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Zwischen Staatlichkeit und gescheiterten Strukturen. Ist der IS tatsächlich ein Staat?

Das Wesen des „Islamischen Staates“

©2015 Hausarbeit 36 Seiten

Zusammenfassung

Diese Hausarbeit untersucht das Wesen des „Islamischen Staates“.

Ausgehend von der Entstehungsgeschichte über die Frage: „Ist die Organisation „Islamischer Staat“ tatsächlich ein Staat?" (untersucht anhand der Drei-Element-Lehre von Jellinek) und die anschließende Einordnung als ein möglicher Proto-Staat bis hin zu der Neudefinition als Proto-Failed State werden die Merkmale dieser Organisation klar bestimmt und hinsichtlich eines Lösungsansatzes angewandt.

Im Anschluss an die Pariser Terrorangriffe des 16. Novembers 2015 verkündete der französische Präsident François Hollande: „La France est en guerre.“ Bezug nahm er dabei auf keinen anerkannten Staat, sondern auf die für die Anschläge verantwortliche Organisation „Islamischer Staat“ (IS). Worte, die vielleicht nur im Sinne einer martialischen Rhetorik gewählt wurden, aber aus völkerrechtlicher Perspektive weit mehr bedeuten: die Anhebung des IS zu einem Staat. Eine solche Aussage bestimmt selbstverständlich nicht, ob es sich bei dem IS tatsächlich um einen Staat handelt oder nicht, rückt aber die Frage nach dessen Staatscharakter in den Mittelpunkt.

Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist dementsprechend die Organisation „Islamischer Staat“ und das Wesens dieser Organisation. Die im Namen getragene Selbstproklamation als „Staat“ ist dabei Ausdruck einer Ausrichtung, die einer genauen Untersuchung bedarf. Der IS fordert unser Denken über Staatlichkeit heraus und stellt die Frage ob der IS tatsächlich ein Staat sein kann, „nur“ eine Terrororganisation darstellt oder doch eine andere Form annimmt.

Die Bestimmung des Umfangs der Staatsqualität des IS ist von weitreichender Bedeutung. Das Wesen dieser Organisation dient als Grundlage, um zukünftige Ziele zu erkennen, eine mögliche Entwicklung aufzuzeichnen und die Gegenmaßnahmen dieser anzupassen. Darüber hinaus bildet eine solche Staatsqualität die Basis für eine mögliche Anerkennung des IS als Staat. Resultat wären weitgehende Rechtsfolgen im Sinne des Völkerrechts.

Ziel dieser Analyse ist es den tatsächlichen Entwicklungsstand der Strukturen des „Islamischen Staats“ einzuordnen und klar zu bestimmen, um den Umgang mit dem IS an seinem Wesen ausrichten zu können. In der Regel als Terrororganisation bezeichnet, werde ich den IS im Rahmen dieser Arbeit als Organisation oder bei seinem selbstgewählten Namen „Islamischen Staats“ (IS) benennen, solange die tatsächliche Form der Organisation nicht hinreichend geklärt ist.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Entstehungsgeschichte des „Islamischen Staates“
2.1. Das Kalifat des „Islamischen Staates“
2.2. Relevanz für die heutige Organisation des „Islamischen Staates“

3. Ist die Organisation „Islamischer Staat“ tatsächlich ein Staat?
3.1. Die Drei-Elemente-Lehre nach Jellinek
3.2. Das Staatsvolk
3.3. Das Staatsgebiet
3.4. Die Staatsgewalt

4. Der „Islamische Staat“ auf dem Weg zur Staatlichkeit?
4.1. Der IS als Proto-Staat

5. Der „Islamische Staat“ als Proto-Failed State
5.1. Soziale Indikatoren
5.2. Wirtschaftliche Indikatoren
5.3. Politische und militärische Indikatoren

6.Fazit
6.1. Der IS als Proto-Failing State

1. Einleitung

Im Anschluss an die Pariser Terrorangriffe des 16. Novembers 2015 verkündete der französische Präsident François Hollande: „La France est en guerre.“[1] Bezug nahm er dabei auf keinen anerkannten Staat, sondern auf die für die Anschläge verantwortliche Organisation „Islamischer Staat“ (IS). Worte, die vielleicht nur im Sinne einer martialischen Rhetorik gewählt wurden, aber aus völkerrechtlicher Perspektive weit mehr bedeuten: die Anhebung des IS zu einem Staat. Eine solche Aussage bestimmt selbstverständlich nicht, ob es sich bei dem IS tatsächlich um einen Staat handelt oder nicht, rückt aber die Frage nach dessen Staatscharakter in den Mittelpunkt.

Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist dementsprechend die Organisation „Islamischer Staat“ und das Wesens dieser Organisation. Die im Namen getragene Selbstproklamation als „Staat“ ist dabei Ausdruck einer Ausrichtung, die einer genauen Untersuchung bedarf. Der IS fordert unser Denken über Staatlichkeit heraus und stellt die Frage ob der IS tatsächlich ein Staat sein kann, „nur“ eine Terrororganisation darstellt oder doch eine andere Form annimmt. Die Bestimmung des Umfangs der Staatsqualität des IS ist von weitreichender Bedeutung. Das Wesen dieser Organisation dient als Grundlage, um zukünftige Ziele zu erkennen, eine mögliche Entwicklung aufzuzeichnen und die Gegenmaßnahmen dieser anzupassen. Darüber hinaus bildet eine solche Staatsqualität die Basis für eine mögliche Anerkennung des IS als Staat. Resultat wären weitgehende Rechtsfolgen im Sinne des Völkerrechts.[2] Ziel dieser Analyse ist es den tatsächlichen Entwicklungsstand der Strukturen des „Islamischen Staats“ einzuordnen und klar zu bestimmen, um den Umgang mit dem IS an seinem Wesen ausrichten zu können. In der Regel als Terrororganisation bezeichnet, werde ich den IS im Rahmen dieser Arbeit als Organisation oder bei seinem selbstgewählten Namen „Islamischen Staats“ (IS) benennen, solange die tatsächliche Form der Organisation nicht hinreichend geklärt ist.

2. Die Entstehungsgeschichte des „Islamischen Staates“

Der Frage nach der Staatsqualität und nach dem Wesen der Organisation des IS liegt deren Entstehungsgeschichte zu Grunde. Die Betrachtung dieser Geschichte ist zentral, um den Ausgangspunkt für die heutigen Strukturen und damit die Verbindung zwischen den Werten und Zielen und dem Aufbau des IS zu verstehen. Eine Entwicklung gezeichnet von einem gewandelten Selbstverständnis, dessen Emanzipation sich auch in der Entstehung ihres aktuellen Namens als „Islamischer Staat“ widerspiegelt. [1] Der Ursprung dieser Emanzipation liegt dabei in der Vereinigung Jama'at al-Tawhid w a al-Jihad (Vereinigung der Einheit Allahs und des Jihad) unter der Führung von Abu Musab al-Zarqawi. Ziel dieser Vereinigung war es, das jordanische Königshaus zu stürzen und Jerusalem zu befreien.[3] In mehreren Anschlägen, wie dem Angriff auf den schiitischen Geistlichen Ajatollah Muhammad Baqir vor der Imam-Ali Moschee im Jahr 2003 wurden diese Ziele verfolgt und waren bereits Indiz für Zarqawis größere Absichten: Der Kampf gegen die schiitischen Muslime und die Staatengemeinschaft.[4] Ein erster wichtiger Schritt in der Entstehung des IS stellt die Kooperation mit Al-Qaida als irakischem Ableger dar. Gründungsvater Zarqawi legte 2004 den Treueid bai’a gegenüber Al-Qaida ab, ordnete sich damit Bin Laden als Führer unter und änderte den Namen seiner Organisation erstmals in Danzig Qaidas al-Jihad fi Bilad al-Rafidain (Al-Qaida im Irak, AQI).[5] Auch als Ableger von Al-Qaida zeichnet sich die Strategie von Zarqawis Organisation wie zuvor durch eine enorme Brutalität aus. Enthauptungen von Geiseln und vor allem das brutale Vorgehen gegen Schiiten, wie bei dem Anschlag auf die heilige Grabmoschee von Samarra, stießen auf Widerspruch aus den Reihen von Al-Qaida, in Person von Bin Land und später auch von seinem Nachfolger al-Zawahiri.[6] Eine Uneinigkeit die für Zarqawi selbst ohne entscheidende Folgen bleiben sollte. In dieser frühen Phase des späteren IS stellen diese Dissonanzen zwischen beiden Parteien aber bereits ein erstes Indiz für eine grundsätzliche unterschiedliche Ausrichtung dar. Uneinigkeiten, die in der darauffolgenden Entwicklung des IS und in der Beziehung zu Al-Qaida eine wichtige Rolle spielen.

Einen starken Rückschlag erlebte die Organisation am 7. Juni 2006 als Zarqawi durch einen amerikanischen Luftschlag ums Leben kam.[7] In dessen Folge wurde die Organisation unter ihrem Nachfolger Abu Omar al-Baghdadi als „Islamischer Staat im Irak“ (ISI) umbenannt.[8] Die auch unter dem Nachfolger in ihren Anschlägen fortgeführte Brutalität führte zu einem Auflehnen der lokalen Bevölkerungen. Aus dieser Unzufriedenheit formierten sich Stämme gemeinsam zur „Erweckungsbewegung“ Sahwa. Unter amerikanischer Unterstützung stellte die Sahwa eigene Milizen auf, die in ihrem Ziel, Sicherheit für die Provinzen garantieren zu können, den Kampf gegen al-Qaida aufnahm.[9] Durch die amerikanische Unterstützung konnte diese Bewegung den ISI erheblich schwächen und die Anhängerschaft auf weniger als 800 Mitglieder reduzieren.[10] Der Abzug der amerikanischen Unterstützung im Jahr 2009 eröffnete Omar al-Baghdadi allerdings wieder neuen Spielraum zum Wiederaufbau. Nach seinem Tod durch einen erneuten amerikanischen Luftschlag im Jahr 2010 setzte sein Nachfolger und heutiger Anführer des IS, Abu Bakr al-Baghdadi seine Arbeit fort.[11] Dem ISI gelang im Anschluss eine deutliche Expansion, ermöglicht vor allem durch die neuen Betätigungsfelder im syrischen Bürgerkrieg. Im Jahr 2013 erklärte Baghdadi dann als Ausdruck der eigenen Machposition die Fusion des ISI mit der durch die eigene Unterstützung aufgebauten und im Bürgerkrieg erstarkten Nusra-Front unter dem Namen „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (ISIS).[12] Eine solche Fusion lehnte die Nusra-Front allerdings ab und ordnete sich, wohl um einer solchen Übernahme zu entgehen, al-Qaida unter.[13] Eine Entscheidung, die mitbestimmend für den anschließenden Bruch zwischen dem ISIS und Al-Qaida war. Die ohnehin durch das anhaltend brutale Vorgehen des ISIS herrschende Uneinigkeit zwischen beiden Parteien fand durch diese Entscheidung neuen Nährboden. Mit der Aufforderung Zawahiris an ISIS, sich rein auf den Irak zu konzentrieren und der darauf folgenden Verweigerung al-Baghdadis verhärteten sich beide Fronten weiter.[14] Im Laufe des zusehends eskalierenden Konflikts zwischen der Nusra-Front und ISIS kam es dann durch die, zum Teil öffentlich ausgetragenen, Streitigkeiten zwischen dem Al-Qaida Kern und ISIS zum nachhaltigen Bruch beider.[15] Durch eine schon damals gute Organisation, Ausrüstung und Finanzierung konnte ISIS sein Herrschaftsgebiet in Syrien im Anschluss ausweiten und dabei auch die Oberhand gegenüber der Nusra-Front gewinnen. Im Juni 2014 eroberte die Organisation dann die strategisch enorm wichtige Stadt Mossul. Im Zuge dieser Eroberung rief Baghdadi das heilige Kalifat aus, mit dem sich der heutige Name der Organisation als „Islamischer Staat“ (IS) verbindet.[16] Mit diesem Ausruf erhebt Al-Baghdadi als „Kalif Ibrahimi - Gebieter der Gläubigen“ den Anspruch legitimer Nachfolger des Propheten Mohammeds und damit Anführer aller Muslime zu sein.[17]

2.1. Das Kalifat des „Islamischen Staates“

Die Ausrufung des Kalifats stellt einen entscheidenden Wendepunkt in der Ausrichtung des IS dar und dient Al-Baghdadi als Grundlage des staatlichen Anspruches des IS. Für die weitere Analyse ist das Verständnis der Bedeutung des Kalifats grundlegend.

Die Forderung eines Kalifats beruht dabei auf der Entstehungsgeschichte des Islams durch den Propheten Mohammed. Die als Hidschra bezeichnete Reise Mohammeds mit seinen Anhängern von Mekka nach Medina stellt im Islam den Ursprung der „islamischen Zeitrechnung“ dar.[18] Mit seiner transzendentalen Gemeinschaft bildete Prophet Mohammed einen islamischen Staat aus, in dem Religion und Politik in ein harmonisches Verhältnis zu einander geführt wurden. Nach dem Tod Mohammeds wurde das Kalifat fortan als Ordnungsvorstellung des Islams angestrebt. Der Kalif ist dabei nicht nur Führer des Kalifats, sondern auch Stellvertreter des Propheten Mohammeds.[19] Die Beanspruchung der islamischen Geschichte durch die von Al-Baghdadi durchgeführte Ausrufung des Kalifats ist zwar stark umstritten (vor allem in der islamischen Gesellschaft) bildet aber als idealisierte Staatsvision die Grundlage der heutigen Ausrichtung des IS. Die Anhebung des IS zu einem Kalifat dient dabei als Legitimationsgrundlage und ist wichtiger Bestandteil der Ak­qui­rie­rung neuer Anhänger.

2.2. Relevanz für die heutige Organisation des „Islamischen Staates“

Die beschriebene Entstehungsgeschichte zeigt vor allem in zwei Aspekten die prägende Bedeutung dieser Geschichte für das heutige Wesen des IS:

1) Eine neue Art von (Terror-)Organisation: In der Abspaltung von Al-Qaida wird deutlich, dass dem IS eine andere Ausrichtung zu Grunde liegt und es sich um eine neue Art von (Terror-)Organisation handelt. In ihrem Vorgehen hat sich Al-Qaida stets auf das Feindbild des Westens (die USA) konzentriert. Der IS sagt sich zwar nicht von diesem los, legt aber den Fokus stärker auf die eigene Entwicklung und die Verbreitung und Durchsetzung des Islams nach ihrer Vorstellung. Das Feindbild des IS erweitert sich damit auf alle Andersgläubigen. Durch eine solche Ausrichtung rücken Akteure wie vor allem die Schiiten oder die irakische Regierung als Feinde des „einzig wahren Islams“ stärker in den Mittelpunkt des Vorgehens des IS.[20] Eine ideologische und strategische Grundausrichtung, die den gesamten Aufbau des IS mitbestimmt.

2) Die Bedeutung der zugrunde liegenden Ideologie des Kalifats: Die bereits beschriebene Ausrufung des Kalifats spielt hinsichtlich der Frage der Staatsqualität des IS die wichtigste Rolle innerhalb der Entstehungsgeschichte. Durch die Bezugnahme auf die islamische Geschichte wird die Staatlichkeit des IS zu einem ideologischen Ideal, das eine neue Legitimationsgrundlage für alle weiteren Handlungen schafft. Durch die Bestimmung als Kalif beansprucht Al-Baghdadi als Nachfolger Mohammeds die Gefolgschaft aller Muslime weltweit. Insgesamt hebt die Ausrufung des Kalifats das Streben des IS nach Staatlichkeit auf eine neue Ebene. Eine Ideologie, die möglichen und bereits bestehenden Anhängern durch die Vorstellung eines islamischen Staates ein einzigartiges Ziel bietet, für das es sich in ihren Augen zu kämpfen lohnt.

3. Ist die Organisation „Islamischer Staat“ tatsächlich ein Staat?

Es gibt eine Vielzahl an Staatsdefinitionen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten in ihrer Untersuchung einen jeweils eigenen Mehrwert hinsichtlich der Frage der Staatlichkeit bieten. Im Mittelpunkt der aktuellen Situation steht aber vor allem die Auseinandersetzung anderer Staaten und Konfliktparteien mit dem IS, deren Handlungsrahmen durch das Völkerrecht bestimmt ist. Die Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek stellt die Grundsatzregel der Staatsdefinition im Völkerrecht dar. Für diese Untersuchung bildet sie als zu erreichender Minimalstandard auf dem Weg zur Anerkennung als Staat die entscheidende theoretische Grundlage.

3.1. Die Drei-Elemente-Lehre nach Jellinek

Die Grundlage der Drei-Elemente-Lehre von Georg Jellinek bildet seine Definition des Staates als soziales Gebilde in dem „[…] eine Gesamtheit von Menschen [Staatsvolk, R.J.] auf einem bestimmten Teil der Erdoberfläche [Staatsgebiet, R.J.] unter einer hoheitlichen Gewalt [Staatsgewalt, R.J.] in einer Gemeinschaft […] verbunden ist.“[21]

Die Staatsdefinition nach Jellinek umfasst demnach drei Elemente: Das 1) Staatsvolk, die 2) Staatsgewalt und das 3) Staatsgebiet. Um ein Mindestmaß an Staatlichkeit zu erreichen, muss der IS alle drei Elemente gleichsam erfüllen.

3.2. Das Staatsvolk

Das Staatsvolk bezeichnet im Allgemeinen, die Gesamtheit aller einem Staat zugehörigen Menschen.[22] Jellinek verbindet dabei mit dem Staatsvolk zwei Qualitäten: das Volk als Subjekt und das Volk als Objekt.[23] Das Volk als Subjekt bedarf nach diesem Verständnis einer inneren Gemeinschaft, kann nur von freien Menschen gebildet werden und beruht auf der staatlichen Anerkennung des Individuums.[24] Auf der anderen Seite ist das Volk Objekt staatlichen Handelns. Eine religiöse, ethnische, sprachliche oder kulturelle Homogenität ist für ein Staatsvolk demnach nicht von Nöten, vielmehr ist es eine dauerhafte, rechtliche und politische Schicksalsgemeinschaft.[25] Im internationalen Recht wird für die Bestimmung des Staatsvolkes das Merkmal der Staatsangehörigkeit herangezogen, welches die wechselseitigen Rechte und Pflichten für Staat und Staatsvolk begründet.[26] Ein Untersuchungspunkt, der in diesem Kontext aber einen Schritt zu weit greift, da hier die Frage nach möglichen grundsätzlichen Strukturen eines Staatsvolkes im Mittelpunkt steht. Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei den Menschen im vom IS beherrschten Territorium um ein Staatsvolk handelt, scheint nach Jellineks Definition vor allem die Subjektqualität des Volkes gefährdet zu sein. Demnach kann der Staat nur von freien Menschen gebildet werden. Fraglich ist also, inwieweit es sich um eine zwanghafte Unterwerfung oder um eine gewollte Alternative handelt, der sich die Menschen freiwillig unterordnen wollen. Es lassen sich sowohl Indizien für eine gewollte Alternative, als auch für eine zwanghafte Unterwerfung finden, die gegeneinander abgewogen werden müssen. Grundsätzlich stellt der IS als freiwillig gewählte Staatsform nur eine Option für den sunnitischen Anteil der Bevölkerung dar. Durch die vom IS proklamierte Vertretung des „einzig wahren Islams“ geht er immer wieder mit kompromissloser Brutalität gegen die Schiiten im Irak und Syrien vor. Neben der Verfolgung Andersgläubiger stellt besonders das Eroberungsverhalten des IS einen weiteren Aspekt einer möglichen zwanghaften Unterwerfung dar. Oberste Priorität hat dabei immer die Durchsetzung des eigenen Gewaltmonopols. Kooperationen in Form von Waffenstillständen wurden dabei immer nur so lange eingehalten, wie es dem IS an Mitteln für eine Übernahme fehlte.[27] Befindet sich der IS hingegen in der stärkeren Position, während eine andere Partei (Stammesvertreter oder eine andere Organisation) dem IS die Gefolgschaft verweigert, hat der IS mehrfach verdeutlicht, seinen Führungsanspruch mit allen Mitteln durchsetzen zu wollen - oftmals in Form von Enthauptungen.[28] Argumente für eine gewollte Alternative stellen, neben der ideologischen Anziehungskraft eines Kalifats, in erster Linie die durch den IS zur Verfügung gestellten öffentlichen Dienstleitungen und Infrastrukturen dar. Mit einem auf der Scharia basierenden Justizsystem, Bürgermeistern und Gouverneuren, sicheren und verhältnismäßig hohen Gehältern und teilweise sogar der Versorgung mit Wasser, Strom und Gas[29] bietet der IS Formen staatlicher Organisation, die zuvor in weiten Teilen Iraks und Syriens oftmals nicht mehr gegeben waren. Vorzüge die für Teile der Bevölkerung die Einschränkungen aufzuwiegen scheinen.[30] Die Frage des Staatsvolkes ist auch eine Frage des Rückhaltes, den der IS innerhalb der Gesellschaft genießt. Ein Aspekt, der in erster Linie von den Anhängern des IS erfüllt wird. Sei es aufgrund der Ideologie eines Kalifats oder nur wegen des verhältnismäßig hohen Gehalts, in aller Regel ordnen sich diese freiwillig einem Kalifat des IS unter. Während Schätzungen der CIA aus dem Jahre 2014 von 20.000 bis 31.000 Kämpfern des IS ausgehen[31], nimmt die Organisation darüber hinaus mit ca. sechs Millionen Menschen in ihrem Territorium[32] auf einen weitaus größeren Anteil Einfluss. Die Anzahl der im IS-Territorium lebenden Menschen und die Anzahl der Kämpfer verändert sich zwar fortlaufend, zeigt aber durch den enormen Unterschied eine entscheidende Diskrepanz auf. Die Qualität eines möglichen Staatsvolks des IS kann demnach nicht allein an den Kämpfern und aktiven Anhängern gemessen werden. Fraglich ist, inwieweit es sich bei den verbleibenden Menschen um ein Staatsvolk handelt. Die durch die staatliche Organisation entstandene Akzeptanz in Teilen der sunnitischen Bevölkerung könnte als Indiz eines möglichen Staatsvolkes gewertet werden, welches die notwendige Subjektqualität erfüllt. Allerdings handelt es sich um eine staatliche Organisation, die unter Einsatz brutaler Mittel aufgebaut und aufrecht gehalten wird - eine Herrschaft, die Züge einer „Terrorherrschaft“[33] annimmt. Im Angesicht von Tod und körperlicher Bestrafung scheint die entstandene Akzeptanz nicht aus der Freiheit der Menschen, sondern aus Wahllosigkeit erwachsen zu sein.

[...]


[1] Hollande, François: Rede vor dem Parlament, Le Monde; Video: http://www.lemonde.fr/attaques-a-paris/video/2015/11/16/hollande-maintient-sa-position-la-france-est-en-guerre_4811152_4809495.html, 2015, Stand: 14.02.16.

[2] Folgen wie die völkerrechtlichen Regeln für zwischenstaatliche Konflikte, die im Rahmen dieser Arbeit aufgrund der zuerst zu klärenden Staatsqualität des IS nicht behandelt werden.

[3] Hermann, Rainer, „Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1.Auflage, 2015, S.60

[4] Schneckener, Ulrich, „Transnationaler Terrorismus: Charakter und Hintergründe des »neuen« Terrorismus“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1.Auflage, 2006, S.92

[5] Hermann, Rainer, „Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1.Auflage, 2015, S.60

[6] Duffield, John; Dombrowski, Peter, „Balance Sheet: The Iraq War and U.S. National Security (Stanford Security Studies)“, Standford University Press, o.O., 1. Auflage, 2009, S.32

[7] Buchta, Wilfried, „Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2012, S.1-2

[8] ebd.

[9] Hermann, Rainer, „Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1.Auflage, 2015, S.62

[10] ebd.

[11] ebd. S.63

[12] Buchta, Wilfried, „Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2012, S.296

[13] Perthes, Volker, „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen: Ein Essay“, Suhrkamp Verlag, 1.Auflage, 2015, S.96

[14] T.Said, Behnam, „Islamischer Staat: IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden“, C.H.Beck, München, 1.Auflage, 2014, S.81-82

[15] ebd.

[16] ebd. S.91

[17] Buchta, Wilfried, „Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2012, S.9

[18] Neubauer, Jürgen, Ansary, Tamim, „Die unbekannte Mitte der Welt: Globalgeschichte aus islamischer Sicht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2010, S.43

[19] Röhrich, Wilfried, „Die Politisierung des Islam: Islamismus und Dschihadismus“, Springer-Verlag, Berlin 2015, S.33.

[20] Perthes, Volker, „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen: Ein Essay“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1.Auflage, 2015, S.95

[21] Katz, Alfred, „Staatsrecht, Grundkurs im öffentlichen Recht“, C.F. Müller, Heidelberg, 18. Auflage, 2010, S.13

[22] Jellinek, Georg, „Allgemeine Staatslehre“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 3.Auflage, 1959, S.406

[23] ebd.

[24] ebd. S.406-409

[25] Alfred, „Staatsrecht, Grundkurs im öffentlichen Recht“, C.F. Müller, 18. Auflage, 2010, S.13-14

[26] ebd.

[27] Perthes, Volker, „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen: Ein Essay“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1.Auflage, 2015, S.101

[28] Hermann, Rainer, „Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1.Auflage, 2015, S.74

[29] Buchta, Wilfried, „Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2012, S.298

[30] Hermann, Rainer, „Endstation Islamischer Staat? Staatsversagen und Religionskrieg in der arabischen Welt“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1.Auflage, 2015, S.75

[31] Buchta, Wilfried, „Terror vor Europas Toren: Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht“, Campus Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2012, S.310

[32] ebd.

[33] Perthes, Volker, „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen: Ein Essay“, Suhrkamp Verlag, Berlin, 1.Auflage, 2015, S.101

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783668264052
ISBN (Paperback)
9783668264069
Dateigröße
2.2 MB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Erfurt – Staatswissenschaftliche Fakultät
Erscheinungsdatum
2016 (Juli)
Note
1,30
Schlagworte
zwischen staatlichkeit strukturen staat wesen islamischen staates
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