Im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen wahrem und maskiertem Selbst bewegen sich Individuen ihr ganzes Leben lang. Was sie vor anderen tun, ist in Wahrheit nur dargestellt, äußeren Zwängen unterworfen und verbirgt ihr wirkliches Gesicht. Dieser Vorstellung widmete der kanadische Soziologe Erving Goffman sein Werk „Wir alle spielen Theater“, in dem er sich mit der Art und Weise, wie Menschen in einer Gesellschaft aufeinandertreffen, beschäftigte – sein Ergebnis: Die Selbstdarstellung der Menschen im Alltag erfolgt nach bestimmten Regeln; sie ist ein notwendiges Element menschlichen Lebens (vgl. Goffman 2011, zit. n. Dahrendorf: VIII).
Seit Jahren bietet das Internet, inzwischen zum sozialen Kommunikationsmedium (Social Web) weiterentwickelt, Möglichkeiten zur Interaktion. Im 21. Jahrhundert spielt deshalb neben klassischen Begegnungsorten wie etwa Cafés auch das Internet eine Rolle bei der Kommunikation. Facebook und Twitter sind prominente Beispiele für Online-Plattformen, durch die sich das soziale Umfeld vieler Menschen gewandelt hat. Manche zweifeln jedoch an der Stärke und Qualität dieser Beziehungen: Sie argumentieren, dass nur Begegnungen in der Realität imstande seien, Beziehungen Nährboden zu geben und die Technik dies behindere (vgl. Fröding/Peterson 2012: 204f.). Doch das Internet hat in Bezug auf soziale Beziehungen auch Vorteile: Größere Entfernungen können überwunden werden und so Kontakte bestehen, die ansonsten nicht möglich wären. Auch die Zeitersparnis ist vorteilhaft: Kontakt zu mehreren Menschen ist realisierbar, da Raum und Zeit keine Grenze darstellen (vgl. Bahl 1997: 77).
Die Anforderungen an Individuen sind gestiegen, da ein schnelles Anpassungsvermögen und Selbständigkeit abverlangt werden, um den technischen Gegebenheiten und dem vermeintlichen Zugewinn an Freiheit gerecht zu werden (vgl. Silbereisen/Pinquart 2008: 12). Die Einwirkungen auf das Sozialleben abseits der Virtualität sind bemerkenswert, da „alle sozialen Prozesse hineingezogen werden in die Strudel allgegenwärtiger kommunikationstechnischer Erreichbarkeit“ (Malsch 2005: 7).
Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Arbeit mithilfe des Analyserahmens von Goffman den Auswirkungen der kontemporären Kommunikationstechnologien auf das Sozialleben in einer Gesellschaft und der Darstellung des Selbst in internetvermittelter Interaktion mit folgender Frage: Begründet das Social Web ein
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theorie der Selbstdarstellung
2.1 Interaktion
2.2 Interaktionsumfeld
2.3 Vorder- und Hinterbühne
3 Soziale Internetkultur
3.1 Soziale Kommunikation im Internet
3.2 Identitätsrollen im Social Web
3.3 Virtuelle Theaterbühne
4 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien“ (Gruen 1997: 277). Im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen wahrem und maskiertem Selbst bewegen sich Individuen ihr ganzes Leben lang. Was sie vor anderen tun, ist in Wahrheit nur dargestellt, äußeren Zwängen unterworfen und verbirgt ihr wirkliches Gesicht. Dieser Vorstellung widmete der kanadische Soziologe Erving Goffman sein Werk Wir alle spielen Theater, in dem er sich mit der Art und Weise, wie Menschen in einer Gesellschaft aufeinandertreffen, beschäftigte – sein Ergebnis: Die Selbstdarstellung der Menschen im Alltag erfolgt nach bestimmten Regeln; sie ist ein notwendiges Element menschlichen Lebens (vgl. Goffman 2011, zit. n. Dahrendorf: VIII).
Seit Jahren bietet das Internet, inzwischen zum sozialen Kommunikationsmedium (Social Web) weiterentwickelt, Möglichkeiten zur Interaktion. Im 21. Jahrhundert spielt deshalb neben klassischen Begegnungsorten wie etwa Cafés auch das Internet eine Rolle bei der Kommunikation. Facebook und Twitter sind prominente Beispiele für Online-Plattformen, durch die sich das soziale Umfeld vieler Menschen gewandelt hat. Manche zweifeln jedoch an der Stärke und Qualität dieser Beziehungen: Sie argumentieren, dass nur Begegnungen in der Realität imstande seien, Beziehungen Nährboden zu geben und die Technik dies behindere (vgl. Fröding/Peterson 2012: 204f.). Doch das Internet hat in Bezug auf soziale Beziehungen auch Vorteile: Größere Entfernungen können überwunden werden und so Kontakte bestehen, die ansonsten nicht möglich wären. Auch die Zeitersparnis ist vorteilhaft: Kontakt zu mehreren Menschen ist realisierbar, da Raum und Zeit keine Grenze darstellen (vgl. Bahl 1997: 77). Die Anforderungen an Individuen sind gestiegen, da ein schnelles Anpassungsvermögen und Selbständigkeit abverlangt werden, um den technischen Gegebenheiten und dem vermeintlichen Zugewinn an Freiheit gerecht zu werden (vgl. Silbereisen/Pinquart 2008: 12). Die Einwirkungen auf das Sozialleben abseits der Virtualität sind bemerkenswert, da „alle sozialen Prozesse hineingezogen werden in die Strudel allgegenwärtiger kommunikationstechnischer Erreichbarkeit“ (Malsch 2005: 7).
Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Arbeit mithilfe des Analyserahmens von Goffman den Auswirkungen der kontemporären Kommunikationstechnologien auf das Sozialleben in einer Gesellschaft und der Darstellung des Selbst in internetvermittelter Interaktion mit folgender Frage: Begründet das Social Web ein neues Verständnis von Selbstdarstellung?
Zunächst werden hierzu die zentralen Analyseergebnisse Goffmans aufbereitet und dargestellt. Darauffolgend wird die Kommunikation im Social Web betrachtet, um anschließend im Transfer von Theorie und Anwendungskontext Ergebnisse für die Beantwortung der zugrundeliegenden Frage zu erlangen. Zum Abschluss werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.
2 Theorie der Selbstdarstellung
Goffmans Forschung zur Selbstdarstellung beinhaltet die Fragestellung, wie Menschen sich an bestimmten Orten in einer gegenwärtigen oder angenommenen Gruppe darstellen; etwas weiter gefasst, steht die Frage danach im Zentrum, wie Gesellschaft zustande kommen kann (vgl. Goffman 2011, zit. n. Dahrendorf: VII).
Bei der Betrachtung der sozialen Welt als Theaterbühne besteht ein grundlegender Unterschied zum echten Theater: Es gibt im Rahmen eines Theaterstücks Zuschauer, gespielte Charaktere und die Personen dahinter. Aus diesen drei Gruppen werden im realen Leben zwei, Zuschauer und Personen – diese sind flexibel, d.h. Zuschauer können zu Personen und Personen zu Zuschauern werden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Zuschauer im Theater wissen, dass sie eine gespielte Szene sehen. Bei Begegnungen außerhalb der Theaterbühne sind sie auf Intuition und Schlussfolgerungen angewiesen. Daraus ergeben sich kontingente Interpretationsmuster auf beiden Seiten einer Interaktion (vgl. Goffman 2011: 3).
2.1 Interaktion
Im Alltag entstehen Rollen vor allem dadurch, dass es ein Zusammensein von Menschen gibt:
Da Menschen erst von Natur, dann durch gesellschaftliches Lernen, durch ihre Erziehung, durch Sozialisierung, […] gegenseitig mehr oder weniger voneinander abhängig sind, kommen Menschen, wenn man es einmal so ausdrücken darf, nur als Pluralitäten, nur in Figurationen vor. (Elias 1967: 67)
„Die Grundelemente des Verhaltens sind Blicke, Gesten, Haltungen und sprachliche Äußerungen“ (Goffman 1971: 7), die Menschen in jede dieser Situationen einbringen. Ohne sie wäre es nicht möglich, das Verhalten der anderen einzuschätzen und dementsprechende Entscheidungen über das eigene Verhalten zu treffen (vgl. ebd.).
Zu Beginn einer Interaktion werden Informationen über den/die Gesprächspartner gesammelt, um die Situation und das/die Gegenüber einschätzen zu können. Bereits an dieser Stelle muss eine gespaltene Haltung der Akteure herausgestellt werden: Bei jeder Interaktion gibt es einen Ausdruck, den man sich selbst gibt, und einen Ausdruck, den man ausstrahlt (vgl. Goffman 2011: 5f.). Zusätzlich tritt eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten auf, die wiederum zu Fehldeutungen führen können. Hierbei handelt es sich um das Repertoire, aus dem die Interpretationsmöglichkeiten genommen werden:
Es ist sehr wichtig, sich über die Tatsache klarzuwerden, dass wir gewöhnlich weder nach statistischen noch nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten unser Leben führen, unsere Entscheidungen treffen und unsere Ziele erreichen. Wir können nur auf Grund von Schlussfolgerungen bestehen. (Volkart 1951: 5)
Während einer Interaktion laufen mehrere Handlungen parallel ab. Neben der Interpretation besteht das Ziel der Akteure darin, das Verhalten der anderen zu kontrollieren (vgl. Goffman 2011: 7). Die Beziehungsgeflechte bestehen nicht immer aus zwei Akteuren, sondern nehmen oftmals eine größere Dimension an. So können an einem Ort mit mehreren Akteuren weitere Menschen in die Interaktion eintreten und somit zu Sekundärbeobachtern werden. Dies erschwert die Aufrechterhaltung einer eingenommenen Rolle und führt zu der Gefahr, dass Täuschungen entlarvt werden. Die beobachtende Rolle ist einfacher einzunehmen als die inszenierende, da sie nur die inszenierende Person im Fokus hat (vgl. ebd.: 12).
Es ist eine falsche Annahme, dass Gesellschaft nur dann funktioniert, wenn Kommunikationssymmetrien bestehen; damit ist ein Kreislauf von Verdeckung bzw. Inszenierung und Entlarvung gemeint. Sie funktioniert vor allem dann, wenn Kommunikationsasymmetrien bestehen. In diesem Fall werden Bedürfnisse zugunsten allgemeiner Werteerwartungen zurückgestellt. Dies vermeidet Konflikte, da sich alle Anwesenden den situativen Werten verpflichtet fühlen und eine dem gemäße Rolle einnehmen (vgl. Goffman 2011: 13).
Dort, wo sich Autoritäten in den Kommunikationsprozess einschalten, verzerren neben den Richtung gebenden Werten Respekt und Integrität das Wahrheitsbild (vgl. Goffman 2011: 12f.). Auf die Folgen der Unterordnung der eigenen Bedürfnisse weist Goffman ebenso in einem Beispiel der Arbeitswelt hin:
Im Dienstleistungsgewerbe erweckt dagegen der Fachmann häufig den Anschein, als sei er uneigennützig um die Probleme des Kunden besorgt, worauf der Kunde mit Respekt vor der Fähigkeit und Integrität des Fachmannes antwortet. Unabhängig von ihren inhaltlichen Unterschieden ist jedoch die allgemeine Form dieser Arbeitsübereinstimmungen die gleiche. (ebd.: 13)
Eine weitere Folge wird sichtbar, wenn der moralische Aspekt des Zusammenlebens betrachtet wird: Jeder Mensch hat das Recht, nach seinen sozialen Eigenschaften behandelt zu werden – dafür muss er aber auch nach diesen handeln (vgl. Goffman 2011: 16).
Eine Rolle ist nicht nur eine Attitüde, sondern vielmehr ein Wunsch nach einem eindeutigen Selbstbild, einer zweiten Natur: „Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen“ (Park 1950: 250). Darin eingeschlossen sind auch die Gefühle bis hin zu ihrer Entstehung (vgl. Lehner 2014: 85). Bei Begegnungen kommt es zu Konformitätsdruck: Es soll zugleich bewirkt werden, Negatives zu vermeiden und Positives zu erreichen (vgl. Goffman 2011: 21). Dieser Prozess bleibt nicht ohne Folgen, wie Sartre an einem Beispiel aus der Schule verdeutlicht:
Der aufmerksame Schüler, der aufmerksam sein will, den Blick an den Lehrer geheftet, die Ohren weit aufgetan, erschöpft sich damit, den Aufmerksamen zu spielen, derart, daß er schließlich gar nichts mehr hört. (Sartre 1952: 108)
Das Ergebnis dieser Form von Integrationsbemühen ist die Entfernung vom eigentlichen Geschehen. Die Personen geben sich voll und ganz ihren Rollen hin (vgl. Goffman 2011: 21).
2.2 Interaktionsumfeld
Beim Auftreten einer Person werden drei Aspekte unterschieden: Bühnenbild, Erscheinen und Verhalten. Alle drei sind wiederum Teil einer Fassade; darunter ist ein Teil der Darstellung zu verstehen, der regelmäßig dazu dient, die Situation für das Publikum der Vorstellung zu bestimmen (vgl. Goffman 2011: 23). Dem Bühnenbild werden Gegenstände der Umgebung eines Kommunikationsprozesses zugeordnet. Das Erscheinen verrät etwas über den sozialen Status des Darstellers. Unter Verhalten werden aktive Bemühungen gefasst, mit denen ein Darsteller seine Rolle attribuiert und anzeigt (vgl. ebd.: 23ff.). Für das Zusammenwirken der drei Komponenten ist die berufliche Welt ein Beispiel: Angestellte hohen Ranges, insbesondere mit Kunden- oder Patientenkontakt, büßen an Glaubwürdigkeit ihrer Rolle ein, sobald Bühnenbild, Erscheinen und Verhalten nicht zusammenpassen. Zudem ist es wichtig, dass Ausdruck und Handeln im Zusammenhang stehen (vgl. ebd.: 24f., 34). Obwohl Darsteller und Beobachter ihre Rollen wechseln können, ist die Fassade in verschiedene Situationen integrierbar und nicht auf eine Szene festgelegt (vgl. ebd.: 30).
Die Verkörperung bestimmter im Umfeld vertretener Werte besitzt einen Doppelcharakter: Zum einen gilt es, sich aktiv dafür zu entscheiden, ihnen zu entsprechen, zum anderen sind sie unter Umständen bereits habitualisiert, was sich als ein Grund dafür erweist, dass es etablierte Wertemaßstäbe gibt (vgl. Bourdieu 1987: 278ff.).
Die Rolleneinnahme bietet die Möglichkeit, jemand anders zu sein. Damit verbunden sind Befürchtungen, bei nicht wahrhaftiger Ausübung der Rolle entlarvt zu werden und den Ansprüchen ebendieser nicht zu genügen. Darauf gründend wird durch Rollen an einigen Stellen ein idealisiertes Bild vermittelt; dies kann sich entweder auf eine Person oder einen Status wie etwa Wohlstand beziehen. Eine Idealisierung ist etwa bei der Außendarstellung von beruflichen Positionen der Fall: Vielfach zählen praktische Fähigkeiten und persönliche Kontakte mehr als ein formalisierter Abschluss, der jedoch nahezu immer als Zugangsvoraussetzung vorzuweisen ist (vgl. Goffman 2011: 42ff.). Diese Formalisierung, in Verbindung mit der Idealisierung der eigenen Person oder Umstände, erhöht die Gefahr, sich in den Rollen zu verlieren und damit entscheidende soziale Fähigkeiten, vor allem die Empathie, einzubüßen (vgl. ebd.: 47f.). Empathie ist die bedeutendste Eigenschaft des Menschen, wenn es um soziale Beziehungen geht. Kommt sie nicht zur Ausgestaltung, entsteht ein Schaden daran, in einer Gesellschaft friedlich miteinander leben zu können. Darüber hinaus gefährdet es die eigene Identität, wenn Menschen sich in eine Scheinwelt aus Abstraktionen begeben, in der das Selbst keinen Platz hat (vgl. Gruen 2015: 11). Rollen machen Notwendigkeiten aus, die den Menschen in dem einsperren, was er ist. Als ob wir in der fortwährenden Angst lebten, daß er [der Mensch] aus ihm entwischt, daß er plötzlich aus seiner Stellung herauskommt oder sie umgeht. (Sartre 1952: 106f.)
Die Rolleneinnahme ist nicht nur ein zufälliges Erscheinungsbild während einer Situation, sondern ein Teil der Identität von Personen in einer Gesellschaft. Rollenkonstitutionen ergeben sich aus dem kulturellen Hintergrund sowie der situativen Spontanität (vgl. Goffman 2011: 69).
2.3 Vorder- und Hinterbühne
In der von Goffman untersuchten angelsächsischen Gesellschaft stellen sich Menschen räumlich und zeitlich begrenzt dar (vgl. Goffman 2011: 99). Es gibt einen Handlungsrahmen, Verhaltenserwartungen sind an bestimmte Orte gebunden (vgl. Bergius 2015). Insofern muss bei einer Verhaltens- und Rollenbetrachtung stets der örtliche Rahmen beachtet werden. Dieser ist nicht nur physisch von Bedeutung, sondern ebenso durch seine jeweilige kulturelle Wertegebundenheit (vgl. ebd.: 220).
Es gibt zwei Bezugspunkte für Darstellungen: Vorder- und Hinterbühne. Die Vorderbühne ist die Region, in der eine Vorstellung stattfindet. Die dort dargestellten Szenen richten sich nach den jeweiligen Normen. Diese teilen sich in zwei Kategorien: Zum einen gibt es verbale Normen, die sich auf das Gesprochene der Darsteller beziehen, und zum anderen gestische Normen, die sich auf Ausdruck, Haltung und Handlungen beziehen. Weiterhin führt Goffman zwei Begriffe ein, die in der Außendarstellung für ein Gelingen einer Darstellung bedeutsam sind: Beim Erscheinen, dem Bereich ohne Handlungen, spielt die Höflichkeit die größte Rolle; beim Verhalten, dem Bereich der Handlungen, ist Anstand das wichtigste Kriterium (vgl. Goffman 2011: 100f.).
Das Pendant zur Vorderbühne stellt die Hinterbühne dar. Sie ist der Ort, an dem die auf der Vorderbühne unterdrückten Verhaltenszüge in Erscheinung treten. Das Dargestellte wird widerlegt. An diesem Ort kann entweder eine Vorbereitung auf das Vorderbühnengeschehen oder eine anschließende Verarbeitung desselben stattfinden (vgl. Goffman 2011: 104f.). Zentral für die Nahtstelle zwischen beiden Bühnen ist die Verwandlung, die Darsteller durchlaufen, wenn sie auf die eine oder andere Seite treten. Auch hier ist das klassische Beispiel die Arbeitswelt, in der man im Moment des täglichen Antritts zur Arbeit eine Verwandlung und damit einen Übergang im Sozialstatus durchlebt (vgl. ebd.: 112).
Nicht nur institutionelle, rechtliche oder formale Vorgaben unterdrücken in vielen Fällen Fähigkeiten, sondern auch die Normengebundenheit der Vorderbühne führt dazu, dass es nicht darauf ankommt, eine Situation bestmöglich zu meistern, sondern angemessen: In vielen Betrieben sind Darstellungen auf der Vorder- und technische Ausführungen auf der Hinterbühne angesiedelt. So sollen beispielsweise Kunden eines Reparaturservices die eigentliche Reparatur ihres Gegenstandes nicht wahrnehmen und bekommen deshalb einen Abholtermin mitgeteilt. Die vordere Ebene wirkt geradezu steril (vgl. ebd.: 114). Wegen ihrer bedeutenden Funktionen wird der Zugang zu beiden Bühnen kontrolliert, damit das Geschehen an beiden Orten reibungslos verlaufen kann (vgl. ebd.: 217).
Trotz der Tatsache, dass ein örtlicher Rahmen immer eine Rolle für Handlungen spielt und Vorder- und Hinterbühne konstituiert, sind diese – genau wie Darsteller und Beobachter – flexibel und immer wieder neu erzeugbar. Beispielsweise können Angestellte in einem Restaurant einen Tisch vom üblichen Gästebereich abtrennen und ihn zum Mitarbeitertisch deklarieren (vgl. Goffman 2011: 118).
Ein zentrales Merkmal für die Atmosphäre auf der Hinterbühne ist Vertrauen. Obwohl sich formelle und informelle Verhaltensweisen an diesem Ort vermischen können (denkt man etwa an das Privathaus von Selbständigen während und nach den Arbeitszeiten, wenn es gleichzeitig das Arbeitsbüro beinhaltet), besteht die Möglichkeit der Selbsterkenntnis: Ereignisse der Vorderbühne können reflektiert und eingeordnet werden (vgl. Goffman 2011: 123ff.).
Neben den beiden Bühnen gibt es noch einen dritten Bereich: das Außen. Durch die wahrgenommene Anwesenheit dieses Bereiches kann das aktuelle Bühnengeschehen eingeordnet werden – die Identität der eigenen Handlung und des situativen Selbstbildes wird in Differenz zum Umfeld gebildet (vgl. Goffman 2011: 124ff.). Das Verhalten außerhalb der Rolle weist auf diese Bildung einer Identität außerhalb einer Rolle hin: Die Hinterbühne ist diesbezüglich dadurch gekennzeichnet, dass Personen, die dem Darsteller auf der Vorderbühne begegnet sind, persifliert werden, was zwei Effekte hat: Einerseits wird in diesem Fall von der Hinterbühne eine Art Kompensation übernommen, die es gewährleistet, dass es im Vorderbühnengeschehen friedlich zugeht. Andererseits wird durch das Persiflieren die Integrität des Ensembles auf der Hinterbühne gestärkt. Auch wenn es häufig zu Interaktionen zwischen Einzelpersonen kommt, stehen diese entweder als direkte Stellvertreter für eine Gruppe ein oder für die Legitimität größerer sozialer Einheiten; sie erzeugen Umweltwirkungen. Diese Wirkungen sind umso stärker, je mehr Störungen während einer Interaktion auftreten (vgl. ebd.: 221f.). Insgesamt entspringt das Verhalten auf Vorder- und Hinterbühne dem Bedürfnis der Menschen nach Geselligkeit und sozialem Kontakt – der Bühnenkontrast gewährleistet den friedlichen Ablauf der Stillung dieses Bedürfnisses (vgl. ebd.: 187).
3 Soziale Internetkultur
Das Internet ist inzwischen zu einem dicht vernetzten Kommunikationsmedium geworden. Die einst zentrale Befugnis weniger Personen, Informationen bereitzustellen, hat sich zu einer dezentralen Interdependenz zwischen Bereitstellenden und Abrufenden weiterentwickelt. Dadurch wurden kollektiv vernetzte Beziehungen möglich (vgl. Reichert 2008: 7).
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