzeptabel ist
5. einem Proteinmangel für Millionen von Säuglingen, der zu verminderten Hirnleistungen führt3
Wie an dieser Stelle bereits auffällt, orientiert sich Singer bei seinen Forderungen an einem Gleichheitskonzept. Das bedeutet, Gerechtigkeit in einem moralischen Sinn. Die Menschen der armen Welt haben weniger an Dingen, die wir in den reichen Ländern besitzen und selbstverständlich nutzen. Um nun zu einer Forderung zu gelangen, wie sie Singer konzipiert, nämlich einem beständigen Fluss von Mitteln aus der reichen in die arme Welt und zwar solange, bis die Lebensverhältnisse ausgeglichen sind, bedarf es einer Rechtfertigung des Gleichheitsprinzips.
Warum sollte man jemandem in der armen Welt etwas von dem, das man besitzt, abgeben? Hat eine Person in Afrika ein Recht auf Hilfe von uns? Wenn ja, Warum? Diesen Fragen wird Singer nachgehen und sich dabei immer wieder auf Gleichheit beziehen. Problematisch ist hierbei jedoch erneut, dass er nicht explizit erläutert und begründet, weshalb Gleichheit moralisch einforderbar ist. Die Frage könnte etwa lauten, ob Gleichheit per se moralische relevant sein kann, sofern man sie als Voraussetzung für Gerechtigkeit betrachtet. Und ist Ungerechtigkeit unmoralisch? Auf diese Fragen wird Singer später noch Antworten geben. Als Utilitarist muss Singer zwar dem Prinzip der Glücksmaximierung folgen und daher liegt es für ihn nahe, Leid zu vermindern, doch in der Totalansicht könnte man auch fragen, ob sich durch Umverteilung der weltweiten Ressourcen überhaupt ein Ausgleich erzielen ließe. Es scheint allerdings einleuchtend, dass der Reichtum und die damit verbundenen Annehmlichkeiten unserer westlichen Welt niemals das Leiden der armen Menschen rechtfertigen bzw. aufwiegen. Insofern würde Singer bezüglich einer Vermehrung des Glücks vermutlich Recht behalten, indem er für eine Umverteilung der Ressourcen zugunsten der Armen plädiert.
Doch damit bleibt, auch wenn es unmenschlich oder unmoralisch erscheinen mag, weiterhin die Frage, weshalb ein Mensch in einem reichen Land etwas von seinem Glück „abgeben“ sollte. Die Tatsache, dass er dort geboren wurde, verpflichtet ihn nicht, anderen zu helfen, die weniger Glück hatten. Die Tatsache, dass es unmoralisch sein könnte, nicht zu helfen, vielleicht schon. Auf diesen Umstand möchte Singer genauer eingehen, indem er sein Konzept darstellt, wonach jeder von uns die Pflicht hat, zu helfen.
Es ist vermutlich weitestgehend unbestritten, dass die Armut der dritten Welt mit dem Reichtum der ersten Welt korreliert. Durch unfaire Handelsabkommen werden die bereits armen Länder geschröpft während die reichen Länder immer noch reicher werden. Insofern hat jeder von uns die Pflicht, etwas von dem zurückzugeben, was er mehr oder weniger wissentlich Anderen „genommen“ hat, indem er toleriert, dass ungerechter Handel betrieben wird. An dieser Stelle ist wichtig zu bemerken, dass Singer den Aspekt des „informiert seins“ nicht erwähnt. Dieser spielt für die moralische Bewertung der Handlungen von Personen aber eine entscheidende Rolle. Angenommen, jemand, der in der westlichen Welt lebt, wüsste nichts über die Armut anderer Menschen und seine Verantwortung in diesem Zusammenhang, so könnte man ihm schwerlich vorwerfen, moralisch verwerflich zu handeln, wenn er sich eine Stereo-Anlage kauft anstatt das dafür aufgewendete Geld zu spenden.
Singer scheint entsprechende Information schlicht voraus zusetzen, wenn er über unsere Verantwortung und Pflichten spricht.
Doch er geht bezüglich unserer Verantwortung noch wesentlich weiter, als sich nur auf ein Gleichheitsprinzip zu berufen. Er stellt die Frage, ob unsere unterlassene Hilfeleistung das Äquivalent zu Mord sei. Man erinnere sich, dass Singer eingangs dieses Kapitels festgestellt hat, dass es keinen Unterschied zwischen töten und sterben lassen gebe. Akzeptiert man dies, so müsste man konsequenterweise fragen, ob die unterlassene Hilfe für Menschen armer Länder gleichbedeutend mit Mord ist. Diesem Umstand widmet sich Singer sehr eingehend, weswegen er hier auch genauer untersucht werden soll.
Das moralische Äquivalent zu Mord?
Um diese Annahme bzw. frage zu erörtern, orientiert sich Singer an fünf Einwänden gegen dieses Postulat, welche Unterschiede zwischen dem Unterlassen von Hilfe auf der einen Seite und Mord auf der anderen Seite nennen.
Der erste lautet, dass unsere Motivation bei einem Mord von jener verschieden sei, die bei der unterlassenen Hilfe handlungsverursachend ist. Wenn wir eine Person absichtlich töten wollen, dann geschieht dies bei einem Mord aus niederen Beweggründen wie etwa Bosheit, Sadismus oder ähnlichem. Ein Mörder hat den Tod seines Opfers zum Ziel seiner Handlung. Hingegen ist das Ziel eines Konsumenten das zu erwerbende Produkt und eventuell damit verbundene Emotionen, beispielsweise ein Auto oder ein Geschenk, nicht aber der Tod eines Menschen. Singer meint, ein solcher Fall zeuge „ schlimmstenfalls von Selbstsucht und Gleichg ü ltigkeit gegen ü ber dem Leiden anderer, wenn man sein Geld f ü r Luxusartikel ausgibt anstatt zu karitativen Zwecken.“4
Der zweite Einwand ist pragmatischer Natur. Man könnte annehmen, dass es einfacher ist, nach einer Regel zu leben, die das Töten anderer Menschen verbietet, als sich nach einer Regel zu verhalten, die es gebietet jedem zu helfen, der hilfebedürftig ist. Es erscheint plausibel, dass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, alle Menschenleben zu retten, die wir retten können. Allerdings meint Singer, dass wir den Tod anderer in Kauf nehmen, wenn wir unser luxuriöses Leben leben, da dies bedeutet, das entsprechende Geld nicht Hilfebedürftigen zukommen zu lassen. An dieser stelle spricht Singer vom „sterben lassen Anderer“ und sagt deutlich, dass man nicht jemanden „töten“ würde. Darum sei es eben viel leichter, die Pflicht des „nicht-tötens“ zu erfüllen, als einer allumfassende Hilfspflicht nachzukommen.5
Um allen zu helfen, denen wir helfen könnten, müssten wir von unserem Einkommen soviel spenden, dass nur der Teil übrig bliebe, den wir brauchen um eben dieses Leben erhalten zu können, das uns jene Spende ermöglicht.
Hier taucht ein Problem auf, das den Charakter einer Spirale hat und welches von Singer nicht thematisiert wird.
Wenn wir unserer Hilfspflicht gemäß Singer nachkommen möchten, so müssen wir alles tun, das in unserer Macht steht, um anderen zu helfen, denen wir helfen könnten. Also beispielsweise unseren Lebensstandard soweit reduzieren, dass wir an einen Punkt gelangen, an dem wir etwas moralisch gleichwertiges opfern müssten, das dem Leiden der Armen entspricht. Wie von Singer bereits erwähnt, wäre es jedoch kontraproduktiv, dieser Forderung rigoros nachzukommen, da man möglicherweise ohne Auto oder vergleichbare Utensilien, die in unserer Welt Voraussetzung für den Erhalt eines gewissen Arbeitslohnes sind, nicht die entsprechenden finanziellen Mittel beschaffen könnte, um anderen zu helfen. Insofern hat Singer an dieser Stelle sein Kernargument der vergleichbaren Lebensweise bereist eingeschränkt und bereitet damit dem besagten Spiralproblem den Weg. Denn warum sollten wir dann nicht gleichermaßen verpflichtet sein, uns um immer mehr Geld zu bemühen, das wir spenden könnten? Wir müssten uns dazu eine besser bezahlte Arbeit suchen und unser Leben danach orientieren, möglichst hohen Lohn zu beziehen, um den Armen mehr zukommen zu lassen. Doch dies würde zur Folge haben, dass die Mechanik der Ausbeutung der Armen Nationen durch die reichen Länder nicht gestoppt, sondern vermutlich verstärkt würde, bestenfalls aber auf konstantem Niveau verharrte da man auf diese Weise die wirtschaftliche Struktur des Kapitalismus nutzte und ausreizte. Hinzu kommt noch, dass dies ein nicht mehr lebenswertes Leben für den Spender darstellen könnte, doch diesen Einwand wird Singer später noch diskutieren.
Es wäre also letztlich kontraproduktiv, wenn man auf diese Weise argumentiert, dass man alles tun müsse, was in der eigenen Macht steht, sofern sich dies auf finanzielle bzw. materielle Unterstützung der Armen Nationen bezieht. Singer steht vor dem Problem, dass er zwar eine logisch nachvollziehbare Forderung stellt, indem er zur Hilfe in einem radikalen Maß aufruft, jedoch dabei in eine Art Slippery-Slope-Problematik geraten könnte, die genau durch diesen „Radikalismus“ genährt wird.
Singer müsste also einen Weg finden, wie man alles tun kann, um Anderen zu helfen, ohne dadurch die Situation der Weltarmut mutmaßlich zu schüren. Sofern er eigentlich meint, man müsse sein eigenes Leben nicht danach ausrichten, das eigene Einkommen fortwährend zu maximieren, da dies über die Forderungen hinausginge, bestünde das beschriebene Problem nicht. Doch er sagt deutlich, dass „... wir ihn (unseren Lebensstandard) auf das Minimum reduzieren (müssten), welches mit dem Einkommen vereinbar ist, das uns nach der Befriedigung unserer Bed ü rfnisse ein Maximum f ü r karitative Spenden ü brig lie ß e. “ 6
Später wird Singer sich dieser Problematik jedoch noch einmal zuwenden und dabei die angesprochenen Einschränkungen vornehmen.
Als dritten Unterschied zwischen unterlassener Hilfeleistung und Mord nennt Singer die Gewissheit über die Folgen des eigenen Handelns bei Mord. Er geht davon aus, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Person tötet, wenn man ihr eine Pistole an die Schläfe hält und abdrückt. Entscheidend ist dabei, dass man verantwortlich für das Opfer ist, da ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen der eigenen Handlung und dem Tod des Opfers besteht. Diese Gewissheit habe man bei dem Hungertod eines Afrikanischen Kindes nicht nicht der selben Form. Das gespendete Geld kann eben auch anderweitig verwendet oder gar missbraucht werden und die Bedürftigen niemals erreichen.
Ist nun diese Tatsache ein Grund, der als Einwand gegenüber der Hilfspflicht stichhaltig wäre? Singer verneint dies, indem er ein Gegenbeispiel skizziert.
In diesem Beispiel fährt eine Frau mit überhöhter Geschwindigkeit durch eine Stadt. Die Gefahr, dass sie einen Menschen dabei lebensgefährlich verletzt ist groß, doch dieses Risiko geht die Fahrerin ein, um ihrem Bedürfnis des schnellen Fahrens nachkommen zu können. Wenn sie nun einen Unfall verursacht, bei dem ein anderer Mensch getötet wird, so wird man sie nicht des Mordes bezichtigen, doch was sie getan hat war „... ein sehr gro ß es Unrecht “ wofür sie auch bestraft werden sollte.7
Singer möchte an diesem Beispiel verdeutlichen, dass es zwar einerseits einen Unterschied zwischen der unterlassenen Spende und vorsätzlichem Töten gibt, doch andererseits dieser Unterschied nicht ausreiche, um die Handlung als akzeptabel bezeichnen zu können. Die Aufforderung zu Helfen besteht also weiterhin, weil allein die Tatsache, dass es ein kleineres Unrecht ist, nicht zu spenden, als zu morden, nicht begründet, dass man nicht spenden sollte.
Der vierte von Singer aufgezählte Unterschied besteht in der Möglichkeit der identifizierbaren Opfer bei einem Mord. Wie schon im vorhergehenden Abschnitt erklärt, ist es beispielsweise nicht möglich, nach dem Kauf einer Hi-Fi-Anlage die TV-Nachrichten zu schauen und dabei bezüglich eines Berichts über menschliche Opfer von Hunger auf einzelne Individuen zu zeigen, die gerettet worden wären, wenn man das Geld gespendet hätte anstatt es in eine Stereo-Anlage zu investieren. Nichtsdestotrotz ist es laut Singer unbestreitbar, dass man irgendjemandem hätte helfen können. Doch es gibt eben keine identifizierbaren Opfer der eigenen Kauflust und das steht konträr zu einem Mordfall.
Wäre das ein Grund, nicht zu spenden? Warum sollte man nur dann spenden, wenn man genau weiß, wem das Geld hilft? Reicht es nicht, zu wissen, dass man irgendjemandem, der hilfebedürftig ist geholfen hat?
Singer geht verständlicherweise davon aus, dass man auch dann spenden sollte, wenn ein identifizierbares Individuum fehlt. Diese Meinung illustriert er an einem Weiteren Beispiel. In diesem verkauft ein Vertreter Konservendosen. Diesen wurde ohne dessen Mitwirkung ein Gift beigemischt, welches bei den Konsumenten das Risiko an Krebs zu erkranken verdoppelt. Nachdem er davon erfahren hat, entscheidet er sich trotzdem, die Konserven weiterhin zu verkaufen. Nun erkranken nach einiger zeit Konsumenten an Krebs. Doch sie könnten diese Krankheit ebenso aus anderen Ursachen bekommen können. Ein direkter Zusammenhang ist nicht nachweisbar. Es fehlen also die identifizierbaren Opfer. Doch macht dies jene Handlungsentscheidung moralisch weniger verwerflich? Offenbar spielt es keine Rolle in Bezug auf moralische Beurteilung der Handlung. Wir finden es in gleichem Maße verwerflich weil unverantwortlich.
Der Begriff der Verantwortlichkeit birgt laut Singer gewisse Schwierigkeiten, da er im Regelfall wohl eher auf Handlungen als auf Unterlassungen angewandt wird. Er ist von zentraler Bedeutung in Singers Theorie der Hilfspflicht die sich auf Verantwortung stützt und bildet somit eine Schlüsselrolle, wenn man jenen Terminus auf den Unterschied zwischen Handlung und Unterlassung bezieht. Aus der Sicht eines Konsequentialisten entsteht Verantwortung aus den Folgen unseres Handelns. Wenn wir uns für die Musikanlage entscheiden anstatt das Geld zu spenden, so sind wir dafür verantwortlich, dass die investierten finanziellen Mittel nicht einen vermeidbaren Hungertod eines armen Menschen verhindert haben. Der Tod eines Person wird von Singer in diesem Fall also als Konsequenz unseres Handelns bewertet.
Wie könnten nun Nicht-Konsequentialisten den Begriff der Verantwortung formulieren? Singer orientiert sich bei dem Versuch einer Antwort auf diese Frage an Vorschlägen von John Locke und Robert Nozick, welche eine Rechtstheorie vertreten, in welcher der Verantwortungsbegriff folgendermaßen verankert sein könnte: Jeder Mensch besitzt ein Recht auf Leben, wonach das Töten eines anderen Menschen Unrecht ist. Daraus ergibt sich aber angeblich nicht die Pflicht zu helfen. Wir dürften uns gegen Angriffe verteidigen, aber seien nicht verpflichtet, anderen Personen zu helfen.
Singer wendet gegen diese Auffassung von Verantwortung ein, dass der gedankliche Ansatz schon allein deshalb scheitern müsse, weil er von einer menschlichen Existenz ausgehe, die nicht der heutigen Wirklichkeit entspreche. Wir seien keine unabhängigen Individuen, sondern unsere Handlungen hätten weitreichende Folgen in einer vernetzen und komplexen Gesellschaft. Des weiteren sei es fraglich, ob man ein Recht auf Leben ernst nehmen kann, während man zusieht, wie ein anderer Mensch, dem man helfen könnte, sein Leben verliert.
Damit ist laut Singer die Rechtstheorie als Begründung für eine ethische Position, in der man sich keiner Hilfspflicht anschließt, gescheitert. Man könne sich seiner moralischen Verantwortung nicht einfach durch Berufung auf gewisse Rechte entziehen, selbst wenn diese nachvollziehbar seien.
Der fünfte und letzte Einwand gegen Singers Forderungen wird durch die Ansicht formuliert, dass der Hungertod von Menschen, beispielsweise in Afrika, nicht die Folge meines Handelns sei und ich somit auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden könne. Die Hungernden würden hungern, selbst wenn ich niemals existiert hätte. Dieser Einwand ist konsequentialistischer Natur, jedoch behandelt er den Begriff der Verantwortung in einem etwas anderen Zusammenhang, als im vorigen Abschnitt dargestellt, in dem es um die Rechtstheorie ging.
[...]
1 S. 278
2 S. 279 2
3 S. 279 3
4 S. 284
5 S. 285 5
6 Siehe Fußnote Singers S. 285 6
7 S. 288 7