Bei der Lektüre von Kleists Novelle „Der Findling“ fällt auf, dass bezüglich des katastrophalen Handlungsverlaufs unter anderem die Missverständnisse eine große Rolle spielen. So entsteht das entscheidende Missverständnis dadurch, dass Nicolo glaubt, Elvire habe ihn bei Piachi verraten. Seine Rache führt somit zur Katastrophe. Bei Missverständnissen kann man keinen Schuldigen ausmachen, es ist ein „Kommunikationsunfall“, an dem keiner die Schuld trägt.
Doch kann man beim „Findling“ von Missverständnissen sprechen? Ist Nicolo aufgrund der spärlichen Kommunikation in der Familie Piachi überhaupt ein Missverstehender oder trägt er durch die nicht vorhandene Kommunikation nur passiv die Schuld am katastrophalen Ende? Ist Nicolo möglicherweise nicht in dem Maße schuldig, wie er auf den ersten Eindruck scheint?
Dieser Frage nach der Kommunikation innerhalb der Familie Piachi soll in dieser Hausarbeit nachgegangen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kommunikation Aufschluss darüber geben kann, inwiefern die Schuldfrage mit dieser Kommunikation innerhalb der Familie zusammenhängen kann. Hierzu führt zunächst ein kurzer Forschungseinblick in die Thematik der Schuldfrage ein, worauf im Anschluss eine Darstellung der besonderen Familiensituation folgt, die für die spätere Untersuchung grundlegend ist.
Im Hinblick auf deren Kommunikation wird dann nicht nur das Gesprochene untersucht werden, sondern auch die Art und Weise des Gesprochenen, wozu Gestik, Mimik und vor allem die Blicke der Figuren zählen. Dabei wird es zunächst um die Kommunikation der Figuren Piachi und Elvire als Eheleute gehen. Danach wird deren Kommunikationsverhalten gegenüber Nicolo untersucht werden. Parallel dazu soll das Verhältnis der Kommunikation mit dem Umgang mit dem Geheimnis der Familie ausgearbeitet werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsausblick
3. Die künstliche Familie
4. Kommunikation und Geheimnis
4.1. Elvire und Piachi
4.2. Elvires und Piachis Kommunikationsverhalten gegenüber Nicolo
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
6.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung
In keiner der anderen Erzählungen wird so wenig gesprochen wie im ‚Findling‘.[1]
Wie schon Stefanie Marx festgestellt hat, ist die Kommunikation in der Familie Piachi, eine besondere. Marx bezeichnet den „charakteristischen Mangel an direkter Aussprache“ im „Findling“, neben der „ablehnenden Haltung des Findlings gegenüber dem für ihn von den Eltern entworfenen bürgerlichen Lebensplan“ und „den Unwägbarkeiten des Zufalls“, als den wichtigsten Faktor der zur Katastrophe führt.[2] Bei der Lektüre der Novelle fällt auf, dass bezüglich des katastrophalen Handlungsverlaufs unter anderem die Missverständnisse eine große Rolle spielen. So entsteht das entscheidende Missverständnis dadurch, dass Nicolo glaubt, Elvire habe ihn bei Piachi verraten. Durch „den Schimpf“ des Vaters, der ihn in der Öffentlichkeit bloßstellt, entwickelt er „einen brennenden Haß gegen Elvire[n]“ (237).[3] Seine Rache führt somit zur Katastrophe. Bei Missverständnissen kann man keinen Schuldigen ausmachen, es ist ein „Kommunikationsunfall“, an dem keiner die Schuld trägt. Doch kann man beim „Findling“ von Missverständnissen sprechen? Ist Nicolo aufgrund der spärlichen Kommunikation in der Familie Piachi überhaupt ein Missverstehender oder trägt er durch die nicht vorhandene Kommunikation nur passiv die Schuld am katastrophalen Ende? Ist Nicolo möglicherweise nicht in dem Maße schuldig, wie er auf den ersten Eindruck scheint?
Dieser Frage nach der Kommunikation innerhalb der Familie Piachi soll in dieser Hausarbeit nachgegangen werden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kommunikation Aufschluss darüber geben kann, inwiefern die Schuldfrage mit dieser Kommunikation innerhalb der Familie zusammenhängen kann. Hierzu führt zunächst ein kurzer Forschungseinblick in die Thematik der Schuldfrage ein, worauf im Anschluss eine Darstellung der besonderen Familiensituation folgt, die für die spätere Untersuchung grundlegend ist. Im Hinblick auf deren Kommunikation wird dann nicht nur das Gesprochene untersucht werden, sondern auch die Art und Weise des Gesprochenen, wozu Gestik, Mimik und vor allem die Blicke der Figuren zählen. Dabei wird es zunächst um die Kommunikation der Figuren Piachi und Elvire als Eheleute gehen. Danach wird deren Kommunikationsverhalten gegenüber Nicolo untersucht werden. Parallel dazu soll das Verhältnis der Kommunikation mit dem Umgang mit dem Geheimnis der Familie ausgearbeitet werden. Ebenso wird das Verhältnis zur Sexualität der einzelnen Figuren und die damit verbundene Schlüsselmetaphorik in Ansätzen betrachtet.
2. Forschungsausblick
Die Forschung beschäftigte sich lange Zeit mit der Schuldfrage, die sich dem Leser bei der Lektüre des „Findling“ aufdrängt. Becher Cadwell wirft der älteren Forschung „die Identifikation mit dem Erzähler“ vor, da dieser „den Standpunkt Piachis übernehme“.[4] Tatsächlich beschreibt Göttler die, bis in die 1980er Jahre, vorherrschende Haltung der Forschung wie folgt zusammen:
Von ihrer ersten Begegnung an verstellt sich Nicolo Piachi gegenüber und intendiert als Intrigant die Vernichtung der Familie. Keine seiner Handlungen ist aufrichtig gemeint. Damit findet die Unbegrifflichkeit und Bizarrität seines Verhaltens eine souveräne Lösung: alle Handlungen waren Täuschung und Verstellung.[5]
Kunz bezeichnet Nicolo als „die Erscheinung des Bösen“ und auch Nedde vertritt einen ähnlichen Standpunkt indem er Nicolo als „das schlechthin Böse, Dämonische“ bezeichnet, „das sich dem Guten – umwendend – entgegenstellt“.[6] Doch lässt sich die Schuldfrage tatsächlich so einfach beantworten? Oder wird man vom Erzähler schlichtweg zu dieser Annahme verleitet?
Erst Schröder spricht sich 1985 in seiner Arbeit „Kleists Novelle ‚Der Findling’. Ein Plädoyer für Nicolo“ für diesen aus und stellt die, bisher eindeutige, Schuldzuweisung an Nicolo in Frage.[7] Sicherlich geht es Schröder nicht darum, Nicolo völlig von Schuld frei zu sprechen, es gilt jedoch die Umstände seiner boshaften Taten genauer zu beleuchten.
Hierbei spielt vor allem die Familienstruktur eine Rolle, die sich auch im Umgang der Figuren miteinander, aber vor allem in deren Kommunikation, äußert. Rieger bemerkt, dass es den Eheleuten Piachi „an interfigürlicher Kommunikation und Sensitivität“ fehle und Schröder bezeichnet die Familie Piachi als eine „rätselhafte“ und „extrem kommunikationsgestört[e]“ Familie.[8] Dieses familiäre System gilt es in Hinblick auf deren Kommunikation zu untersuchen.
3. Die künstliche Familie
Auffällig ist, dass (außer Piachi) alle Familienmitglieder der Familie Stellvertreter sind. Direkt nachdem Piachi auf den leeren Platz neben sich blickt, auf dem zuvor sein leiblicher Sohn Paolo gesessen hatte (230), beschließt er, Nicolo mitzunehmen. Und auch die Beschreibung, dass Piachi Nicolo „in dem Maße lieb gewonnen [hatte], als er ihm teuer zu stehen gekommen war“ (231), erweckt den Eindruck, dass Nicolo nur den Platz des verstorbenen Sohnes Paolo einnimmt. Auch Elvire nimmt eine Position ein, die zuvor von Piachis erster Frau besetzt war. Rieger bezeichnet diese zweite Ehe jedoch als „Scheinehe“, da die Figuren nicht miteinander kommunizieren, kein Geschlechtsverkehr stattfindet und da Elvire direkt nach der Eheschließung an einem hitzigen Fieber erkrankt.[9] Rieger bezeichnet die Familie Piachi weiterhin als „künstliche Familie“, da Piachi als einziger die „natürliche Restfamilie“ darstellt.[10] Aber auch Piachi ersetzt Nicolo seine Eltern und Elvire den Mann. Da Elvire jedoch weiterhin um ihren verstorbenen Colino trauert und immer noch emotional an ihn gebunden ist, stellt diese bereits angedeutete „Scheinehe“ nur eine Ehe auf gesellschaftlicher Ebene dar. Keine der drei Figuren wird derartig in die Position des Vorgängers gedrängt, wie Nicolo: Er schläft in Paolos Zimmer und bekommt „seine sämtliche[n] Kleider“ (231). Er wird in eine vorgefertigte Familiensituation aufgenommen, die sich nicht zusammen mit ihm im Laufe der Zeit entwickelt hat, sondern die schon vorher bestand und die ihn in eine Position bringt, die nicht seine natürliche Position ist.
4. Kommunikation und Geheimnis
4.1. Elvire und Piachi
Elvire wird in der Novelle als positiver Charakter beschrieben (z.B. 231, „trefflichen Gemahlin“), aber dennoch wird bemerkt, dass sie „einen stillen Zug“ hat (232), welcher im Text auf ihr Kindheitstrauma zurückgeführt wird. Und tatsächlich kann sie sich, wenn sie an den verstorbenen Colino zurückerinnert wird, nicht anders beruhigen, als dass sie „still für sich, in der Einsamkeit ihren Schmerz“ ausweint (234). Auch hat sie „solange sie lebte [niemals] ein Wort, jene Begebenheit betreffend“ (234) geäußert. Möglicherweise ist der Grund für dieses Nicht-Ansprechen die Verdrängung von Colinos Tod. In ihren Vorstellungen und ihrer Traumwelt ist er immer noch präsent. In der Realität, in der Colino tot ist, darf dieser Fakt jedoch nicht angesprochen werden. Auch Heutger hat festgestellt, dass Elvire „in ihrer eigenen Welt lebt“, während sie in der realen Welt „nur noch Gast“ zu sein scheint.[11] Was jedoch eindeutig ist, ist dass das Erlebnis an ihr Sprechen und an ihre (abhanden gekommene) Offenheit gekoppelt ist. Und Piachi, der von ihrem Geheimnis weiß, akzeptiert die Geheimhaltung als Voraussetzung für ihre Ehe. Er will „ihr schönes und empfindliches Gemüt“ nicht „auf das heftigste“ bewegen (234). Er scheut also die Konfrontation, was in späteren Beobachtungen Piachi betreffend noch thematisiert werden wird. Es kann also zusammenfassend gesagt werden, dass Elvire das Geheimnis in die Familie gebracht hat. Darum handelt es sich nicht einfach nur um ein Geheimnis unter Eheleuten, sondern um ein Geheimnis über das selbst die Eheleute untereinander nicht reden dürfen. Das Geheimnis betreffend, herrscht fast schon ein Sprechverbot innerhalb der Ehe.
Über die alltägliche Kommunikation zwischen Elvire und Piachi erfährt der Leser nicht allzu viel. Überraschend ist, dass Elvire Piachi nicht von dem Vorfall mit der Zofe Xavieras berichtet, wie es bei gemeinsam erziehenden Eltern zu erwarten wäre. Und selbst Nicolo geht davon aus, dass Elvire Piachi davon berichtet hat. Es scheint also keinen kommunikativen Austausch zwischen den Eheleuten zu geben. Doch es ist nicht nur das Nicht-Mitteilen, das Elvire auffällig erscheinen lässt: Sie scheint in manchen Situationen gar nicht des Sprechens fähig zu sein. Als Nicolo sie das erste Mal im Karnevalskostüm überrascht, ist ihre Zunge „starr vor Entsetzen“ und sie kann nicht sprechen (235). Und auch als Elvire Nicolo mit der Zofe erwischt, geht sie „ohne ein Wort zu sagen“ weg (236). Diese Sprachlosigkeit ist an Innerliches gekoppelt. Einmal ist es das Entsetzen, ein anderes Mal das Überrascht-Sein oder eben auch die Trauer, wenn sie an ihren Geliebten Colino erinnert wird. Es wirkt so, als könne sie sich nicht gegen die Auswirkungen ihrer Emotionen wehren. Sie ist nicht sprachlos, sie wird sprachlos gemacht.
Piachi hingegen schweigt bewusst. Er stimmt mit der Heirat mit Elvire zu, nicht über das Tabuthema Colino zu reden. Man könnte an dieser Stelle spekulieren, ob Piachi ebenso passiv sprachlos gemacht wird: Denn Elvire ist diejenige, die sein Schweigen voraussetzt, auch wenn sie das wohl nie offen angesprochen hat. Dennoch ist sie der Grund dafür, dass es im Hause Piachi ein Thema gibt über das nicht gesprochen wird. Ist also Elvire an Piachis mangelhafter Kommunikationsbereitschaft schuld? Und in der Tat kann man gegen Ende der Novelle einen derartigen Hinweis im Text finden: In der Szene, in der Piachi Nicolo erwischt, wie er sich gerade an Elvire vergehen will, wird erwähnt, dass ihn „einige Worte Elvirens“ sprachlos gemacht hatten (245). Schröder stellt die Frage danach, um was es sich bei diesen „einige[n] Worte[n]“ gehandelt haben könnte.[12] Auch Frank G. Ryder hat sich mit dieser Frage beschäftigt, jedoch können beide nur Vermutungen aufstellen.[13] Womöglich geht es Kleist auch gar nicht um den Inhalt der Worte, sondern nur um ihre Wirkung: Darum, dass sie Piachi sprachlos machen.
4.2. Elvires und Piachis Kommunikationsverhalten gegenüber Nicolo
Zu Beginn der Novelle scheint Nicolo in die kommunikationsschwache Familie zu passen. Auf der Reise von Ragusa nach Rom stellt der „Alte“ ihm „mehrere Fragen […], worauf jener aber nur kurz antwortete“ (231). Nicolo wird in diesem Zusammenhang außerdem als „ungesprächig und in sich gekehrt“ beschrieben (ebd.). Und auch der Umgang der Familie miteinander wirkt an diesem Anfang noch harmonisch: Piachi stellt Nicolo seiner Frau Elvire vor und erzählt ihr bei dieser Gelegenheit, was auf der Reise vorgefallen ist. Zwar wird es nur als „kurze Erzählung“ erwähnt, jedoch erscheint diese Situation als eine der wenigen, in denen interaktiv kommuniziert wird. Und auch Elvire verhält sich in dieser Situation das einzige Mal Nicolo gegenüber herzlich und offen.
Als Nicolo jedoch nicht mehr in Piachis Bild des funktionierenden (schweigenden) Sohnes passt, lässt die Kommunikationsbereitschaft nach. Diese Sprachlosigkeit Piachis ist nicht einfach nur eine vereinbarte Umgehung bestimmter Themen. Sie richtet sich auch aktiv gegen den Adoptivsohn Nicolo. In einigen Situationen scheint es, als wolle Piachi einer Auseinandersetzung mit dem Konflikt aus dem Weg gehen. So spricht er Nicolo auf den Vorfall mit der Zofe Xavieras nicht direkt an, sondern arrangiert eine öffentliche Demütigung, einen „Schimpf, den ihm der Alte vor allem Volk angetan hatte“ (237). Dieser „Schimpf“, diese Demütigung zeigt sich vor allem in der Art und Weise wie Nicolo bestraft wird: Bei dem Begräbnis seiner Frau Constanze, antwortet Piachi ihm auf seine Frage, „wen man herantrüge“ nur mit gesenktem Kopf „ohne das Haupt zu erheben“ (237). Es wirkt, als sei Nicolo nicht einmal würdig ihn anzusehen, während Piachi mit ihm spricht. Und auch beim weiteren Begräbnis Constanzes, verhalten sich die Anwesenden so, „als ob Nicolo gar nicht anwesend wäre“ (237). Dieses Ignorieren, diese gespielte Gleichgültigkeit, die man Nicolo entgegenbringt, ist auch eine Art von Gewalt. Zudem scheint es in dieser Situation, als ob Nicolo nicht zur Familie gehöre, als ob er gar keine Chance habe, dazuzugehören. Und auch nach diesem Vorfall straft Piachi Nicolo indem er „mehrere Tage lang […] kein Wort mit ihm“ spricht (237). Anders als Elvire setzt Piachi die Nicht-Kommunikation bewusst ein. Dieses Nicht-Sprechen wirkt weiterhin wie Ignorieren, wie ein Kontakt-Verweigern, als ob Nicolo gar nicht anwesend sei, als ob er nicht zur Familie gehöre. Hier stellt sich die Frage, ob Piachi Nicolo tatsächlich als seinen Adoptivsohn akzeptiert, ob er ihn zu seiner Familie zählt. Und auch Nicolo empfindet dieses Verhalten als einen „Widerstand, den man ihm entgegen setzte“ (237).
Besonders in der Situation, in der Piachi Nicolo erwischt, als er sich gerade an Elvire vergreifen will, reagiert Piachi außergewöhnlich. Er ist „geneigt, die Sache still abzumachen“ (245) und weist Nicolo ohne auch nur ein Wort zu sagen, den Weg aus seinem Haus. Selbst der Erzähler markiert diese Reaktion als unerwartet:
[…]sprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatten, die sich in seinen Armen umfaßt, mit einem entsetzlichen Blick, den sie auf den Elenden warf, erholt hatte, nahm er bloß indem er die Vorhänge des Bettes, auf welchem sie ruhte, zuzog, die Peitsche von der Wand, öffnete die Tür und zeigte ihm den Weg, den er unmittelbar wandern sollte. (245, 246)
An dieser Textstelle wird mit dem Wort „bloß“ deutlich, dass in solch einer Situation mehr als bloßes Zeigen als „normale“ Reaktion zu vermuten wäre. Hier unterscheidet sich Nicolo von seinem Adoptivvater Piachi: Nicolo findet Worte. Er findet die Worte, mit denen er Piachi vernichten kann.
[...] als er plötzlich vom Fußboden erstand und erklärte: an ihm, dem Alten, sei es, das Haus zu räumen, denn er durch vollgültige Dokumente eingesetzt, sei der Besitzer und werde sein Recht, gegen wen immer auf der Welt es sei, zu behaupten wissen! (246)
Der Ausdruck „zu behaupten wissen“ grenzt Nicolo von Piachi ab, denn Piachi ist nicht der Mann, der seinen Willen mit Worten durchsetzt. Auch als Piachi nach dieser Erklärung Nicolos zu „seinem alten Rechtsfreund, dem Doktor Valerio“ läuft, bricht er bei ihm angekommen „noch ehe er ein Wort hervorgebracht“ hat, „bewußtlos“ zusammen (246). Im Hinblick darauf, wirkt das Stopfen des Dekrets in Nicolos Mund, nachdem Piachi diesen umgebracht hat, verständlich (247): Es wirkt wie eine Bestrafung dafür, dass Nicolo seinen Mund gegen Piachi als Waffe eingesetzt hat. Möglicherweise bestraft Piachi ihn ebenso dafür, dass er sich durch sein Nicht-Schweigen, der Familie widersetzt hat und diese mit ihrer Scheinidylle zerstört hat.
Nicolo hingegen empfindet das Schweigen der Familie als unnatürlich. Vor allem als ihn der Vater durch sein bewusst eingesetztes Schweigen straft, entschuldigt er sich daraufhin bei ihm (237). Außerdem hat Nicolo das Bedürfnis sich mitzuteilen, denn nachdem er Elvire durch das Schlüsselloch beobachtet hat, geht er zu Xaviera Tartini um ihr „die wunderbare Begebenheit“ zu erzählen (239).
Nicolo ist jedoch nicht der Einzige der Familie, der spricht: Elvire tut dies im Schutz ihres Zimmers, wenn sie zu ihrem toten Geliebten spricht. Ihr Zimmer ist aber auch der einzige Ort, in dem sie ihre Sexualität noch auslebt. Möglicherweise ist das Sprechen in der Novelle an die Sexualität geknüpft. Denn auch Nicolo vertraut sich der Person an, mit welcher er in sexueller Verbindung steht: Xaviera Tartini. Auch Elvires Schlüssel, der Zugang zu ihrem Zimmer und somit zu ihrer Sexualität und ihrem Sprechen, trägt sie an der Hüfte, welche, wie Rieger bemerkte, eine Metapher für Sexualität ist.[14] Nicolo, der ihr den Schlüssel von der Hüfte „riß“ (235), hat sich unerlaubt Zugang zu ihrer Sexualität verschafft. Obwohl er diesen Schlüssel nicht für ihr Zimmer verwendet, wird dennoch deutlich, dass er ihr diesen mit Gewalt entreißt. Auch die Notwendigkeit, dass Nicolo ihr den Schlüssel von der Hüfte reißen muss, kommt daher, dass Piachi Nicolos Zimmer verschlossen hat. Ist demnach möglicherweise die strenge Erziehung Piachis der Auslöser für das grausame Ende der Geschichte?
Betrachtet man die Schlüsselmetaphorik im Hinblick auf den Zugang zu Elvires Sexualität, so fällt auf, dass Piachi als ihr Ehemann einen Schlüssel besitzt, aber hinsichtlich der Sexualität keine „Gefahr“ mehr für sie darstellt, da sie „von dem Alten keine Kinder mehr zu erhalten hoffen konnte“ (231). Nicolo hingegen, dessen Sexualität frisch erwacht ist und von dem der Leser weiß, dass er einen „Hang für das weibliche Geschlecht“ (232) hat, kommt Elvire gegen Ende der Novelle gefährlich nahe. Da sie ihm keinen Zugang gewährt, verschafft er ihn sich gewaltsam, indem er in ihr Schlafzimmer eindringt und sie als Colino verkleidet überwältigt. Elvires Verschlossenheit Nicolo gegenüber zeigt sich vor allem in der Kommunikationslosigkeit. Nachdem sie Nicolo mit der Zofe erwischt hat, erwartet Nicolo „längst mit Sehnsucht“ die Abreise des Besuchs, damit er endlich mit ihr sprechen kann (241). Doch Elvire sitzt „während einer ganzen Stunde“ schweigend am Tisch und ist mit ihrer „weiblichen Arbeit beschäftigt“ (241). Und auch hier verschafft sich Nicolo gewaltsam Zugang zu ihrem Inneren. Dies geschieht zwar ohne gesprochene Worte, aber dennoch über ein Wort: Den Namen Colino, den Nicolo mit den „elfenbeinernen Buchstaben“ (241) legt. Er verschafft sich somit den Zugang zu ihrem Geheimnis, das gleichzeitig an ihre Sexualität und ihre Sprachlichkeit geknüpft ist. Doch letztere kann man nicht erzwingen und diese Sprachlichkeit verweigert Elvire ihm bis zum Ende der Erzählung. Vor allem durch die Blicke, die sie Nicolo zuwirft wird deutlich, wie sehr sie sich bewusst verschließt: Als sie ihn mit der Zofe erwischt, schlägt sie sofort „die Augen nieder“ (236). Nachdem er sie durchs Schlüsselloch beobachtet hat, wirft sie „aus der Ferne“ einen „ganz gleichgültigen und ruhigen Blick“ auf ihn (238). Ebenso widmet sie ihm nach dem Besuch beim Vetter „nur einen flüchtigen nichtsbedeutenden Blick“ (241). Und auch in der Szene, in der er sich an ihr vergehen will, wirft sie ihm, nachdem sie von ihrer Ohnmacht erwacht ist, einen „entsetzlichen Blick“ zu. Heutger vermutet hinter dieser „gespielte[n] Gleichgültigkeit“ nicht notwendigerweise eine „ins Bild passende Kaltblütigkeit“, sondern „eine gewisse Gewohnheit hinter diesem Verhalten“.[15] Nur wenn es um Colino geht, zeigt Elvire Ausdruck und Empfindung: Vor dem Gemälde liegt sie „in der Stellung der Verzückung“ (238) und als sie die Buchstaben sieht, die den Namen Colino bilden, sieht sie darauf „mit einem sonderbar beklommenen Blick“ (242).
Möglicherweise meidet sie Nicolo bewusst um zu verhindern, dass er ein sexuelles Interesse an ihr bekommt. Die Umstände, dass Nicolo und Elvire keinen unnatürlich großen Altersunterschied haben und zudem nicht blutsverwandt sind, lassen diese Vermutung nicht unwahrscheinlich wirken. Auch Dietzfelbinger hat bemerkt, dass „das Blut […] die Basis für das natürliche, instikthafte, unbewußte Leben“ ist, durch das „die Ordnung dieser Gemeinschaft“ geregelt wird.[16] Womöglich kann eine „künstliche“ Familie, wie sie in dieser Novelle vorkommt, nur dadurch existieren, dass die Sexualität verdrängt wird. Doch Elvires Kommunikationslosigkeit und Gleichgültigkeit sind nicht ihr einziges Verschulden. Heutger bemerkt, dass Elvire in folgender Textstelle zum ersten Mal „die Gefahr bewusst geworden [ist] welche ihre Wortkargheit birgt“:[17]
Als sie schon Nicolos Antlitz, der in scheinbarer Gleichgültigkeit darauf niedersah, mit einem sonderbar beklommenen Blick überflog, ihre Arbeit, mit einer Wehmut, die man nicht beschreiben kann, wieder aufnahm, und, unbemerkt wie sie sich glaubte, eine Träne nach der anderen, unter sanftem Erröten, auf ihren Schoß fallen ließ. (242)
Heutger stellt fest, dass Elvire wahrnimmt, dass ihr Verhalten zu einer „Fehlinterpretaion“ führen kann, diese aber nicht verhindert, sondern die Gefahr ignoriert.[18] Statt Nicolo „zur Rede zu stellen […] verharrt sie in dem für sie üblichen Schweigen“.[19] Aufgrund dieses Verhaltens spricht sich Heutger für eine Teilschuld Elvires aus und auch Gönner schreibt ihr diese aufgrund „ihrer Passivität“ zu.[20]
5. Schluss
Betrachtet man die gewonnenen Erkenntnisse, so fällt auf, dass vor allem hinsichtlich der Kommunikation Nicolo der Leidtragende ist: Der Vater straft ihn, indem er nicht mehr mit ihm redet, die Mutter strahlt ihm gegenüber Gleichgültigkeit aus und ist auch sonst sehr verschwiegen. Zudem haben die Eheleute ein Geheimnis, das sie vor ihrem Adoptivsohn geheim halten. Und selbst untereinander dürfen Elvire und Piachi dieses Geheimnis nicht ansprechen. Der Vater hält diese Schweigebedingung ein um den Konflikt mit seiner Frau zu umgehen. Und auch Konflikte mit seinem Adoptivsohn spricht er nicht offen an, sondern straft ihn in aller Öffentlichkeit, ohne ihm zuvor die Möglichkeit zu geben sich zu entschuldigen. Ebenso wird Nicolo bewusst durch Ignorieren bestraft, was wie ein Ausschluss aus der Familie wirkt. Auch Elvire macht sich zumindest teilschuldig, da sie trotz der Andeutung Nicolos, dass er vom Geheimnis weiß, die Situation nicht aufklärt, sondern die Gefahr eines Missverständnisses bestehen lässt. Insgesamt scheint es, als sei Nicolo der Leidtragende, dem Unrecht geschieht.
In Bezug auf die anfangs gestellte Schuldfrage, lässt sich nach den genannten Erkenntnissen bemerken, dass Elvire und Piachi ebenfalls Schuld an dem katastrophalen Handlungsverlauf haben. Vor allem die verweigerte Kommunikation Piachis, die er als Strafe für Nicolo einsetzt, lässt eine Form von Gewalt vermuten, auf die Nicolo ebenfalls mit Gewalt an Elvire reagiert. Die Schuldfrage im „Findling“ lässt sich vermutlich nicht eindeutig beantworten, jedoch wurde in dieser Hausarbeit festgestellt, dass die Kommunikation einen aufschlussreichen Faktor zur Beantwortung der Frage darstellt. Es könnte weiterhin untersucht werden, inwiefern die Kommunikation an die anderen Faktoren des Handlungsverlaufs geknüpft sind. Hierzu könnte man beispielsweise die Beziehung zwischen Zufall und Missverständnis untersuchen. Jedenfalls wirft die Untersuchung der Familienkommunikation ein neues Licht auf die Schuldfrage.
6. Literaturverzeichnis
6.1. Primärliteratur
Kleist, Heinrich von (2007): Sämtliche Erzählungen und andere Prosa. Stuttgart: Reclam.
6.2. Sekundärliteratur
Becher Cadwell, Cornelia (1991): Generation und Genre. Ein Beitrag zur Novelle des 19. Jahrhunderts. Erlangen: Palm und Enke.
[...]
[1] Marx, Stefanie (1994): Beispiele des Beispiellosen: Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral. Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 88.
[2] Ebd.
[3] Im Folgenden wird der Primärtext ausschließlich mit Seitenzahlen zitiert.
[4] Becher Cadwell, Cornelia (1991): Generation und Genre. Ein Beitrag zur Novelle des 19. Jahrhunderts. Erlangen: Palm und Enke, S. 62.
[5] Göttler, Fritz (1983): Handlungssysteme in Heinrich von Kleists ‚Der Findling‘: Diskussion und Anwendung narrativer Kategorien und Analyseverfahren. Frankfurt am Main / Bern: Lang, S. 28.
[6] Kunz, Josef (1962): Heinrich von Kleists Novelle ‚Der Findling’. Eine Interpretation. In: Festschrift für Ludwig Wolff. Neumünster. S. 337—355, S. 341. Nedde, Dietmar (1955): Untersuchung zur Struktur von Dichtung an Novellen Heinrich von Kleists. Dissertation. Göttingen, S. 72.
[7] Schröder, Jürgen (1985): „ Kleists Novelle ‚Der Findling‘. Ein Plädoyer für Nicolo“, in: Kreutzer, Hans Joachim (ed.): Kleist Jahrbuch 1985. Berlin: Erich Schmidt, S. 109−127.
[8] Rieger, Bernhard (1985): Geschlechterrollen und Familienstrukturen in den Erzählungen Heinrich von Kleists. Frankfurt am Main: Lang, S. 202. Schröder, Jürgen: Kleists Novelle ‚Der Findling’, S. 114.
[9] Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen, S. 201 f.
[10] Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen, S. 202.
[11] Heutger, Ulrike Stefanie (2003): Gewalt in ausgewählten Erzählungen Heinrich von Kleists. Ihre Funktion und Darstellung. Stuttgart: Ibidem, S. 92.
[12] Schröder, Jürgen: Kleists Novelle ‚Der Findling’, S. 113.
[13] Ryder, Frank G. (1977): Kleist’s Findling: Oedipus manqué? In: MLN 92, S. 509—524, S. 516.
[14] Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen, S. 76.
[15] Heutger, Ulrike Stefanie : Gewalt in ausgewählten Erzählungen, S. 91.
[16] Dietzfelbinger, Konrad (1979): Familie bei Kleist. Dissertation. München., S. 196.
[17] Heutger, Ulrike Stefanie : Gewalt in ausgewählten Erzählungen, S. 96.
[18] Ebd.
[19] Heutger, Ulrike Stefanie : Gewalt in ausgewählten Erzählungen, S. 97.
[20] Ebd.Gönner, Gerhard (1989): Von ‚zerspalteten Herzen’ und der ‚gebrechlichen Einrichtung der Welt’: Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist. Stuttgart: Metzler, S. 235.