Der Videobeweis. Fluch oder Segen für den Fußball-Schiedsrichter?
Analyse am Rechtsfall "Phantomtor von Stefan Kießling"
Zusammenfassung
Selbst Jahre nach dem Finalspiel blieb ungeklärt, ob der Ball die Linie passiert hat, da die Fernsehaufnahmen die genaue Situation auch im Nachhinein nicht aufdecken konnten. Durch wissenschaftliche Experimente und Studien wurden im Mai 2006 Erkenntnisse veröffentlicht, die beweisen, dass das Tor nicht hätte gegeben werden dürfen.
Dieses historische Ereignis gilt als Ursprung der Diskussionen um technische Hilfsmittel im Fußballsport. Die Kritik an den Schiedsrichtern nahm in den Folgejahren enorm zu. Moderne Technologien – so wurde postuliert – könnten ihre Arbeit unterstützen. Doch der Weltverband FIFA ließ bislang den Videobeweis im Fußball nicht zu, diskutierte stattdessen über einen Computerchip im Ball, mit dem dessen lokale Daten genau bestimmbar wären. Obwohl technische Hilfsmittel seit 2007 vom Weltverband in kleineren Turnieren getestet wurden, hat man sich bisher nicht zu ihrem offiziellen Einsatz durchringen können.
In den diesbezüglichen Diskussionen stand zumeist der Disput zwischen Technik und Natur, Perfektionismus und Menschlichkeit, Modernität und Tradition im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. FIFA-Präsident Joseph Blatter spricht sich nach wie vor gegen die Technologie und für die Autorität der Schiedsrichter aus. Er will „das menschliche Gesicht [des Fußballs] wahren“. Trotzdem hat sich der Fußballweltverband entschlossen bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien eine Torlinientechnik anzuwenden. Wie ist das Verhältnis des Schiedsrichters zu solcher Technik? Ist der Videobeweis eher Fluch oder Segen für ihn?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Recht im Fußball
2.1 Der Schiedsrichter als personifiziertes Recht im Fußball
3. Rechtsfall: Das Phantomtor vom
4. Der Videobeweis als Kontrolle und Unterstützung des Schiedsrichters
5. Fazit
Anhang:
Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Juli 1966, Fußball-WM-Finale: Geoff Hurst, Stürmer der englischen Nationalmannschaft, nimmt den Ball im gegnerischen Strafraum an und befördert diesen mit einem gewaltigen Volleyschuss an die Unterlatte des Tores. Von dort aus springt das Spielgerät wieder auf den Rasen. Für den Zuschauer ist nicht erkennbar, ob er mit vollem Umfang hinter der weißen Linie landet, ehe der deutsche Verteidiger Wolfgang Weber die Gefahrensituation klärt. Während die englischen Kicker ein Tor fordern, bespricht sich der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst mit seinem sowjetischen Linienrichter, der anhand der Reaktionen der Spieler für ein Tor plädiert, und erkennt den Treffer an. Durch diesen spielentscheidenden und spektakulären Entschluss wird die Fußball-Nation England Weltmeister.
Selbst Jahre nach dem Finalspiel blieb ungeklärt, ob der Ball die Linie passiert hat, da die Fernsehaufnahmen die genaue Situation auch im Nachhinein nicht aufdecken konnten. Durch wissenschaftliche Experimente und Studien wurden im Mai 2006 Erkenntnisse veröffentlicht, die beweisen, dass das Tor nicht hätte gegeben werden dürfen.1 Dieses historische Ereignis gilt als Ursprung der Diskussionen um technische Hilfsmittel im Fußballsport. Die Kritik an den Schiedsrichtern nahm in den Folgejahren enorm zu. Moderne Technologien - so wurde postuliert - könnten ihre Arbeit unterstützen. Doch der Weltverband FIFA ließ bislang den Videobeweis im Fußball nicht zu, diskutierte stattdessen über einen Computerchip im Ball, mit dem dessen lokale Daten genau bestimmbar wären. Obwohl technische Hilfsmittel seit 2007 vom Weltverband in kleineren Turnieren getestet wurden, hat man sich bisher nicht zu ihrem offiziellen Einsatz durchringen können.
In den diesbezüglichen Diskussionen stand zumeist der Disput zwischen Technik und Natur, Perfektionismus und Menschlichkeit, Modernität und Tradition im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. FIFA-Präsident Joseph Blatter spricht sich nach wie vor gegen die Technologie und für die Autorität der Schiedsrichter aus. Er will „das menschliche Gesicht [des Fußballs] wahren“2. Trotzdem hat sich der Fußballweltverband entschlossen bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien eine Torlinientechnik anzuwenden. Wie ist das Verhältnis des Schiedsrichters zu solcher Technik? Ist der Videobeweis eher Fluch oder Segen für ihn?
2. Das Recht im Fußball
Fußball ist in unserem Land die wohl populärste Sportart. Jahrzehntelang galt die allgemeine Auffassung, dass die „schönste Nebensache der Welt“ besser dem Zugriff der Juristen entzogen sein sollte. Doch mit wachsender Kommerzialisierung und Professionalisierung - verbunden mit der großen Medienpräsenz - ist der Sport der interessierten Öffentlichkeit so transparent geworden, dass diese in jeglichen Situationen nach Gerechtigkeit schreit.3
Damit auch im Sport die Grundsätze für die Beteiligten und Zuschauer greifbar sind, hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) für die Deutsche Fußball-Liga (DFL) eine Rechts- und Verfahrensordnung erarbeitet. Zudem finden die Spiele unter dem Statut des Regelwerks des DFBs statt, das beispielsweise festlegt wann ein Tor für eine Mannschaft zählt oder wie ein Foul geahndet werden muss. Weil das Recht nur auf bundesweiter Ebene gilt, kann es durch andere Rechtsbereiche wie den europäischen Verband UEFA oder die FIFA eingeschränkt werden. Das zentrale Kennzeichen ist hier, wie auch generell im Sportrecht ein System der Selbstregulierung mit einem sogenannten „Ein-Platz-Prinzip“4. Für den Fachverband Fußball ist demzufolge national sowie international nur ein Spitzenverband verantwortlich, der eine räumlich-fachliche Monopolstellung besitzt. Diese wird oft von den Fans kritisiert, generiert aber eine klare Weisungsgebundenheit im Fußball.
Da später ein Rechtsfall aus der Bundesliga hinzugezogen werden soll, ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur das vom DFB ausgearbeitete Sportrecht relevant, in welches die Regeln der überstehenden Instanzen bereits eingearbeitet wurden und zu dessen Leitideen man Integrität, Loyalität, Solidarität und Fairness erklärte. Sportliche Vergehen werden „mit den in § 44 der Satzung des DFB aufgeführten Strafen geahndet“ und können nicht nur Spieler, sondern alle Beteiligten wie Trainer, Schiedsrichter, Funktionäre und Einzelmitglieder betreffen5.
Die Schiedsrichter gelten im Spiel als oberste Instanz, können von den Vereinen allerdings nachträglich auch belangt werden. Ist ein Verein nicht zufrieden mit einer Schiedsrichterentscheidung, kann sich dieser an das Sportgericht wenden, das zusammen mit dem Bundesgericht und dem Kontrollausschluss die Rechtsorgane des deutschen Fußballs bildet. Das Sportgericht maßregelt alle Verstöße gegen das Sportrecht, indem es die internen Geschehen durch beispielsweise Spielsperren bestraft und trägt damit erheblich zur Staatsentlastung bei.
Dennoch steht der Sport nicht jenseits der elementaren Grundentscheidungen des staatlichen (insbesondere Verfassungs-)Rechts, denn ein gewisses Maß an externer staatlicher Kontrolle ist unverzichtbar wie auch die Frage „ob und inwieweit verbandsgerichtliche Beschlüsse nach Abschluss des verbandsinternen Verfahrens einer nachgeschalteten Kontrolle durch die staatliche Gerichtsbarkeit unterliegen.6 So bewältigt der Staat seine übergeordnete Aufgabe des Schutzes der Menschen auch im Sport. Klaus Vieweig, der eine Arbeit zur Faszination des Sportrechts verfasst hat, konstatiert in diesem Zusammenhang eine Zweispurigkeit, welche folgende Normenkomplexe umfasst: das privatautonom gesetzte Verbandsrecht der Sportorganisationen und das in allgemeingültige Rechtsnormen gesetzte staatliche und überstaatliche Recht.6
Der Aufbau des DFB-Sportgerichts, welches zuständig für Strafverfahren der deutschen Ligen ist, gleicht dem eines staatlichen Gerichtes und wird durch einen Einzelrichter entschieden.7 Dieses Amt wird zum jetzigen Zeitpunkt durch den Vorsitzenden Hans E. Lorenz ausgeführt. Zudem sind sowohl Verteidiger als auch ein Kontrollausschluss (vergleichbar der Staatsanwaltschaft) vorhanden. Dem Sportstaatsanwalt steht ein ähnliches Instrumentarium wie im staatlichen Strafverfahren zur Verfügung: Er vernimmt Zeugen, ermittelt durch schriftliche Anfrage, wertet die Ermittlungsergebnisse aus, klagt an, plädiert in der mündlichen Verhandlung, erklärt Rechtsmittelverzicht, legt Rechtsmittel ein und stellt Verfahren ein (mit und ohne Auflagen).8
Das Gericht legt bei Unsportlichkeiten das genaue Strafmaß fest und nachdem die beteiligten Vereine dieses akzeptiert haben, wird schriftlich ein endgültiges Urteil verfasst. Geht ein Verein in Revision, wird vor dem DFB-Bundesgericht verhandelt. Der größte Unterschied zu einem staatlichen Gericht ist der Prozess selbst, da nur 20% dieser mündlich verhandelt werden. Oft ordnen die Sportrichter nur intern und allein beispielsweise rote Karten dem Rechtssystem zu. Es wird dann über die Schwere des Vergehens und die daraus resultierende Spielsperre entschieden. Dazu ist eine mündliche Verhandlung nicht notwendig.
Eine weitere Gemeinsamkeit zum staatlichen Recht ist die institutionelle Absicherung der Unabhängigkeit der Rechtssprechung als Trennung der Rechtssprechungstätigkeit von den sonstigen Verwaltungsaufgaben des Fußball-Bundes - also eine Gewaltenteilung.9 Zudem werden Erfahrungen aus gewonnenen Erkenntnissen in spezifizierte Neuregelungen umgesetzt. Im staatlichen Recht ist beispielsweise das Internet als neues Phänomen in die Rechtsbücher eingegangen. Ein Beispiel im Fußball wären die im April 2005 erlassenen Vorschriften des Wettverbots für Sportbeteiligte oder vorgeschobene Dritte in Bezug auf Spiele ihrer Mannschaften.10 Dies ist eine Reaktion auf den Wettskandal um Schiedsrichter Robert Hoyzer aus demselben Jahr, der sich ebenfalls vor dem Gericht des DFB verantworten musste.
Während der Sportrichter als Pendant des staatlichen Richters begriffen werden kann, ist der Schiedsrichter zugleich der verlängerte Arm von diesem. Er bringt das Rechtssystem schon in das Spiel, ohne dass es im Nachhinein noch gerichtet werden muss. So ist auch der Schiedsrichter eine Parallele des staatlichen Richters.
2.1 Der Schiedsrichter als personifiziertes Recht im Fußball
„ Was bringt es für ein paar Lire sein Leben auf das Spiel zu setzen? Mit dem einzigen Ruhm den eigenen Namen, häufig auch noch verunstaltet, hinter den Mannschaftsaufstellungen in irgendeiner Lokalzeitung geschrieben zu sehen? “ 11
- Darwin Pastorin, ital. Journalist und Autor -
Bereits in Homers „Ilias“ findet sich eine Figur, deren Aufgabe mit der des heutigen Schiedsrichters vergleichbar ist: Ihr oblag es, bei einem Wettstreit für die Einhaltung der Regeln zu sorgen.11 Ihr ursprünglicher Auftrag war die Überwachung der Gesetze. Dass der Schiedsrichter jedoch später selbst entscheiden sollte, was mit denen geschieht, die sich nicht an diese halten, ist eine Ergänzung der Frühen Neuzeit.
Der Schiedsrichter wird durch das Recht zu dem, was er ist. Er handelt nach jenem und bringt ein Stück seiner Persönlichkeit in die Entscheidungen, indem er wie ein Richter die Grauzonen des Rechts für sich selbst auslegt. So haben manche Schiedsrichter den Ruf hart zu urteilen, andere wiederum würden nur selten gelbe oder rote Karten verteilen. Sie bewegen sich eben nur als Mensch innerhalb des Rechts.
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1 Reid, Ian und Zisserman, Andrew: „Goal-directed video metrology“. In: „Proceedings of the 4th European Conference on Computer Vision, LNCS 1065, Cambridge 1996, Band II, S. 647-658.
2 „Regelhüter der FIFA lehnen Chip-Ball ab“, 08.03.2008. Auf: http://www.focus.de/sport/fussball/fussball- fifa-regelhueter-der-fifa-lehnen-chip-ball-ab_aid_273161.html, 05.03.2014, 13:13 Uhr.
3 Vieweg, Prof. Dr. Klaus: „Faszination Sportrecht“. Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen 2010, S. 3. Im Folgenden: „Faszination Sportrecht“.
4 „Faszination Sportrecht“, S. 4.
5 „Rechts- und Verfahrensordnung des DFB“, S.3. Auf: http://www.dfb.de/uploads/media/rechtundverfahren.pdf. Im folgenden: „Rechts- und Verfahrensordnung des DFB“.
6 „Faszination Sportrecht“, S. 17.
7 „Rechts- und Verfahrensordnung des DFB“, S.13.
8 Hilpert, Horst: „Das Fußballstrafrecht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). De Gruyter Recht, Berlin 2009, S. 18. Im Folgenden: „Das Fußballstrafrecht des DFB“.
9 „Das Fußballstrafrecht des DFB“, S. 23.
10 „Rechts- und Verfahrensordnung des DFB“, S.12.
11 hr2 Kultur: „Schiris, Schlichter, Friedensrichter - Lob des Pfeifenmannes“. 20.06.2008. Im Folgenden: Beitrag hr2 Kultur.