Das mentale Lexikon. Wortschatzerwerb im frühkindlichen Sprachgebrauch
Zusammenfassung
„Für keine geistige Aufgabe sind Kinder von Natur aus besser ausgestattet als für den Spracherwerb“ (Mens 2007: 37), so die Autorin des oben genannten Artikels. Besonders gegenwärtig setzen sich viele Forscher mit dem Thema des Erstspracherwerbs auseinander, das noch immer viele Rätsel und ungeklärte Fragen aufwirft. Der unermüdliche Forschungsdrang mag seinen Ursprung neben weiteren Aspekten darin haben, dass nahezu alle Kinder ihre Muttersprache ungeachtet intellektueller, kultureller und sozialer Unterschiede gewissermaßen mühelos erlernen. Dennoch ist der Erstspracherwerb „die komplexeste aller Aufgaben, mit denen das Kind im Laufe seiner Entwicklung konfrontiert wird“ (Dittmann 2006: 9), da es nicht nur die einzelnen Komponenten der Sprache zu erlernen und abzuspeichern gilt, sondern diese auch logisch und regelkonform miteinander zu verbinden. Auf diese Weise entsteht parallel zur Entwicklung des Kindes ein Netz sprachlicher Teilkomponenten, das zusammengefügt ein Ganzes ergibt – den Wortschatz. Eine Schlüsselposition nimmt in diesem Rahmen das mentale Lexikon ein, da zuerst ein mehr oder weniger umfangreicher Wortschatz vorhanden sein muss, bevor das entstehende Sprachsystem komplettiert werden kann. Dieses Komplettieren erfolgt schließlich durch den Erwerb von Grammatikkompetenzen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ... 3
2. Spracherwerbstheorien ... 4
3. Das mentale Lexikon ... 7
3.1 Aufbau und Organisation ... 8
3.2 Bedeutungserwerb ... 11
3.3 Erwerb von Wörtern ... 14
4. Fazit ... 17
Literaturverzeichnis ... 19
1 Einleitung
Das A und O des neuen Lebens hieß unlängst der Artikel einer Ausgabe des Geo Wissen Magazins, in dem es herauszufinden galt, wie das Kind zur Sprache kommt. Bereits im Vorwort der Ausgabe bezeichnet Germanistikprofessor Claus P. Simon die Sprache als „bedeutendste Errungenschaft der Menschheit“ (Simon 2007: 3), die die menschliche Spezies von allen anderen Lebewesen abgrenzt. Eine Kulturtechnik, die sich über Jahrtausende entwickelt und sich im Laufe der Evolution als unverzichtbar herausgestellt hat. Die Sprache ist von überragender Bedeutung für den Alltag des Einzelnen, was sich an der Mannigfaltigkeit ihrer Funktionen und Aufgaben zeigt. Während die Kommunikationsfunktion, welche sich auf den bewussten, partnerorientierten Austausch informationsliefernder Sachverhalte bezieht, der wohl wichtigste Aufgabenbereich der Sprache ist, wird diese außerdem als Denk- und Handlungsinstanz eingesetzt. Von besonderer Wichtigkeit ist diese Funktion beispielsweise bei Annäherungsversuchen zu anderen Menschen oder dem Ausdrücken von Gefühlen auf der verbalen Ebene.
„Für keine geistige Aufgabe sind Kinder von Natur aus besser ausgestattet als für den Spracherwerb“ (Mens 2007: 37), so die Autorin des oben genannten Artikels. Besonders gegenwärtig setzen sich viele Forscher mit dem Thema des Erstspracherwerbs auseinander, das noch immer viele Rätsel und ungeklärte Fragen aufwirft. Der unermüdliche Forschungsdrang mag seinen Ursprung neben weiteren Aspekten darin haben, dass nahezu alle Kinder ihre Muttersprache ungeachtet intellektueller, kultureller und sozialer Unterschiede gewissermaßen mühelos erlernen. Dennoch ist der Erstspracherwerb „die komplexeste aller Aufgaben, mit denen das Kind im Laufe seiner Entwicklung konfrontiert wird“ (Dittmann 2006: 9), da es nicht nur die einzelnen Komponenten der Sprache zu erlernen und abzuspeichern gilt, sondern diese auch logisch und regelkonform miteinander zu verbinden. Auf diese Weise entsteht parallel zur Entwicklung des Kindes ein Netz sprachlicher Teilkomponenten, das zusammengefügt ein Ganzes ergibt – den Wortschatz. Eine Schlüsselposition nimmt in diesem Rahmen das mentale Lexikon ein, da zuerst ein mehr oder weniger umfangreicher Wortschatz vorhanden sein muss, bevor das entstehende Sprachsystem komplettiert werden kann. Dieses Komplettieren erfolgt schließlich durch den Erwerb von Grammatikkompetenzen.
Infolgedessen unterliegt die vorliegende Arbeit primär der Zielsetzung, den Erwerbsprozess des Wortschatzes und damit einhergehend die Bedeutung des mentalen Lexikons im Laufe der Sprachaneignung darzustellen. Im Vorfeld werden allerdings knapp ausgewählte Theorien zum Erstspracherwerb dargelegt, um Hintergrundinformationen, die von Wichtigkeit für das Thema sein könnten, zur Verfügung zu stellen. Bevor jedoch auf den Bedeutungserwerb und den Erwerb von Wörtern eingegangen werden kann, wird zunächst die Zusammensetzung und Organisation des mentalen Lexikons Thema dieser Arbeit sein. Anschließend gilt es die Funktion und den Erwerb von Wortbedeutungen und Wörtern im frühkindlichen Erstspracherwerb darzustellen und die Erkenntnisse im abschließenden Fazit zu diskutieren und auszuwerten.
2 Spracherwerbstheorien
Das Sprachsystem ist das Regelwerk der menschlichen Kommunikation mit Symbolen und besteht aus zwei sich ergänzenden Bestandteilen: dem Kenntnissystem und dem Regelsystem. Das Kenntnissystem steht sinnbildlich für das mentale Lexikon, das Regelsystem hingegen für die Grammatik. Die Aneignung des Lexikons, und damit des Sprachschatzes, ist in den umfassenderen Prozess des Sprachsystemerwerbs eingebettet.
Um die Funktionsweise und die Bedeutung des mentalen Lexikons für den Erstspracherwerb klären zu können, wurden in der Vergangenheit zahlreiche, teilweise widersprüchliche, theoretische Ansätze veröffentlicht, von denen die bedeutsamsten im Folgenden beleuchtet werden.
Seit 50 Jahren ist die Spracherwerbsforschung stark von einer theoretischen Kontroverse[1] geprägt, die im Englischen als nurture vs. nature bezeichnet wird. Generell wird darüber diskutiert, inwiefern der Spracherwerb auf den genetischen Erbanlagen eines Menschen basiert, oder ob die Aneignung von Sprache den Einflüssen aus der direkten Umwelt geschuldet ist.
Der Hauptvertreter des Behaviorismus - Burrhus Frederic Skinner - „glaubte in den 1950er Jahren, dass pure Nachahmung der Weg zur Sprache sei“ (Mens 2007: 38f). Insofern sie für ihre Leistung ein Lob erhielten, würden Kinder einfach nachsprechen, was sie von den Eltern und anderen Bezugspersonen aufschnappten. Behavioristischen Theorien zufolge, wird der Mensch als ‚leeres Blatt‘[2] geboren, welches „erst durch Umwelt und Erfahrung in systematisch analysierbarer Weise ‚beschrieben‘ wird“ (Bickes/ Pauli 2009: 31). Infolgedessen wird der Spracherwerb nach behavioristischer Auffassung als Konditionierungsprozess begriffen, der nicht auf der Basis mentaler Entwicklungsabläufe beruht.
Erst nachdem der amerikanische Linguist Noam Chomsky das Buch Skinners[3] in einer Rezension verrissen hatte, setzte ein Umdenken ein. Chomsky indes vertritt die gegensätzliche Position des Behaviorismus – den Nativismus. Er verficht die These, „dass die Stimuli, denen Kinder im Spracherwerb ausgesetzt sind, weder quantitativ noch qualitativ ausreichen, um bestimmte syntaktische Strukturen zu erlernen“ (Bickes/ Pauli 2009: 34). Resultierend daraus müssten die Prinzipien und Regeln der Sprache dem Menschen angeboren sein, beispielsweise in Form einer universalen Grammatik, die für alle Sprachen der Welt gelte. Laut Chomsky sind auf dem LAD[4] die für alle Sprachen gültigen grammatischen Regeln gespeichert, auf die das Kind im Laufe des Spracherwerbs zurückgreift. Das LAD ist nach nativistischen Theorien außerdem der Sitz der Universalgrammatik. Eine Modifizierung von Chomskys Theorie, bezüglich des Vorhandenseins einer Universalgrammatik, wurde später hinsichtlich der Einführung des Begriffspaars der Prinzipien und Parameter unternommen:
Im Kern des P&P-Modells steht […] die Annahme einer abstrakten, rein mentalen grammatischen Struktur, die als angeboren gilt, und die in Form von Prinzipien die universellen Kategorien und Strukturen aller menschlichen Sprachen charakterisiert. Ferner gibt es strukturelle Optionen (Parameter), die einzelsprachlichen Ausprägungen der Prinzipien Rechnung tragen .
(Bickes/Pauli 2009: 36)
Es wird angenommen, dass sich die Auswahl des gültigen Parameters für die jeweilige zu erlernende Sprache unweigerlich aus dem umgebungssprachlichen Input des Kindes ergibt.
Während behavioristische Lerntheorien die äußeren Lernbedingungen thematisieren, ist das sprachliche Fortschreiten beim Kognitivismus eng an die kognitive Entwicklung des Kindes geknüpft. Die innere Repräsentation der Umwelt bildet die Basis weiterführender Lernprozesse. Der Hauptvertreter des Kognitivismus ist Jean Piaget, der in seinem Hauptwerk Sprechen und Denken des Kindes (1983) davon ausgeht, dass der Spracherwerb als ein von der kindlichen Gesamtentwicklung untrennbarer Prozess zu betrachten ist. Nach kognitivistischen Auffassungen, wird im Laufe der Entwicklung des Kindes das Prinzip der Objektpermanenz erworben, das als Meilenstein für den sprachlichen Fortschritt steht, da nun vom Kind erkannt wird, dass eine Person oder ein Gegenstand noch immer existieren, auch wenn es aus dem temporären Sichtfeld verschwindet. Die sichtbare sprachliche Entwicklung wird dementsprechend zum Zeichen allgemeiner kognitiver Reifeprozesse.
Der Interaktionismus vertritt hingegen die Vorstellung, dass vor allem soziale Interaktion die Voraussetzung für den Spracherwerb sei. Wygotsy, ein früher Vertreter des Interaktionismus, beurteilt das „soziale Umfeld, in dem das Individuum aufwächst“ (Merten 1997: 42) als essentiell für den Spracherwerb. Das heranwachsende Kind lernt demnach zu sprechen, weil es mit seiner Umwelt interagieren und kommunizieren können möchte. Wygotsy zufolge hat die Sprache eher „eine soziale Herkunft und eine soziale Funktion“ (Merten 1997: 44). Im fortschreitenden Verlauf des Spracherwerbs, werden vom Kind allmählich wiederkehrende Muster und Strukturen in den Äußerungen seiner Umgebung erkannt, generalisiert und schließlich eigenständig wiedergegeben.
Für den US-amerikanischen Anthropologen und Verhaltensforscher Michael Tomasello ist der Spracherwerb eng mit sozialen Interaktionsprozessen verknüpft (vgl. Tomasello 2002: 126). Im Verlauf des Erstsprachenerwerbs erkennt das Kind zunehmend die kommunikativen Absichten seiner Bezugsperson, wenn es „mit ihnen auf verschiedene Weisen interagiert“ (Tomasello 2002: 126), und somit eigene Intentionen mithilfe sprachlicher Symbole auszudrücken erlernt.
[…]
[1]Anlage-Umwelt-Diskurs
[2] ‚tabula rasa‘
[3] Verbal Behavior, 1957.
[4] Language acquisition device – angeborenes unabhängiges Sprachmodul