Glaubensbekenntnisse des Atheisten Pier Paolo Pasolini. Provokateur, Prophet oder moderner Paulus?
Zusammenfassung
Diese Arbeit ist wie folgt aufgebaut: In der „Montage des Lebens“ (Kapitel 2.1), die die einzelnen Phasen bis zu seinem Tode ordnet, beschwört er sanft die „Kraft der Vergangenheit“ (Kapitel 2.2), um dann wütend festzustellen, dass er ein „Fremder in eigenen Land“ (Kapitel 2) ist. Nun wird ihm sein „innerlicher, archaischer Katholizismus“ (Kapitel 2.3) zur „Quelle der Revolte“ (Kapitel 3). Und post mortem ist er „Moderner als jeder Moderne“ (Kapitel 4), denn er hat schon früh die Aktualität der Figur „Paulus“(Kapitel 3.1) erkannt und war sich der revolutionären Kraft bewusst, die in der Poesie als „Schriftform des Handelns“(Kapitel 3.2) liegt.
In dem autobiografischen Lyrik-Zitat „(…) inmitten eines lebendigen Lichts: ein sanfter, gewalttätiger Revolutionär (…)“ wird der „Widerspruch Pasolini“ sichtbar. Pasolinis Zerrissenheit zwischen sanftmütig und gewalttätig. Einerseits sein Leben am Tage als Autor in asketischer Bescheidenheit - „seine franziskanische Demut“ - andererseits sein geheimes, nächtliches Herumstreunern in der Borgate auf der Suche nach sexueller Befriedigung.
Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung: Ein sanfter gewalttätiger Revolutionär ... 1
2 Hauptteil: Ein Fremder in feindlichem Land ... 3
2.1 Montage des Lebens ... 4
2.2 Kraft der Vergangenheit – La Ricotta ... 6
2.3 Innerlicher archaischer Katholizismus – La ricotta ... 8
3 Hauptteil: Religion – Quelle der Revolte ... 13
3.1 Paulus ... 14
3.2 Poesie – Schriftform des Handelns ... 18
4 Resumé: Moderner als jeder Moderne ... 23
5 Erwähnte Filme ... I
6 Literaturverzeichnis ... I
1 Einleitung: Ein sanfter gewalttätiger Revolutionär
In meiner Kindheit habe ich ein Pasolini-Trauma erlitten. Mein Vater ist ein begeisterter Filmsammler, der mir stolz alle seine Neuerwerbungen vorführte und es sich nicht verkneifen konnte, kurz vor einer Urlaubsreise, die er zu meinem Glück nur mit seiner Frau antrat und mich der riesigen Videosammlung überließ, prahlend zu sagen „ Thembi, ich mache mir keine Sorgen, das Du Dir schlimme Filme anschaust. Denn den wirklich schlimmen Film, den ich habe, glaube mir, den möchtest Du Dir gar nicht anschauen. “ Er nannte mir den Film „Salo oder die 120 Tage von Sodom“. Mein Vater hatte mit dieser Vermutung durchaus Recht, denn ich hatte nicht das geringste Interesse, mir einen schwer verdaulichen Film anzutun. Aber natürlich musste ich diese Begebenheit meinem guten Freund erzählen, der eine gewisse Vorliebe für schockierende Filme abseits des Mainstreams hatte und sofort sagte: „Lasst uns den gucken!“. So trafen sich eines Nachmittags 4 Teenager nach der Schule bei ihm zu Hause. Kurz nach Beginn des Filmes verließen zwei den Raum. Am liebsten wäre ich Ihnen gefolgt, doch wollte ich mir vor meinen Freund und besonders vor meinem Vater keine Blöße geben. Bis heute habe ich diesen Film kein zweites Mal gesehen! Und damit gebe ich Ulrich Gregor Recht, der sagt: „Salo ist ein Film, den man gesehen haben muss, dem man aber kein zweites Mal sehen möchte“[1].
Durch intensive Beschäftigung mit Pasolini habe ich dieses Kindheitstrauma nun endlich hinter mir gelassen und einen ganz anderen Pier Paolo Pasolini entdeckt, einen fast schon gegensätzlichen. Zu dem Pasolini, den ich mit sadomasochistischer Erotik verband, gesellte sich ein Pasolini, der sakrale Bilder tiefer Gläubigkeit entwirft, ein Aufmüpfiger, der unserer Zeit die Fragen eines Sokrates stellt und sich auf die Seite der Armen schlägt, wie ein Jesus Christus. Er ist eine moderne Saulus Paulus Figur, eine Mischung von De Sade und einem Evangelisten. Mich interessiert die Widersprüchlichkeit Pasolinis: Der Andächtige und der Abgekehrte - der über jeden Zweifel Erhabene und der vom Zweifel zerfressene.
Der Widerspruch haftet nicht nur seinem Werk und Leben an, sondern mit seinem Tod wird dieser zum Mysterium. Mutmaßungen über den ominösen Mord gibt es viele, sie reichen vom politischen Auftragsmord, über sexuellem Übergriff bis hin zum Selbstmord. Giuseppe Zigaina, Künstler und Freund Pasolinis, geht sogar so weit, von dem brutalen Mord als Inszenierung zu sprechen, als durchkomponierte Partitur von Pasolini selbst geschrieben. Pasolinis Absicht war es, demzufolge, mit seinem Leben und Tod ein offenes Kunstwerk zu schaffen, das seinen Schriften, Zeichnungen, Gemälden, Filmen erst den Sinn einer Gesamtschau verleiht. Dies ist eine furchterregende Perspektive, da der Mord an Pasolini so unglaublich brutal war, das die Vorstellung dieser wäre von ihm selbst geplant gewesen, einem einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen lässt – kälter und entsetzlicher, als der, den ich schon von „Salo“ kannte.
In dem autobiografischen Lyrik-Zitat „(…) inmitten eines lebendigen Lichts: ein sanfter, gewalttätiger Revolutionär (…)“ [2] wird der „Widerspruch Pasolini“ sichtbar. Pasolinis Zerrissenheit zwischen sanftmütig und gewalttätig. Einerseits sein Leben am Tage als Autor in asketischer Bescheidenheit - „seine franziskanische Demut“[3] - andererseits sein geheimes, nächtliches Herumstreunern in der Borgate auf der Suche nach sexueller Befriedigung.
Kommen wir nun zum Aufbau meiner Arbeit: In der „Montage des Lebens“ (Kapitel 2.1), die die einzelnen Phasen bis zu seinem Tode ordnet, beschwört er sanft die „Kraft der Vergangenheit“ (Kapitel 2.2), um dann wütend festzustellen, dass er ein „Fremder in eigenen Land“ (Kapitel 2) ist. Nun wird ihm sein „innerlicher, archaischer Katholizismus“ (Kapitel 2.3) zur „Quelle der Revolte“ (Kapitel 3). Und post mortem ist er „Moderner als jeder Moderne“ (Kapitel 4), denn er hat schon früh die Aktualität der Figur „Paulus“(Kapitel 3.1) erkannt und war sich der revolutionären Kraft bewusst, die in der Poesie als „Schriftform des Handelns“(Kapitel 3.2) liegt.
Pasolini hinterfragte das Europa der Kapitalisten, ähnlich wie Jesus das Jerusalem der Philister und Sokrates das Athen der Sophisten hinterfragte. Seine Wut treibt ihn an, gegen die Windmühlen der Konsumindustrie zu kämpfen und der katholischen Kirche die Augen aufzureißen, die blind ihrem eigenen Kitsch erliegt. Unsere Hochkultur kriselt gewaltig und Pasolini hat es prophezeit. Seine gedankliche Schärfe und religiöse Stärke liegt in der Notwendigkeit begründet, den Skandal in den Dingen sichtbar zu machen und damit in das Herz des Gegenstandes vorzudringen.
2 Hauptteil: Ein Fremder in feindlichem Land
„(…)Wenn einer, der Verse, Romane oder Filme macht, in der Gesellschaft, in der er wirkt, auf Komplizität, Duldung oder Verständnis stößt, dann ist er kein Autor. Ein Autor kann nichts anderes sein als ein Fremder in feindlichem Land: er ist im Tod und nicht im Leben zu Hause, und die Reaktion, die er provoziert, ist ein mehr oder weniger starkes Gefühl von Rassenhaß.“[4]
In meiner Lektüre über den vielschichtigen Künstler Pier Paolo Pasolini stieß ich, oft schon im Klappentext, auf eine metaphysische Verbindung zwischen Pasolini und dem Leiden und Tode Jesus Christus. Pasolini wird zur Passionsfigur Christi, zu einem öffentlich Gekreuzigten in dem Schauprozess des gesellschaftlichen Spektakels der Medien gemacht. Als Fremder in feindlichem Land wird Pasolini Zeit seines Lebens und nach dem Tode an den öffentlichen Pranger[5] gestellt.
Woher stammt diese Mystifizierung Pier Paolo Pasolinis? Genügt nicht die gewalttätige Ermordung, muss man ihn noch dazu mit dem Mythos erschlagen? Doch um dieses mythologische Gebräu noch etwas aufzupeppen , „gewährt mir die Bitte“ Sokrates zu diesem „Bunde [als (T.H.)] der dritte“ [6] hinzuzufügen. Die Nähe zwischen Jesus, Sokrates und Pasolini liegt nicht allein in ihrer Eigenschaft als Pädagogen, die den Dialog mit der einfachen Bevölkerung suchten, begründet, sondern auch in ihrer missionarischen Leidenschaft und dem aggressivem Eifer [7], mit dem sie Stellung gegen die herrschenden Machtverhältnisse beziehen. Ihr Handeln äußert sich in der Negation[8] des bürgerlichen Kollektivs, mit dem sie auf das Fehlen von Werten und Inhalte des menschlichen Zusammenlebens aufmerksam machen - und dies ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Pasolini wirkte ähnlich wie Sokrates, der die Bürger auf den Straßen Athens gezielt mit Fragen provozierte und verstörte, bis er schließlich von den Sophistikern der Blasphemie und Verderbung der Jugend bezichtigt wurde. Jesus „Negation“ liegt schon in seiner fleischlichen Existenz allein: der auf Erden weilende Sohn Gottes, der sich nicht scheut, die Menschen des einfachen Volkes zu berühren und ihnen mit prophetisch-entschlossener Sanftheit die heimwärts geneigte Erfüllung im Schoße des Glaubens anzubieten. Ebenfalls wie Jesus betont auch Pasolini die Sakralität der Körperlichkeit. In seiner Verbundenheit mit dem einfachen Volk findet er zu den Ur-werten des Christentums zurück und schöpft aus den Evangelien sein Erlösungsbedürfnis[9]. Pasolini ist für den Kinogänger eine beunruhigende Erfahrung, weil er unangepasst und beständig ein Fragender ist, der die Realität mit einer „verzweifelten Lebendigkeit“ [10] hinterfragt und den Zuschauer zwingt, die Körperlichkeit seiner Filme zu berühren.
Sokrates, Jesus und Pasolini waren alle drei Ausgestoßene, Provokateure, Ketzer, Systemkritiker und „politische Verbrecher“ [11] und fanden lediglich in einem kleinen Kreis von „Jüngern“ auf Unterstützung. (Auch Pasolini traf sich jeden Tag mit seinen guten Freunden zum Abendmahle[12]). Alle drei sind heute mit einem Mythos belegt, zu Märtyrerfiguren[13] verklärt, ihrer Wahrhaftigkeit beraubt und neu interpretiert mit systemrelevanten Vorstellungen[14]. Sei es durch die Kirche, die Schüler (Platon und Xenophon) oder eine „ lechts und rinks velwechsernde“[15] alternative Intellektuellenszene, die in Pasolini eine Heilfigur, einen Weltverbesserer oder einen „Besessenen, der die Sünden und Laster unserer Epoche auf sich genommen hat“ [16], sah. Wir sehen ihn mit langem Haar[17] und rotem Stirnband zum Freibeuter stilisiert, oder sogar als Gekreuzigten[18]. Zum einen ist es auch eine große Selbstinszenierung Pasolinis, doch wie weit geht diese? Wer schrieb das Drehbuch zu Pasolinis Tod[19]?
So geschieht mit Pasolini das, was Roland Barthes dem bourgeoisen Mythos zuschreibt: Pasolini wird mit dem Stempel des Mythos abgeschoben, seiner Systemkritik entledigt und als „Andersrum“ verharmlost. Und Carsten Witte appelliert: „Mir scheint, dass vor allen aktivierten Mythen die Feldarbeit realer Kenntnisnahme zu aktivieren sei. Pasolini, der Lehrer. Das ist noch kein Mythos, sondern bloß ein Vorbild, von dem zu lernen man nicht schnell ermüdet.“[20]
2.1 Montage des Lebens
„Die Montage bearbeitet das Material des Films (der aus sehr langen oder sehr kurzen Fragmenten, aus ebenso vielen Einstellungssequenzen und möglichen subjektiven Perspektiven besteht) wie der Tod das Leben bearbeitet.“[21]
Selten lässt sich das Werk eines Künstlers von biografischen Einflüssen trennen. In Bezug auf Pasolini wäre dies absolut fatal, denn Werk und Leben bilden bei ihm eine eng verflochtene Gesamtschau. Sein Werk ist durchzogen von autobiografischen Anspielungen, Prophezeiungen und Attacken gegen die bürgerliche Gesellschaft, sein Liebesleben spielt genauso mit hinein, wie die politische und intellektuelle Auseinandersetzung mit seiner Zeit. Durchzogen ist sein Leben und sein Werk mit der Suche nach religiösen Werten, hier zeigt sich sein starkes Heimweh nach dem Sakralen.
Pasolinis Zwiespalt beginnt mit der Geburt im Jahre 1922: Geboren als Bürgerlicher in der bäuerlichen Welt des Friauls wächst er zwischen der geliebten katholischen Mutter und dem verhassten faschistischen Vater auf. In seinem Werk finden sich die fröhlichen Momente, die Radtouren in Friaul und das Baden mit seinen Freunden in den umliegenden Flüssen, und die bittersten Stunden, das „Blutbades von Porzùs“[22], der skandalöse Mord an seinen geliebten Bruder Guido. Schon früh trifft er auf staatlichen Widerstand gegen seine Poesie, denn sein erster Gedichtband ist auf Friaulisch geschrieben und entspricht hierdurch nicht der damals herrschenden, faschistischen Ideologie einer einheitlichen italienischen Hochsprache. Als schließlich seine homosexuelle Neigung öffentlich wurde, musste er mit seiner Mutter aus (seiner Heimatstadt) Casarsa nach Rom fliehen. Ausgestoßen aus der kommunistischen Partei, denunziert von der katholischen Kirche und verfemt von der geliebten Gemeinde Casarsas, verliert er 1950 alles, woran sein Herz hängt. „Flucht und Aufbruch zugleich“, wie Hans-Ulrich Reck eindringlich betont[23]. In Rom erwartet ihn ein karges Leben in der Borgate, dem Armenviertel Roms, das er kennen und lieben lernt. Die Borgate ist das Fluidum, aus dem Pasolinis beeindruckendes und vielseitiges künstlerisches Schaffen entspringt. Ihr verleiht er eine Sprache, die bildhaft, schonungslos und nackt das kleinkriminelle Leben der Halbstarken Roms beschreibt. „Meinen Realismus bezeichne ich als Liebesakt“[24] ließ er verlauten. Seiner Mutter hatte er viel zu verdanken. Die Liebe zur Dichtkunst, die Hingabe an den Lehrerberuf, die Sanftmütigkeit und im besonderen auch seinen tiefen Glauben: “(..) mein Vater war nicht gläubig, meine Mutter gläubig in einer Welt von urzeitlicher Milde, nicht einmal zur Messe hat sie mich gezwungen.“[25]
Die Poesie Pasolinis erregte immer einen Eklat in der bürgerlichen Gesellschaft Italiens. Laufend wurde er verklagt: „ fast jeden Monat, wegen Beleidigung, Verführung Minderjähriger und so fort, und jedes Mal musste er vor Gericht erscheinen. (..) ich glaube, er ist 120 Mal vorgeladen worden “[26]. Den Bürgern im damaligen Italien war es kaum vorstellbar, das der Skandal von „Ragazzi di vita“ [27] noch zu toppen war, doch war dies eine leichte Fingerübung für Pasolini. Er vollbrachte es wieder mit „Accatone“[28] und wieder mit „La ricotta“[29] und immer wieder mit seinen Polemiken und später sühnte er es mit seinem Tod, durch „Salo“.
Pasolinis Selbstverständnis drückt sich in seiner Forderung nach umfassender Kritik aus: „Man muß den Mut haben zu einer totalen Kritik“ [30] Total, denn seine Kritik war keineswegs einseitig, sie war ein Rundumschlag: Er kritisierte nicht nur die bürgerliche Gesellschaft, sondern auch die kommunistische Linke, die Studenten der 68er sowie die intellektuelle Elite des Landes, allen voran Umberto Eco.
„Entweder man ist unsterblich und unausgedrückt, oder man drückt sich aus und stirbt“[31] So wurde Pasolini in der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen 1975 Opfer eines Gewaltverbrechens, das bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Sergio Citti [32] hatte damals schon der Polizei erzählt, dass er in der Nacht unterwegs war um die gestohlenen Filmrollen von Salo[33] wiederzubeschaffen. Es spricht vieles dafür, dass es ein politisch motivierter Mord war, dass er in einen Hinterhalt gelockt, und von Auftragsmördern - seinen Jungs aus der Borgate – hingerichtet wurde.
2.2 Kraft der Vergangenheit – La Ricotta
Nur in der Überlieferung ist meine Liebe.
Ich stamme aus den Trümmern, den Kirchen,
den Altarbildern, den verlassenen
Dörfern auf den Apenninen oder den Voralpen,
da, wo die Brüder zuhause waren.
Ich laufe über die Tuscolana wie ein Wahnsinniger,
über die Appia wie ein herrenloser Hund.
Oder betrachte die Dämmerungen, die Morgengrauen
über Rom, auf der Ciociaria, der Welt
wie die ersten Ereignisse der Nach-Geschichte,
denen ich beiwohne, begünstigt durch mein Geburtsjahr,
vom äußersten Rand irgendeines verblichenen
Zeitalters. Monströs, wer hervorgegangen ist
aus den Eingeweiden einer Toten.
Ich, ausgewachsener Fötus, streife umher
moderner als jede Moderne
auf der Suche nach Brüdern, die es nicht mehr gibt.“ [34]
Pasolini kommt aus der Kunstgeschichte, daher stammt seine malerische Herangehensweise an den Film. Seine Liebe zum Film wurde nicht, wie bei vielen Regisseuren der Nouvelle Vague, in den Kinosesseln geboren, sondern bei einem Lichtbildvortrag von Roberto Longhi [35]. Der Film „La ricotta“ entstand als eine Art Vorübung für die große Aufgabe „Ein Werk der Poesie“ zu schaffen, wie er sein Filmvorhaben „il vangelo secondo matteo“ beschrieb. Die Idee dazu entwickelte sich bei dem Besuche einer Tagung zum Thema „ Das Kino als spirituelle Kraft im augenblicklichen Moment“[36], zu der überraschenderweise Papst Johannes XXIII auftauchte. Durch dieses Treffen aufgewühlt, verkroch sich Pasolini in seinem Zimmer und las das Matthäus Evangelium, das er auf seinen Nachttisch gefunden hatte. Sofort wollte er dies als Film realisieren, doch sein Produzent Alfredo Bini bremste ihn und überredet ihn, zuvor bei einem Episodenfilm mitzumachen, dessen Regisseure Jean Luc Godard, Roberto Rossellini und Ugo Gregoretti (RoGoPaG) waren.
„La ricotta“ handelt von den Dreharbeiten zu einem Film über die Passion Christi und spielt in einer heruntergekommenen Landschaft vor der Kulisse Roms. Ein zynischer, desillusionierter Regisseur versucht seiner Vorliebe für manieristische Kunst Ausdruck zu verleihen, indem er detailgetreu Rosso Fiorentinos „Kreuzabnahme“ und Pontormos „Grabtragung“ nachstellt. Es misslingt ihm sein Vorhaben, da es mit seiner weltlichen Filmcrew unmöglich ist, Bilder sakraler Gottesfürchtigkeit zu entwerfen. Durch die Nachstellung wird die zur Schau gestellte Religiosität als Kitsch entlarvt. Am Set wird der ausgehungerte Komparse Stracci gezeigt. Die ihm zugeteilte Essensration hat er seiner Familie geopfert. wie ein gehetztes Tier sieht man ihn von Ort zu Ort rennen, um endlich Essen zu ergattern. Immer wieder wird er vom Essen abgehalten. Als er sich endlich etwas beschaffen konnte und er in einer Drehpause zu seinem Versteck kommt, da hat ausgerechnet der verhätschelte Hund der Diva seine Nahrung verschlungen. Er verkauft den Hund einem Reporter, den man zuvor in einem Interview mit dem Regisseur gesehen hatte. In diesem Interview verliest der Regisseur des Films ein Gedicht Pasolinis aus dem Buch Mamma Roma: „Io una forza del pasado“. Mit dem Erlös des Hundes kann Stracci eine große Menge Ricotta kaufen, die er dann zur Belustigung der Mitarbeiter des Films in sich hineinschlingt. Diese werfen ihm noch höhnisch Essensreste vom Tisch des Abendmahls zu. Mit dem Überlebenskampf Straccis wird die Gewalt der Armut sichtbar gemacht, die mit ihrem schamlosen und verzweifelten Versuch zur Befriedigung dieses Grundbedürfnisses die bürgerlichen Tugenden entsetzt – Da gönnt man doch lieber dem süßen kleinen Spitz die Essensration, als solch einem elenden, armen Menschen - So wird die Proleten-Passion Straccis mit dem Tod am Kreuz mystifiziert und die falsche Passion des Jesus-Darstellers entlarvt. Pasolini betonte, dass der Film die Realität darstellt. So bedeutet der Film im Film die Fiktion, die sich durch Doppelmoral, Heuchelei und Kitsch auszeichnet. Am Ende gelingt dem Regisseur doch noch die ikonographische Wiederbelebung der alten Meister, denn das entstandene Schlussbild ist ein pathetisches Meisterwerk manieristischer Kunst, im „ Kitsch der italienischen, religiösen Postkarte“[37]
[...]
[1] Gregor 1983, 78. Leider habe ich Erika Gregor, die mir nach der Veranstaltung im Arsenal „Wie de Waarheid zegt moet dood“ (zu Gast: Regisseur Philo Bregstein , Nl 1981, 30.9) sagte, sie werde sich „Salo“ ein zweites mal ansehen, nicht gefragt, ob sie dazu ihren Mann mitnehmen wird.
[2] Pasolini 1986, 76.
[3] Witte 1998, 23.
[4] Pasolini 1972, 254.
[5] Durch Gerichtsverhandlungen und Verhöhnungen in den Medien.
[6] Schiller 1798.
[7] Ich halte mich hier an das Bild, das Pasolini von Jesus in seinem Film „Il Vangelo secondo Matteo“ entwarf. Obwohl hier ein personalisierter Jesus gezeigt wird, hatte sich Pasolini doch streng an den Text des Matthäus Evangeliums gehalten.
[8] Begriff entlehnt von Badiou 2007.
[9] In „La ricotta“ von Pasolini selbst gesprochene Erklärung lautet: „(..)die Geschichte der Passion, von der La ricotta indirekt handelt, für mich das größte Ereignis darstellt, das sich je ereignet hat und dass die Bücher, die davon berichten, das Erhabenste sind, was je geschrieben wurde.“
[10] Poem Pasolinis „eine verzweifelte Vitalität“.
[11] Friedrich Nietzsche nannte Jesus einen „heiligen Anarchisten“ und „politischen Verbrecher“. Vgl.; Der Antichrist Teil 2
[12] Gemeinsames Essen mit Ninetto Davoli, Alberto Moravia, Elsa Morante, Laura Betti, Bernardo Bertolucci, Dacia Maraini.
[13] Pasolini, »Märtyrer-Regisseur durch eigene Entscheidung« Zigaina in „Pasolini und der Tod“
„Das Martyrium ist das erhabenste Zeugnis, das man für die Wahrheit des Glaubens ablegen kann. es ist ein Zeugnis bis zum Tod.“ (http://www.kathpedia.com/index.php?title=M%C3%A4rtyrer)
[14] Ich denke, um Sokrates steht es nicht ganz so schlimm.
[15] Vgl. Jandl, 1966.
[16] Hans Christoph Buch, „Der rote Korsar“ in: Der Spiegel, 1979.
[17] Obwohl er Langhaarige überhaupt nicht ausstehen konnte, vgl. „Die Sprache der Haare“, Pasolini 1975.
[18] Alfred Hrdlicka, „Der Tod von Pasolini“, Frankfurter Städel, 1978.
[19] Vgl Witte 1998, Houchang Allahyari, „Pasolini inszeniert seinen Tod“, 1985.
[20] Witte 1998, 47.
[21] Pier Paolo Pasolini, Anmerkungen zur Einstellungssequenz, 1967.
[22] Guido Pasolinis Partisaneneinheit wurde von slowenischen Partisanentruppen unter Tito blutig niedergemetzelt, um die friaulischen Gebiete an Slowenien anzuschließen. Vor Gericht wurden die Mörder freigesprochen.
[23] Reck 2012
[24] Prammer 2009, 11.
[25] Pasolini 1972, 268.
[26] Zigaina, aus: http://ofenschlot.blogsport.de/page/23/.
[27] Roman aus dem Jahre 1955 über das Millieu der Borgate.
[28] Film von 1961 über einen Zuhälter, der durch die ärmliche Welt der Vorstädte streunert, wie durch die Höllenkreise Dantes.
[29] Film von 1962.
[30] Zitiert von Prammer 2009, 11.
[31] Ebd.,10.
[32] Guter Freund, der in vielen Filmen mitgespielt hatte.
[33] Diese Filmrollen fehlen bis heute.
[34] Aus „Eine neue Vorgeschichte“, vgl. Prammer 2009, 48.
[35] Italienischer Kunsthistoriker, bei dem Pasolini studierte. Gemeint ist seine Gemälde Betrachtung „Carpaccio“.Vgl. Marc Weis, „Erleuchtung beim Lichtbildvortrag“ in: Semff / Schwenk 2005, 62.
[36] Tagung der Citadella Crístiana in Assisi 1962. Vgl. Naldini 1991, 223.
[37] Vogel 1997, 285.