Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, was Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe unter dem Begriff des praktischen Wissens versteht. Dabei soll auch geklärt werden, inwiefern (beziehungsweise ob) dieses eine eigenständige, also irreduzible epistemologische Kategorie darstellt und welche Rolle diese Wissensform für das absichtliche Handeln spielt.
Der zuletzt genannte Punkt soll insofern dem tiefergehenden Verständnis dienen, als der Begriff des praktischen Wissens so in seinem funktionalen Zusammenhang betrachtet werden kann. Das heißt, indem man die Rolle analysiert, die dieser Begriff in Anscombes Darstellung einnimmt, lässt sich, so die Idee, besser verstehen, was sie unter praktischem Wissen versteht und warum dieses ihrer Meinung nach nicht auf ein spekulatives oder kontemplatives Wissen zurückgeführt werden kann.
Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage ist also die, warum nach Anscombe das praktische Wissen als eigenständige Wissensform eine notwendige Bedingung für ein absichtliches Handeln darstellt, die absichtliche Handlung also nicht auf die notwendigerweise begleitenden Elemente des spekulativen Wissens reduziert werden kann.
Die Arbeit folgt dabei nachstehendem Aufbau: Zuerst sollen einige Anmerkungen zum Wissensbegriff des späten Wittgenstein erfolgen. Dies ist insofern eine sinnvolle Ausgangsbasis, als Anscombes eigene Position sehr stark durch Wittgensteins Überlegungen geprägt wurde. Anschließend wird Anscombes Begriff des Wissens ohne Beobachtung eingeführt und so die Grundlage des Übergangs zum Begriff des praktischen Wissens geschaffen. Daraufhin wird der Begriff des praktischen Wissens eingeführt und dem des spekulativen Wissens gegenübergestellt. Anschließend wird – vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern es sich dabei um eine eigenständige epistemologische Kategorie handelt – die Rolle des praktischen Wissens für das absichtliche Handeln analysiert.
Inhalt
1 Einleitung
2 Der Begriff des Wissens bei Anscombe und bei Wittgenstein
3 Wissen ohne Beobachtung
4 Praktisches und spekulatives Wissen
5 Praktisches Wissen als Grundlage des (absichtlichen) Handelns
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Im Folgenden soll die Frage beantwortet werden, was Anscombe unter dem Begriff des prak- tischen Wissens versteht. Dabei soll auch geklärt werden, inwiefern (bzw. ob) dieses eine eigenständige, also irreduzible epistemologische Kategorie darstellt und welche Rolle diese Wissensform für das absichtliche Handeln spielt. Der zuletztgenannte Punkt soll insofern dem tiefergehenden Verständnis dienen, als der Begriff des praktischen Wissens so in seinem funktionalen Zusammenhang betrachtet werden kann. D. h., indem man die Rolle analysiert, die dieser Begriff in Anscombes Darstellung einnimmt, lässt sich, so die Idee, besser verste- hen, was Anscombe unter praktischem Wissen versteht und warum dieses ihrer Meinung nach nicht auf ein spekulatives bzw. kontemplatives Wissen zurückgeführt werden kann. Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage ist also die, warum nach Anscombe das praktische Wissen als eigenständige Wissensform eine notwendige Bedingung für ein absichtliches Handeln darstellt, die absichtliche Handlung also nicht auf die es notwendigerweise begleitenden Elemente des spekulativen Wissens reduziert werden kann.
Die Arbeit folgt dabei nachstehendem Aufbau: Zuerst sollen einige Anmerkungen zum Wissensbegriff des späten Wittgenstein erfolgen. Dies ist insofern eine sinnvolle Ausgangsbasis, als Anscombes eigene Position sehr stark durch Wittgensteins Überlegungen geprägt wurde. Anschließend wird Anscombes Begriff des Wissens ohne Beobachtung eingeführt und so die Grundlage des Übergangs zum Begriff des praktischen Wissens geschaffen. Daraufhin wird der Begriff des praktischen Wissens eingeführt und dem Begriff des spekulativen Wissens gegenübergestellt. Anschließend wird - vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern es sich dabei um eine eigenständige epistemologische Kategorie handelt - die Rolle des praktischen Wissens für das absichtliche Handeln analysiert. Die verschiedenen Aspekte werden dann schließlich in einem Fazit zusammengeführt und die oben gesellte Fragestellung beantwortet.
2 Der Begriff des Wissens bei Anscombe und bei Wittgenstein
Anscombes Anspruch in Intention besteht in erster Linie darin, eine Grundlage für eine philosophische Handlungstheorie zu schaffen1 und damit auch die Ethik auf ein konzeptionell festes Fundament zu stellen.
For the proof that an unjust man is a bad man would require a positive account of justice as a ‘virtue’. This part of the subject-matter of ethics is, however, completely closed to us until we have an account of what type of characteristic a virtue is […] and how it relates to the actions in which it is instanced. […]
For this we certainly need an account at least of what a human action is at all, and how its description as ‘doing such-and-such’ is affected by its motive and by the intention or intentions in it; and for this an account of such concepts is required.2
Ein solches Fundament kann nach Anscombe jedoch nicht auf einer irgendwie gearteten privi- legierten (und damit unfehlbaren) inneren Wahrnehmung der jeweils eigenen Absichten auf- bauen.3 Ein solcher Ansatz der Infallibilität der eigenen inneren Wahrnehmungen war zuvor von Wittgenstein massiv angegriffen worden.4 So sollte sein berühmtes Privatsprachenargu- ment zeigen, dass es konzeptionell nicht denkbar sei, Wissen auf einer unfehlbaren Introspek- tion aufzubauen, da in diesem Fall kein Kriterium von Falschheit und Richtigkeit mehr exis- tiere.5 Diesen wichtigen Aspekt von Wittgensteins Spätwerk hier detailliert darzustellen und zu begründen ist allerdings nicht möglich, da dieser zu tief in seinem Werk verankert und notorisch schwer zu verstehen ist - die Darstellung also zu viel Raum einnehmen würde. Grundsätzlich kann man jedoch festhalten, dass Wittgenstein der Meinung ist - und gerade diesen Aspekt übernimmt Anscombe -, dass die Grammatik des Wortes ‚Wissen‘ so aufge- baut ist, dass ein Irrtum möglich sein muss. Fälle, in denen dies nicht der Fall ist, sind ledig- lich Fälle des Sagen-Könnens, nicht jedoch von Wissen. „Ich kann wissen, was der Andere denkt, nicht was ich denke. Es ist richtig zu sagen ‚Ich weiß, was du denkst‘, und falsch: ‚Ich weiß, was ich denke.‘ (Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre.)“6 Wissen kann also nur dann vorliegen, wenn ein Irrtum prinzipiell möglich ist. Dies ist aber bei der Erfassung der eigenen Gedanken nicht möglich. Denn wie sollte ein sol- cher Irrtum aussehen, indem man meint, X zu denken, aber tatsächlich Y denkt?
Ohne diese Position hier weiter verständlich machen zu können und auf eine argumentative Grundlage zu stellen, muss festgehalten werden, dass diese Anscombes eigenen Ansatz stark beeinflusst hat. „[T]here is point in speaking of knowledge only where a contrast exists between ‘he knows’ and ‘he (merely) thinks he knows’”.7 Einen privilegierten Zugang zu den eigenen Absichten schließt sie demnach als Grundlage für eine Handlungstheorie von Anfang an aus. Zwar nimmt sie dabei keine derart ablehnende Position ein, wie Ryle, der die Existenz eines Geistes generell verneinte,8 doch lehnt sie den Rückgriff auf mentale Zustände zum Verständnis von Absichten klar ab.9 Obgleich Anscombe Wittgenstein also darin folgt, dass Wissen nur dort vorliegen kann, wo Irrtum möglich ist und dass Berichte über eigene mentale Zustände dieses Kriterium nicht erfüllen, ist sie anders als Wittgenstein der Meinung, dass Berichte über die eigenen Absichten durchaus wahr oder falsch sein können.10 So ist es bei- spielsweise möglich, sich über die Lage der eigenen Gliedmaßen zu irren, sodass die Aussage ‚Mein Bein ist gestreckt‘ wahr oder falsch sein kann. Genau dasselbe gilt auch für absichtli- che Handlungen und Aussagen über Absichten. „‘I am pinning the tail on the donkey’, said by a blindfolded child, may be mistaken for obvious reasons. Hence we can speak of knowing what one is doing—as we can speak of knowing the position of one’s limbs.”11 Um im Zu- sammenhang mit dieser Position, in der sich Anscombe von Wittgenstein klar unterscheidet, jedoch nicht wieder in psychologische Begrifflichkeiten mentaler Zustände und privilegierter Zugänge zu denselben zu verfallen, führt Anscombe den Begriff des Wissens ohne Beobach- tung ein. Dieser erfüllt nun die Funktion, die in anderen Zusammenhängen der Geist (mind) gespielt hat. Dabei ist noch einmal anzumerken, dass Anscombe nicht gegen die Existenz ei- nes Geistes argumentiert. Ihre Gründe für die Ablehnung einer mentalistischen Position liegen vielmehr in der Untauglichkeit eines solchen Ansatzes für eine Handlungstheorie, da zum einen die Frage von Wahrheit und Falschheit unter der Annahme eines privilegierten Zugan- ges zu den eigenen Absichten nicht mehr sinnvoll gestellt werden kann. Zum anderen läuft die Position, dass Absichten durch entsprechende mentale Zustände gekennzeichnet sind nach Anscombe auf ein Dilemma hinaus: Entweder muss man akzeptieren, dass mentale Zustände notwendigerweise mit der Zukunft zusammenhängen oder man muss akzeptieren, dass sie einen nur zufälligen Bezug zur Zukunft haben. Beide Hörner des Dilemmas sind für Anscom- be jedoch keine tragbaren Positionen, sodass sie den Ansatz, dass mentale Zustände zur Er- klärung von Absichten herangezogen werden sollten, von Anfang an verwirft.12
3 Wissen ohne Beobachtung
Anscombes Begriff des Wissens ohne Beobachtung steht in einem sehr engen Zusammenhang mit ihrem Begriff des praktischen Wissens. Obgleich praktisches Wissen jedoch immer ein Wissen ohne Beobachtung ist,13 sind die Extensionen der beiden Begriffe keineswegs de- ckungsgleich. Ziel des vorliegenden Abschnitts soll es demnach sein, Anscombes Begriff des Wissens ohne Beobachtung herauszuarbeiten und darzustellen, inwiefern dieser mit dem des praktischen Wissens zusammenhängt.
Die Einführung des Begriffs des Wissens ohne Beobachtung findet bereits an einer recht frü- hen Stelle in Anscombes Intentions statt. Bereits dort stellt sie fest, dass die Klasse der Dinge, die man ohne Beobachtung wisse, die Klasse der absichtlichen Handlungen umfasse.14 Bezeichnenderweise trifft dieser Zusammenhang jedoch nicht auf das Beispiel zu, mit dem An- scombe diesen Begriff zuerst verdeutlicht. So wisse ein Mensch - und dies betrifft eben keinerlei Handlung - ohne Beobachtung die Position seiner Gliedmaßen. Das entscheidende Kri- terium für die Behauptung, dass es sich dabei um ein Wissen ohne Beobachtung handle, stellt dabei, so Anscombe, die Absenz von separat beschreibbaren Empfindungen dar.15 Dies ver- deutlicht sie durch den Vergleich einer Empfindung, die durch eine Reflexbewegung des Bei- nes infolge eines entsprechenden Klopfens entsteht16 mit der Empfindung, die beim Fahr- stuhlfahren auftritt. Während Erstere sich, so Anscombe, nicht von dem entsprechenden Er- eignis abtrennen ließe, so könne Letztere durchaus in anderen Kontexten auftreten. So kann das Gefühl des nach unten oder nach oben Fahrens in anderen Konstellationen auftreten, etwa wenn das Gleichgewichtsempfinden gestört ist oder in einer Achterbahn. Das entsprechende Empfinden ist also (von dem konkreten Ereignis des Fahrstuhlfahrens) abtrennbar. Dies jedoch trifft Anscombe zufolge nicht auf die Empfindung der Reflexbewegung zu. Zwar könne man sich in dem Glauben irren, eine solche Bewegung realiter vollzogen zu haben, doch könne dieses Gefühl, da es überhaupt nicht als einzelne Empfindung - also in Abgrenzung zu der Reflexbewegung - erkannt werden kann, eben nicht in anderen Kontexten auftreten.17 Wäh- rend die Empfindung des Fahrstuhlfahrens also einzeln beschrieben werden kann, etwa als Gefühl einer plötzlichen Leichtigkeit, so trifft dies auf das Empfinden der Reflexbewegung nicht zu. Dies wiederum bedeutet allerdings auch, dass die Empfindung der Reflexbewegung in einem gewissen Sinne nicht missgedeutet werden kann.
I mean that if a man says he saw a man standing in a certain place, or heard someone moving about, or felt an insect crawling over him, it is possible at least to ask whether he misjudged an appearance, a sound, or a feeling If a man says that his leg is bent when it is lying straight out, it would be incorrect to say that he had misjudged an inner kinaesthetic appearance as an appearance of his leg bent, when in fact what was appearing to him was his leg stretched out.18
[...]
1 Tatsächlich gilt Anscombe als die Begründerin der Handlungstheorie als einem eigenen philosophischen Forschungszweig. Vgl. Stoutland 2011, S. 5.
2 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2005, S. 174; Hervorhebung im Original, Auslassung d. Verf.
3 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 9.
4 Dieser introspektive Ansatz soll hier nicht vorgestellt werden. Angemerkt sei, dass der Cartesianismus ein gutes Beispiel dieses Ansatzes darstellt. Vgl. dazu ausführlich Moran 2001.
5 Einen Überblick über Wittgensteins Privatsprachenargument bietet Beckermann 2008, S. 69ff.
6 Wittgenstein et al. 1984, S. 565.
7 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 14.
8 Vgl. Ryle 2000.
9 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 6.
10 Vgl. Teichmann 2008, S. 18.
11 Teichmann 2008, S. 19.
12 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 2; Teichmann 2008, S. 26f.
13 Vgl. etwa Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 53, 87f. Vgl. auch Haddock 2011, S. 148.
14 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 14.
15 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 13. Vgl. auch Pickard 2004, S. 214.
16 Anscombes erstes Beispiel für Dinge, die man ohne Beobachtung wissen kann, umfasst also Dinge wie die Position der eigenen Gliedmaßen und die Bewegungen einzelner Körperteile.
17 Vgl. Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 14f.
18 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret 2000, S. 49f.