Die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Untersuchungen zur Herkunft des Naumburger Meisters als auch Arbeiten aus seiner Hand bzw. seiner Werkstadt gipfelten in der 2011 durchgeführten Landesausstellung sowie deren begleitende Kolloquien, Tagungen und andere Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt. Im Mittelpunkt stand dabei der Naumburger Dom, speziell der Westchor mit seinem Lettner als auch die Stifterfiguren, welche dem Naumburger Meister zugeschrieben werden. Der Naumburger Meister ist bis heute anonym geblieben; Zuweisungen von Werken gelingen in der Regel lediglich über ikonographische Vergleiche.
Von nicht minderer Bedeutung zeigt sich dabei der nur noch in Fragmenten überlieferte Westlettner des Mainzer Doms. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geweiht sowie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts niedergelegt, sind uns doch einige Reliefs erhalten geblieben, die von einer bis dato nicht gekannten Fülle von Innovationen strotzen. Ein neuer künstlerischer Genius, beginnend in Frankreich im Zuge des neuen Zeitalters der Kathedralen fegt über Zentraleuropa hinweg und verändert das Bauwesen als auch den Bauschmuck in revolutionärer Geschwindigkeit.
Doch was ist wirklich neu in Mainz und wo finden sich Vorbilder in der französischen Gotik? Dieser Frage soll in diesem Aufsatz nachgegangen werden - in geringem Umfang und im Rahmen der Möglichkeiten bleibend, aber in Grundzügen aufzeigend.
Inhalt
I. Einführung
II. Baugeschichte
a. Der Mainzer Dom St. Martin bis 1239
b. Der Mainzer Westlettner - Definition, Funktion, Beschreibung
III. Das Skulpturenprogramm des Mainzer Westlettners
IV. Vorbilder und Vergleiche in der französischen Gotik
V. Schlusswort
A. Literatur
B. Abbildungen
C. Abbildungsverzeichnis
I. Einführung
Die in den letzten Jahrzehnten durchgeführten Untersuchungen zur Herkunft des Naumburger Meisters als auch Arbeiten aus seiner Hand bzw. seiner Werkstadt gipfelten in der 2011 durchgeführten Landesausstellung sowie deren begleitende Kolloquien, Tagungen und andere Veranstaltungen in Sachsen-Anhalt. Im Mittelpunkt stand dabei der Naumburger Dom, speziell der Westchor mit seinem Lettner als auch die Stifterfiguren, welche dem Naumburger Meister zugeschrieben werden. Der Naumburger Meister ist bis heute anonym geblieben; Zuweisungen von Werken gelingen in der Regel lediglich über ikonographische Vergleiche.
Von nicht minderer Bedeutung zeigt sich dabei der nur noch in Fragmenten überlieferte Westlettner des Mainzer Doms. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geweiht sowie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts niedergelegt, sind uns doch einige Reliefs erhalten geblieben, die von einer bis dato nicht gekannten Fülle von Innovationen strotzen. Ein neuer künstlerischer Genius, beginnend in Frankreich im Zuge des neuen Zeitalters der Kathedralen fegt über Zentraleuropa hinweg und verändert das Bauwesen als auch den Bauschmuck in revolutionärer Geschwindigkeit.
Doch was ist wirklich neu in Mainz und wo finden sich Vorbilder in der französischen Gotik? Dieser Frage soll in diesem Aufsatz nachgegangen werden - in geringem Umfang und im Rahmen der Möglichkeiten bleibend, aber in Grundzügen aufzeigend.
II. Baugeschichte
a. Der Mainzer Dom St. Martin bis 1239
Der zu den Kaiserdomen zählende Hohe Dom St. Martin zu Mainz kann auf eine über tausendjährige Geschichte zurück blicken. Für die Betrachtung des Westlettners sowie dessen kunsthistorisch bedeutendes Bildprogramm zeigt sich allerdings nur die bauhistorische Entwicklung bis zur Errichtung des Westbaus im 13. Jh. von Relevanz; sie soll in einem kurzen Abriss zusammengefasst dargestellt werden, sofern sie für die folgenden Ausführungen von Bedeutung ist.
Von besonderer Bedeutung zeigt sich dabei der Willigis-Bardo-Bau. Im Jahre 975 wurde der Erzkanzler des Reiches Willigis von Otto II. zum Erzbischof von Mainz erhoben und erhielt im gleichen Jahr von Papst Benedikt VII. mit dem Pallium das Privileg, als "Primas Germaniae" und Metropolit der größten Kirchenprovinz neben dem Papst die höchste Position in der katholischen Kirche einzunehmen (Abb. I)[1].
Der Bau wurde vermutlich kurz nach 975 auf einer Brache vor dem ehemaligen Stadtkern begonnen sowie 1009 vollendet; er ist somit nicht an der Stelle eines Vorgängerbaus errichtet worden. Er wurde in Form einer dreischiffigen basilikalen Anlage mit je einem Ost- und Westchor ausgeführt[2]. Besondere Beachtung verdient hierbei der Umstand, dass sich der Hauptchor im Westen befand, wie dies auch bei den großen Basiliken Roms der Fall war. Über die Ausführung kann aufgrund der im 13. Jh. entfernten Fundamente keinerlei Aussage gemacht werden, jedoch wäre ein direkter Anschluss der Apsis an das Querhaus eine mögliche Rekonstruktion; diese Lösung kam schon in St. Peter zu Rom zur Anwendung[3]. Ferner wäre eine Lösung mit einem eingefügten Chorquadrat denkbar, wie sie schon in anderen romanischen Kirchen nördlich der Alpen ausgeführt worden war (Abb. II)[4].
Der Willigisbau brannte im Verlauf der Weihefeierlichkeiten am 29./30. August 1009 nieder[5]. In der Folge blieb der zerstörte Dom eine Baustelle und wurde erst unter Erzbischof Bardo am 1036 erneut geweiht[6], bevor auch dieser Bau im Jahre 1081 durch einen Brand stark beschädigt wurde. Bis zum Tod Kaiser Heinrich IV. im Jahre 1106 folgte eine Zeit reger Bautätigkeit, die ihre Ursache in der immensen Förderung seitens des Regenten fand und im 12. Jh. qualitativ als auch quantitativ stark einbrach[7]. Die Baumaßnahmen begannen im Osten und folgten der Achse nach Westen; sie erreichten im ausgehenden 12. Jh. den Westbau des Willigis, welcher einem neuen Westbau weichen musste und somit abgetragen wurde. Dabei wurden auch die Fundamente entfernt, welche möglicherweise für den Neubau als zu schwach erschienen[8].
Nach der Aufrichtung des neuen Querhauses entstand die Vierung, welche von einer großen achteckigen Kuppel gekrönt wurde. Diese zeigt reiche Formen an Bauschmuck wie etwa umlaufende Blendarkaden, Rundbogenfriese sowie Säulenkapitelle (Abb. III). An die Vierung schließt sich ein rippengewölbtes Chorquadrat mit drei Apsiden an den äußeren Seiten an[9].
Die Ausführung des neuen Westbaus erfolgte weitgehend im Stil der kölnisch-niederrheinischen Spätromanik. Ferner zeigen sich frühe gotische Einflüsse, welche sich z.B. in Strebepfeilern, einigen Spitzbögen sowie proportional eher langen Fenster im Westchor manifestieren[10].
Der 1239 fertig gestellte Westchor wurde zum Kirchenschiff hin von einem Lettner abgeschlossen; er verbarg den Blick in den prachtvollen Westchor von Osten und trug im hohen Maße zur Raumgliederung des Mainzer Domes bei[11].
b. Der Mainzer Westlettner - Definition, Funktion, Beschreibung
Die Bezeichnung "Lettner" leitet sich von dem mittellateinischen Wörtern "lectorium" und "lectionarium" ab, also den Bezeichnungen für das Lesepult sowie das Buch mit den zu lesenden Schriftperikopen. Dabei ist der Lettner weder Teil der Großarchitektur noch Kleinarchitektur eines Kirchenraumes und zählt auch nicht zu den Ausstattungsstücken. Er stellt vielmehr eine eigenständige Binnenarchitektur innerhalb des mittelalterlichen Kirchenraumes dar und definiert sich durch zwei Funktionen: Er trennt als schrankenähnlicher Einbau den Chorraum als Bereich des Klerus vom Langhaus ab und stellt eine erhöhte Bühne als Leseplatz in Richtung des Laienraumes, des Langhauses, zur Verfügung[12].
Der genaue Zeitpunkt der Fertigstellung des Mainzer Westlettners ist unbekannt; es sind keine Quellen überliefert. Es darf allerdings angenommen werden, dass der Lettner am Tage der großen Domweihe (04.07.1239) bereits fertig gestellt war[13]. Nach etwa viereinhalb Jahrhunderten beschloss das Mainzer Domkapitel im Jahre 1681 die Niederlegung des Lettners. Ursächlich für diese Entscheidung mag zum einen der marode Zustand gewesen sein[14], zum anderen könnten die auf dem Konzil von Trient[15] beschlossenen Reformen der katholischen Liturgie Einfluss auf die Entscheidung genommen haben, den Mainzer Westlettner letztlich im Jahre 1682 abzutragen[16].
Die Kunstgeschichtsforschung wurde erst am Anfang des 20. Jhs. auf die gotische Skulptur im Mainzer Dom aufmerksam. Ausgrabungen in den 20er Jahren des 20. Jhs. brachten eine größere Anzahl Fragmente zu Tage, die jedoch nicht alle geborgen wurden. Ferner konnten die Fundamente des ehemaligen Westlettners erfasst werden (Abb. V), auf deren Basis verschiedene, teils widersprüchliche Rekonstruktionen basieren, wobei der Westlettner des Naumburger Doms sowie der Lettner der Marienkirche in Gelnhausen als Analogien benutzt werden[17].
Die Protokolle des Domkapitels der Jahre 1680-83 überlieferten einen ersten Hinweis auf dessen Gestalt. Dort ist von einer festen Rückwand sowie einer sich zum Langhaus hin öffnenden Gewölbehalle die Rede, die sich über frei stehende Stützen erhob[18].
Auch die jüngere Forschung hat sich immer wieder mit der Gestalt des Mainzer Westlettners auseinander gesetzt. Peschlow-Kondermann spricht von einer auf einer auf gebündelten Säulen stehenden dreijochigen Gewölbehalle mit einem mittleren querrechteckigen Joch , an das sich zu beiden Seiten ein je ein trapezoides Seitenjoch anschloss[19]. Schmelzer typisiert in als einen Hallenlettner auf trapezförmigen Grundriss mit axialem Durchtritt[20].
Die verzogenen Kreuzgewölbe der beiden seitlichen Joche endeten in mit Laubwerk geschmückten Schlusssteinen, während sich im Mitteljoch eine Gewölbefigur befand, welche somit oberhalb des zentralen Eingangs in den Westchor hing (Abb. VI, XXIII).[21]
III. Das Skulpturenprogramm des Mainzer Westlettners
Die Rekonstruktion des Skulpturenprogramms des Mainzer Westlettners war eine der großen Aufgaben der Mainzer Dombauforschung des letzten Jahrhunderts. Nach dem Abbruch des Westlettners im 17. Jh. wurde eine unbestimmte Anzahl an Werksteinen auf verschiedene Orte zur sekundären Verwendung verstreut. Teile des Lettners wurden in Mainz wiederverwendet, so etwa wurden nach Abbruch der seitlichen Chorschranken neue Chorbühnen aus dem Steinmaterial eben dieser errichtet, die sich noch heute im Mainzer Dom befinden (Abb. VII).
Zu Beginn des 20. Jhs. erregten zwei im Kreuzgang eingemauerte Relieffragmente sowie ein Relief mit der Darstellung der Deesis am Außenbau des Domes die Aufmerksamkeit von Vöge, der in den drei Arbeiten aufgrund der außerordentlichen Qualität einen Zusammenhang sah[22]. Er stellt zudem zum ersten Mal einen Zusammenhang zwischen den Naumburger und Mainzer Skulpturen dar und sieht Mainz als einen Ort des Aufeinandertreffens französischer sowie deutscher Bauleute.
Diese drei Reliefs bilden heute das zentrale Motiv der Rekonstruktion des figürlichen Programms der Front des ehemaligen Mainzer Westlettners. Im Giebelfeld des Lettnerdurchgangs war die zentrale Darstellung, eine Deesis[23] angebracht.
Diese Deesis (Abb. VIIIa) war, wie bereits erwähnt, vermutlich seit dem Lettnerabbruch im Tympanon des südlichen Domportals eingesetzt, um sie vor möglichen Verlust zu bewahren. Der Johanneskopf fand sich erst bei den Ausgrabungen 1926 wieder. Christus, der Weltenrichter, sitzt auf einer Thronbank. Seine rechte Hand ist zum Segensgruß erhoben, seine linke greift in die Falten seines an der Brust geschlitzten Gewandes, so dass die Seitenwunde, die Ursache seines Todes, sichtbar wird. Die Darstellung des Christus entspricht dem frühgotischen Typus mit schulterlangen Haaren (Abb. VIIIb). Zur Rechten Christi kniet Maria in einem langen, über den Kopf gezogenen Mantel mit gefalteten Händen (Abb. VIIIc); zur linken kniet Johannes der Täufer im ikonographisch typisch pelzgefütterten Gewand.
Die Gruppe lässt sich in ein rechtwinkliges Dreieck einschreiben, dessen Spitze den Kopf Christi einschließt und dessen Seiten Kopf und Körper Mariae sowie den Kopf des Johannes berühren. Diese Form ist für die Verwendung in einem zentralen Giebelfeld mehr als geeignet (Abb. IX).
Der Bildhauer setzt hier auf eine neue Bildsprache, die nunmehr besonders expressiv und neu erscheint. Den bisher oft formelhaft und statisch wirkenden Figuren französischer Weltgerichtsdarstellungen folgen hier echte, zu Emotionen fähig wirkende Menschen. Der Weltenrichter entbehrt hier jeglicher Strenge älterer Darstellungen; er hat sich dem Menschen zugewandt, blickt zum Betrachter und entblößt zum ersten Mal in der Geschichte der Christusdarstellungen seine Seitenwunde. Maria und Johannes tragen ihre Fürbitten eindringlich vor; ihre Mimik und Körperhaltung vermittelt glaubhaft die Sorge um das Wohl der gesamten Menschheit[24].
Zu beiden Seiten der Deesis befanden sich zwei weitere Reliefs. Es handelt sich dabei um die schon von Vöge beschriebenen Reliefs mit Seeligen und Verdammten[25]. Diese beiden Reliefs wurden nach Abbruch des Lettners in der neu errichteten Albanskapelle als Kommunikantenbank weiter verwendet. Nach deren Zerstörung wurden sie in die Gartenmauer des Kapuzinerklosters eingesetzt und gelangten von dort im Jahre 1832 in den Domkreuzgang.
Der Zug der Seeligen (Abb. X) befand sich ursprünglich zur Rechten Christi[26]. Darauf deutet die abgeschrägte rechte Kante hin. Die Darstellung überliefert eine dicht gedrängte, zweischichtig gestaffelte Personengruppe auf dem Weg ins Paradies, wobei die Reihenfolge des Zuges die mittelalterliche Ständeordnung widerspiegelt: Voran schreitet der Papst, erkennbar an der kegelförmigen Mitra (Kegelkrone), der höchste Repräsentant der Kirche auf Erden, gefolgt von einem Bischof mit Mitra im Hintergrund. Im folgt der höchste weltliche Würdenträger, der Kaiser, erkennbar an seinem Tasselmantel, welchen er mit der linken Hand elegant gerafft hält. Dem Kaiser folgen zwei barfüßige Bettelmönche im gegürteten Ordenshabit sowie eine Frau, die aufgrund der Form ihrer Kopfbedeckung als Nonne oder verheiratete Frau gedeutet werden kann. Der Zug endet mit einem Vertreter des Laienstandes, der durch einen jungen Mann symbolisiert wird. Auf der Reliefkante sitzt ein junger Knabe, der hier wohl stellvertretend für die Unschuld der Kinder steht, denen von vorneherein ein Platz im Paradies bestimmt ist. Er wirkt, als wäre er gerade auf die Kante geklettert und hebt seine Hände, entweder um zu beten oder um freudig in die Hände zu klatschen; dazu passt auch das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht[27].
Der Zug der Verdammten (Abb. XIa) erscheint in Umriss und Maße als Pendant zum Zug der Seligen und fand seinen Platz am Mainzer Westlettner wohl zur Linken Christi. Heulend und klagend bewegt sich eine Gruppe Sünder in Richtung der Hölle, die heute nicht mehr vorhanden ist. Dorthin wurden sie ursprünglich wohl von einem Teufel an einer Kette gezogen, welche heute ergänzt ist. Die wiederum zweischichtig gestaffelten Personen entsprechen dem mittelalterlichen Bild von Sünde und Sündern. Unter den verdammten befindet sich, erkennbar an seinem spitzen Hut, ein Jude. Nach der mittelalterlichen Vorstellung im Christentum waren Menschen jüdischen Glaubens ohne Möglichkeit zur Erlösung und direkt für die Hölle vorbestimmt. Im Vordergrund findet sich außerdem ein nicht näher bestimmbarer, leidvoll gekrümmter Mann mit fragmentierten Armen. Diese könnten evtl. zu einem verzweifelten Händeringen ergänzt werden oder aber einen armlosen Mann zeigen, stellvertretend für den Geiz. Neben dem Mann befindet sich eine Hofdame mit modisch gerüschtem Kleid; diese dürfte wohl die Eitelkeit symbolisieren. Weiterhin ist im Hintergrund ein Mönch zu erkennen, welcher die Verfehlungen des (niederen!) Klerus präsentiert[28].
Beide Reliefs zeigen vom hohen Können der ausführenden Werkstatt bzw. des leitenden Meisters. Während die Gesichter der Seeligen gelöst, ja schon fast freundlich erscheinen, so ganz ohne Spannung (aber mit gelassener Würde), steht den Menschen im Zug der Verdammten sprichwörtlich das Entsetzen, ja sogar Furcht ins Gesicht geschrieben (Abb. XIb). Die Figuren differenzieren sich aber nicht nur in der Feinheit ihrer Mimik; auch ihre Gestik wirkt sehr different und ausdrucksstark.
Neben den drei Reliefs sind weitere Fragmente figürlicher Plastik erhalten, die sich dem Mainzer Westlettner zuschreiben lassen.
Bei dem sogenannten "Auferstehenden"[29] handelt es sich um eine Person, die gerade mit der Rechten einen Sargdeckel zurückgestoßen hat und dem sich im Erdreich befindlichen Sarg entsteigt. Während der Körper eher kindliche Formen und Proportionen zeigt, wirkt der Kopf mit seiner überhöhten Stirn und dem kahlen Schädel eher greisenhaft (Abb. XII).
Ein weiteres Fragment, die Teufelsfratze[30], ist mit einem breit gezerrten, die obere Zahnreihe entblößenden Maul dargestellt. Dieses Fragment gehörte vermutlich zum Zyklus des Weltgerichts und könnte von jenem Teufel stammen, der die Verdammten in die Hölle führt. Er erscheint etwas größer dimensioniert als die Köpfe der Verdammten, was aber bei gotischen Weltgerichtsdarstellung eher als Norm erscheint (Abb. XIII).
Die fragmentarisch, nur im oberen Teil erhaltene Blattmaske[31] war wohl ursprünglich in einem runden Medaillon am Mainzer Westlettner angebracht. Sie zeigt das Gesicht eines Naturwesens, welches ganz aus vegetabilischen Formen gebildet ist. Möglicherweise besaß das Medaillon eine apotropäische Funktion (Abb. XIV).
Drei Fragmente lassen sich einer Gewölbefigur zuordnen, welche als Schlussstein des mittleren Lettnergewölbes diente. Es handelt sich dabei um Fragmente einer Kreuzrippe mit angearbeitetem Arm, dem Rest einer Kreuzrippe mit angearbeitetem Knie sowie dem Kopf mit der Binde, eines der bekanntesten Fragmente des Mainzer Westlettners. Der lebensgroße Jünglingskopf zeigt die gleichen charakteristischen Merkmale wie die Köpfe der Seeligen und Verdammten; eine kantige Gesichtsform, gepaart mit stark definierten Wangenknochen und einem markanten, leicht eingekerbten Kinn. Die Darstellung verleiht dem Antlitz eine beeindruckende Lebendigkeit. Der Kopf gehört zu einer Gewölbefigur, die ihre Arme und Beine in Kreuzform ausstreckte und die jeweils auf eine der vier Kardinalstugenden deuteten. Dieser "vermenschlichte" Schlussstein scheint eine Erfindung des Naumburger Meisters zu sein; er tritt hier zum ersten Mal auf (Abb. XVa-c)[32].
Ein weiteres bedeutendes Fragment befindet sich heute an der Ostwand des Nordquerschiffs der Bassenheimer Martinskirche. Es zeigt St. Martin zu Pferde, wie er den Mantel teilt als auch den Bettler, der dem Reiter nacheilt und in Richtung des Mantelendes greift. Bedingt durch den heutigen Standort sowie der abgebildeten Szene findet sich dieses Relief in der Literatur als "Bassenheimer" Reiter wieder (Abb. XVI).
Schnitzler entdeckte das Relief 1935 in der Bassenheimer Kirche und stellte als erster den Bezug zum Naumburger Meister her. Er vermutete, dass der Mainzer Domherr Casimir Waldbott von Bassenheim das Relief nach dem Abbruch des Mainzer Westlettners in seine Heimatgemeinde verbrachte[33].
[...]
[1] Lehmann 2010, 16.
[2] Zur Diskussion um das Datum des Baubeginns sowie der Bausausführung bis 1009 vgl. Hehl 2010, 53ff. Dort Informationen zur Quellenlage/Quellenzitate in den Fußnoten.
[3] von Winterfeld 2010, 110f; von Winterfeld 2011, 48f.
[4] Vgl. z.B. Gernrode, St. Cyriakus; Hildesheim, St. Mariä Himmelfahrt; Bad Hersfeld, Stiftskirche - diese sind bei von Winterfeld 2010, 111 erwähnt.
[5] Der genaue Tag des Brandes lässt sich aufgrund der widersprüchlichen Quellenlage nicht mehr ermitteln. Ebenso ist unklar, ob der Bau schon geweiht worden war, als das Feuer ausbrach. Vgl. Hehl 2010, 46.
[6] von Winterfeld 2010, 120.
[7] von Winterfeld 2010, 121ff.
[8] Arens 1998, 42.
[9] Trikonchos nach niederrheinischem Vorbild.
[10] Vgl. Kosch 2010, 146ff.; von Winterfeld 2010, 131f.
[11] Kotzur 2010, 161.
[12] Vgl. hierzu die Definition sowie die weiteren Erläuterungen bei Schmelzer 2004, 10f. sowie die Betrachtungen von Kotzur 2010, 159f. sowie Abb. IV (zeigt die Situation im Mainzer Dom in der Mitte des 13. Jhs.).
[13] Ecker 2011, 582.
[14] Ecker 2011, 582.
[15] 1545-1563 überwiegend im norditalienischen Trient abgehaltenes Konzil der römisch-katholischen Kirche als Reaktion auf die im Heiligen Römischen Reich stattfindenden reformatorischen Bewegungen mit dem Ziel, auf die Forderung dieser zu reagieren. Einer der Beschlüsse regte an, Lettner und Chorschranken niederzulegen sowie die Einrichtung des Hochaltars als sichtbare liturgisches Zentrum.
[16] Schmelzer 2004, 183.
[17] Zur Forschungsgeschichte vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 19ff.
[18] Ecker 2011, 590, Peschlow-Kondermann 1972, 20.
[19] Peschlow-Kondermann 1972, 51, 69f.
[20] Schmelzer 2004, 116f., 183; Köpf 2011, 610.
[21] Ecker 2011, 590.
[22] Ecker 2011, 583; vgl. dazu Straehle 2009, Dokument 3, 176ff.: V. Zwei Vorträge zur Naumburger Skulptur - 1. Wilhelm Vöge (1905).
[23] Deesis: 90 x 114 cm (HxB), heute im Dommuseum Mainz, einige Ergänzungen, vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 30ff.
[24] Vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 30ff.; Kotzur 2008, 30f.; Ecker 2011, Beitrag im Katalog "Der Naumburger Meister", VI.2 - Deesis vom ehemaligen Westlettner des Mainzer Doms, 618f.
[25] Zug der Seeligen: 90 x 97 cm (HxB), Zug der Verdammten: 90 x 97 cm (HxB), beide im Dommuseum Mainz, einige Ergänzungen, vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 32f.
[26] Darauf deutet die erhobene rechte Hand Christis hin, die in Richtung des Paradieses deutet. Ferner ist in der Heraldik die rechte, vom Betrachter aus gesehene Linke Seite die dominante, bedeutendere Position. Die Bedeutung der rechten Seite zieht sich durch viele historische Allegorien (zur Rechten Gottes sitzen, die (rechte) Schwert- und Schwurhand usw.).
[27] Vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 32f.; Kotzur 2008, 30f.; Ecker 2011, Beitrag im Katalog "Der Naumburger Meister", VI.3 - Zug der Seligen vom Westlettner des Mainzer Doms, 621f.; Wilhelmy 2012, 138f.
[28] Vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 30ff.; Kotzur 2008, 30f.; Ecker 2011, Beitrag im Katalog "Der Naumburger Meister", VI.4 - Zug der Verdammten vom ehemaligen Westlettner des Mainzer Doms, 622f.
[29] Auferstehender: 53 x 50 cm (HxB), heute im Dommuseum Mainz, zahlreiche Brüche und Fehlstellen, vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 33f.; Kotzur 2008, 32.
[30] Teufelsfratze: 28 x 18 cm (HxB), heute im Dommuseum Mainz, mehrere Abbrüche, vgl. Peschlow-Kondemann 1972, 34; Kotzur 2008, 32.
[31] Blattmaske, 38 x 36 cm (HxB), heute im Dommuseum Mainz, unterer Teil fehlt, vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 35f.; Kotzur 2008, 32.
[32] Kopffragment, 23,5 x 24 cm (HxB), heute im Dommuseum Mainz, vgl. Peschlow-Kondermann 1972, 36f.; Ecker 2011, Beitrag im Katalog "Der Naumburger Meister", VI.5 - Kopffragment einer Gewölbefigur vom Mainzer Westlettner (sogenannter Kopf mit Binde), 625.
[33] Vgl. Schnitzler 1935, 399ff.