Die Machtergreifung der Bolschewiki im Zuge der Oktoberrevolution 1917 kündigte große politische Veränderungen im Russischen Reich an.
Die ideologischen Konstrukte der Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels warfen ihre Schatten zur Errichtung eines kommunistischen Staates voraus. Ein solcher Staat sollte nicht nur klassenlos, sondern auch religionsfrei sein. Das betraf zuallererst die russisch-orthodoxe Kirche, die mit der einst zaristischen Führung eng verflochten war und um ihre Privilegien fürchten musste.
Ein weiterer, großer Faktor hinsichtlich der Religionspolitik stellte der Islam dar. Durch den russischem Imperialismus nannte man große Regionen, beispielsweise in Zentralasien oder dem Kaukasus, sein Eigen, die muslimisch geprägt waren. Somit wurde der Islam zu einer wichtigen Figur in der Religions- und Nationalitätenpolitik der Bolschewiki.
In der vorliegenden Arbeit soll verschiedenen Fragen nachgegangen werden. Was machte die Religion, in diesem Fall den Islam, zu einem Feind des Regimes? Wie legitimierte das Regime den Kampf gegen den Islam ideologisch? Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein Blick auf die Theorien Marx', Engels' und Lenins geworfen werden.
Im nächsten Schritt soll dann geklärt werden, wie sich die realpolitische Praxis gegenüber dem Islam nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki gestaltete. Welche gesetzlichen Grundlagen wurden geschaffen? Inwieweit wurden diese auch praktisch umgesetzt? Dabei sollen vertrauensfördernde Maßnahmen im Zuge der Politik der relativen Duldung des Islam Gegenstand der Betrachtung werden. Die sich mit der Zeit verschärfende Politik hingegen soll anhand des Beispiels der „Entschleierungskampagne“ dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Definitionen wichtiger Begriffe
II.1 Der Begriff der „Religionspolitik“
II.2 Der Begriff „bolschewistisch“
II.3 Periodisierung
III. Die theoretische Religionskritik Marx', Engels', Lenins als ideologische Grundlage bolschewistischer Religionspolitik
III.1 Religion und Religionskritik bei Karl Marx
III.2 Religionskritik bei Friedrich Engels
III.3 Religionskritik bei Wladimir I. Lenin
III.4 Transfer zum Islam
IV. Die politische Realität - praktische Maßnahmen der Bolschewiki gegenüber dem Islam
IV.1 Orientierung und Ausrichtung
IV.2 Schaffung gesetzlicher Grundlagen zur Bekämpfung der Religionen
IV.3 Phase der relativen Duldung des Islam
IV.3.1 Vertrauensfördernde Maßnahmen
IV.3.1.1 Integration der Scharia-Gerichtsbarkeit und die „Gesellschaft der Gerichte der Scharia“
IV.3.1.2 Partielle Rückgabe von Waqf-Besitz
IV.4 Verschärfung des Kurses - Praktische Maßnahmen und Repressionen
IV.4.1 Der Kampf für die Frau als Kampf gegen den Islam
V. Schlussbetrachtung
VI. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Die Machtergreifung der Bolschewiki im Zuge der Oktoberrevolution 1917 kündigte große politische Veränderungen im Russischen Reich an.
Die ideologischen Konstrukte der Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels warfen ihre Schatten zur Errichtung eines kommunistischen Staates voraus. Ein solcher Staat sollte nicht nur klassenlos, sondern auch religionsfrei sein. Das betraf zuallererst die Russisch-Orthodoxe Kirche, die mit der einst zaristischen Führung eng verflochten war und um ihre Privilegien fürchten musste. Ein weiterer, großer Faktor hinsichtlich der Religionspolitik stellte der Islam dar. Durch den russischem Imperialismus nannte man große Regionen, beispielsweise in Zentralasien oder dem Kaukasus, sein Eigen, die muslimisch geprägt waren. Somit wurde der Islam zu einer wichtigen Figur in der Religions- und Nationalitätenpolitik der Bolschewiki.
In der vorliegenden Arbeit soll verschiedenen Fragen nachgegangen werden. Was machte die Religion, in diesem Fall den Islam, zu einem Feind des Regimes? Wie legitimierte das Regime den Kampf gegen den Islam ideologisch? Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein Blick auf die Theorien Marx', Engels' und Lenins geworfen werden.
Im nächsten Schritt soll dann geklärt werden, wie sich die realpolitische Praxis gegenüber dem Islam nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki gestaltete. Welche gesetzlichen Grundlagen wurden geschaffen? Inwieweit wurden diese auch praktisch umgesetzt? Dabei sollen vertrauensfördernde Maßnahmen im Zuge der Politik der relativen Duldung des Islam Gegenstand der Betrachtung werden. Die sich mit der Zeit verschärfende Politik hingegen soll anhand des Beispiels der „Entschleierungskampagne“ dargestellt werden.
Zunächst soll es allerdings um die Definition zentraler Begriffe gehen.
II. Definitionen wichtiger Begriffe
II.1 Der Begriff der „Religionspolitik“
In der vorliegenden Arbeit ist der Begriff der Religionspolitik einer der zentralen, soll es doch um die politische Ausprägung eben jener in der sowjetischen Politik gehen.
Vereinfach formuliert geht es um das Verhältnis zwischen Staat (bzw. Politik) und Kirche (bzw. Religion). Religionspolitik meint dabei „alle jene politischen Prozesse und Entscheidungen, in de- nen die religiöse Praktik von Individuen einschließlich ihrer kollektiven Ausdrucksformen sowie der öffentliche Status, die Stellung und die Funktion von religiösen Symbolen, religiösen Praktiken und Religionsgemeinschaften in politischen Gemeinwesen geregelt werden“1. Darüber hinaus geht es um den direkten oder indirekten Umgang politischer Träger mit den Religionsgemeinschaften und ihren Würdenträgern, welcher Einfluss auf das Verhalten potenzieller Anhänger der Religion ausübt.2
II.2 Der Begriff „bolschewistisch“
Im Zuge dieser Arbeit wird es um den Begriff der bolschewistischen Religionspolitik im Kontext der sowjetischen Herrschaft gehen. Der Begriff „bolschewistisch“ begrenzt dabei die zu untersuchende religionspolitische Praxis auf den leninistischen Zweig der Sozialdemokratischen Partei Russlands. Der Ursprung dessen ist das erfolgreiche Durchsetzen Lenins revolutionärer „Bolschewiki“ gegenüber der gemäßigten Minderheit („Menschewiki“).3 Diese Ausarbeitung wird ihren Fokus auf eben jene von Lenin ausgehende bolschewistische Religionspolitik legen.
Darüber hinaus beschreibt der Begriff „bolschewistisch“ die fehlende Trennung zwischen Partei und Staat.4
II.3 Periodisierung
Die vorliegende Arbeit ist innerhalb eines zeitlichen Rahmens der Jahre 1917 bis 1928 angesiedelt. Diese Periodisierung bezeichnet Beichler als „übliche“ Einteilung der Geschichte des bolschewistischen Russlands, orientiert an den „großen ökonomischen Entwicklungsphasen“5. Mir erscheint es sinnvoll, dieser Einteilung und Begrenzung zu folgen, um dem geringen Umfang dieser Arbeit Rechnung zu tragen und das Thema dementsprechend einzugrenzen.
III. Die theoretische Religionskritik Marx', Engels', Lenins als ideologische Grundlage bolschewistischer Religionspolitik
Bevor es inhaltlich zur religionspolitischen Praxis geht, bietet sich ein Blick auf das ideologische Fundament dieser an. Die Auseinandersetzung mit den „Klassikern“ Marx und Engels und der darauf aufbauenden Thesen Lenins ist unerlässlich, will man die Motivation und Praktiken der bolschewistischen Religionspolitik untersuchen.
III.1 Religion und Religionskritik bei Karl Marx
Marx' Abhandlungen zur Religion sind weniger ein abgeschlossenes Gesamtwerk zum Umgang mit Religion, sondern vielmehr der Ertrag dreier Phasen. Diese Phasen sollen hinsichtlich des Umfangs nicht einzeln beschrieben werden, es geht stattdessen um eine kurze Darstellung zentraler Gedan- ken. Marx liefert keine praktischen Vorschläge zum Umgang mit der Religion, er bleibt auf der phi- losophischen Ebene.6 Er nimmt die Religion jedoch als ernsthafte gesellschaftliche Größe innerhalb des politischen Systems wahr und legt damit die Grundlage für eine Politik, die bei der Überwin- dung des Kapitalismus auch die Religion entbehrlich machen sollte. Marx hält fest, dass der „christ- liche Staat“ in einen „allgemein-menschlichen Staat“ zu überführen sei.7 Eine Politik, die die Reli- gion als isoliertes Objekt bekämpft, wird dieser Aufgabe nach Marx nicht gerecht. Es geht ihm nicht darum das Betäubungsmittel („Religion ist Opium des Volkes“) zu bekämpfen, sondern die Existenz dessen obsolet zu machen. Dies kann nur eine Politik leisten, die sich der vollständigen Veränderung der Gesellschaft verschreibt. Die Religionspolitik bei Marx lässt sich daher gewisser- maßen als ein Bestandteil der ohnehin „erforderlichen“ Revolution bezeichnen. Marx betrachtet die Überwindung der Religion zwar als wichtiges Ziel, sieht dieses aber ohnehin als erreicht an, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse in den „Idealzustand“ überführt wurden. Aus diesem Grund fin- den sich in Marx' Abhandlungen kaum Anstöße zu einer konkreten Religionspolitik.
III.2 Religionskritik bei Friedrich Engels
Friedrich Engels führt die marxistischen Gedanken zur Religion und Religionspolitik eigenständig interpretiert weiter und verbleibt dabei im Vergleich zu Marx nicht an der Oberfläche. Engels geht ins Detail, er betrachtet die Religion als angreifbare Größe und liefert deutlich ausgeprägtere Ansätze zur Überwindung der Religion mittels antireligiöser Politik.8 Engels legt nahe, einer exakten Analyse der religiösen Phänomene nachzugehen und „letztlich auch sie auf gesellschaftlich-ökono- mische Faktoren zurückzuführen“9.
Engels' Religionskritik wurde systematisch sowie allgemeinverständlich ausformuliert und Religion zum eigenständigen, im Zuge der Revolution gesondert zu bekämpfenden, Phänomen aufgewertet. Sie wird - anders als bei Marx - nicht lediglich als obsolet, sondern als schädlich bewertet. Diese bedrohlichere Bewertung legte einen Grundstein dafür, Religion nicht nur durch Propaganda zu be- kämpfen, wenngleich Engels eine gewaltsame Bekämpfung respektive entsprechende Verbote ab- lehnt. Aus derartigen Maßnahmen befürchtete dieser den Ursprung eines Märtyrertums mit entspre- chenden Gegenreaktionen und -dynamiken. Vielmehr sei Geduld angebracht, den „natürlichen Tode“ der Religion abzuwarten.10 Dennoch schärft Engels die Religion zum Feindbild und macht sie zum Teil eines Konkurrenzkampfes zwischen Religion und Proletariat. Grundlagen dafür sind auch die Wissenschaftlichkeit und Rationalität, die in der proletarischen Weltanschauung tief verankert sind und die Existenz von Religionen durch Verbreitung des Wissens überflüssig machen sollen, ohne einen übersteigert-aggressiven Kampf führen zu müssen.11
III.3 Religionskritik bei Wladimir I. Lenin
Lenin macht als erster den Schritt von theoretischer Religionskritik zur praktischen -politik und geht dabei der Frage nach dem „richtigen“ Verhalten seiner Partei gegenüber der Religion nach. Sich der Theorien Marx und Engels bedienend, versucht sich Lenin an der Entwicklung praktischer Methoden zur Bekämpfung der Religion. Dabei macht sich eine durchgehende Verschärfung dieser Theorien bemerkbar; Lenin will sich zur Erreichung des gemeinsamen Endziels nicht auf den Pro- zess des langfristigen Aussterbens der Religion verlassen. Er fordert aktive Religionspolitik, um diesen Prozess zu beschleunigen.12
Ferner legt Lenin einen aggressiveren Grundton an den Tag, der sich durch Polemik und Hetze über das Wesen der Religion auszeichnet. Charakterisierungen derselben als „Hirngespinste“ und „primitiven Fusel“ leiten zum Bild der „zu bekämpfenden Seuche“ über und ebnet damit den Weg dafür, die Bekämpfung der verachtenswerten Religion als moralische Pflicht zu empfinden. Dabei entfernt sich Lenin von Engels' historischer Analyse, pauschale Denunzierung wird zur Praktik.13 Anstatt einen gewaltsamen Kampf gegen die Religion zu entfachen, sieht Lenin jedoch ähnlich wie Engels Propaganda und Aufklärung als die„richtige Waffe“ an.
Diese Vorsicht im Kontrast zum aggressiven Grundton ist taktischer Natur und bietet nichtsdestotrotz Vorschub für eine sich verschärfende Religionspolitik der Bolschewiki. Als letzten Punkt ist der Gedanke einer taktisch flexiblen antireligiösen Politik zu nennen, welche nicht geradlinig verlaufen muss, sondern neben einer Bekämpfung auch die Duldung der Religion aus strategischen Erwägungen einsetzen kann.14
Lenin vereinfacht und transformiert die klassische Religionspolitik in eine bolschewistische Religionspolitik, derer Durchsetzung es der Machtergreifung durch die Bolschewiki bedarf.
III.4 Transfer zum Islam
Die dargelegten Positionen zur Religion treffen auch auf den Islam zu, der von der Auffassung der fundamentalen Unvereinbarkeit von Religion und Kommunismus ebenso betroffen ist wie beispielsweise die Russisch-Orthodoxe Kirche.
In diesem Zusammenhang bietet sich ein Blick auf L.J. Klimovic an, der zu den bekanntesten Islam-Interpreten in der Sowjetunion zählte. Dieser beschreibt den Islam als „eine antiwissenschaftliche, reaktionäre Weltanschauung, die der wissenschaftlichen marxistisch-leninistischen Auffassung fremd und feindlich gegenüber steht. Der Islam steht im Widerspruch zu der optimistischen und lebensbejahenden materialistischen Weltanschauung; er ist unvereinbar mit den fundamentalen Interessen der Sowjetvölker; er hindert die Gläubigen daran, aktive und gewissenhafte Erbauer der kommunistischen Gesellschaft zu sein.“15
Zunächst fällt auf, dass der Islam in ein irrationales, antiwissenschaftliches und veraltetes Licht gerückt wird. Gleichzeitig kommt es zur Verherrlichung und Überhöhung der sowjetischen Ideologie und ihrer Völker. Aus dieser Gegenüberstellung lässt sich wunderbar ein gemeinsames Feindbild kreieren: die Religion, konkret: der Islam. Dieser muss bekämpft werden, da er nicht nur dem Aufbau des eigenen Sowjetstaates im Weg steht, sondern auch seine Anhänger der Chance beraubt, Teil der eigenen, „idealen Welt“ zu werden. Dabei machte man den Islam auch für die Unterdrückung der Frau verantwortlich16 und empfand den Schleier als Verkörperung der Rückständigkeit des Islam und der muslimischen Völkern in der Sowjetunion im Allgemeinen17.
Gleichzeitig war das Verhältnis zwischen den russischen bzw. sowjetischen Muslimen und dem Regime durch die Erfahrungen des russischen Imperialismus' geprägt: „Im Falle Russlands kann man besonders für Zentralasien und den Kaukasus von einer >>kolonialen Situation<< sprechen.“18. Islamische Publikationen beschrieben im zaristischen Russland eine ihrem Glauben gegenüber feindlich eingestellte Politik19, vermuteten darüber hinaus einen Assimilationsdruck und Missionierungen durch die vorherrschende Russisch-Orthodoxe Kirche.20
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1 Willems, Ulrich: Religionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1999, in: Willems, Ulrich: Demokratie und Politik in der Bundesrepublik 1949-1999, Leske und Budrich, Opladen 2001, S.137
2 Beichler, Eckehard: „Kriegskommunismus“ und „Neue Ökonomische Politik“ in ihren Auswirkungen auf die bolschewistische Religionspoltik: Von den marxistischen Klassikern zur religionspolitischen Praxis im bolschewistischen Russland der Jahre 1917 bis 1928, Dissertation ohne Verlag, Göttingen 1980, vgl. S.5f.
3 Bundeszentrale für politische Bildung, Internetquelle, online in: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17194/bolschewismus (abgerufen 29.03.2016)
4 Beichler, 1980, vgl. S.6
5 Ebd., vgl. S.7
6 Ebd., vgl. S.101
7 Ebd., vgl. S.102
8 Ebd., vgl. S.136f.
9 Ebd., S.111
10 Ebd., vgl. S.138
11 Ebd., vgl. S.140
12 Ebd., vgl. S.186
13 Ebd., vgl. S.180
14 Ebd., vgl. S.180f.
15 Bräker, Hans: Kommunismus und Islam, Band 1,1, in: Kommunismus und Weltreligionen Asiens, J.C.B. Mohr, Tübingen 1969, S.66
16 Frings, Andreas: Der Schleier als Ausdruck lokaler Renitenz? Reaktionen auf die „Befreiung der Frau“ in der frühen Sowjetunion, in: Frings, Andreas (Hg.): Neuordnungen von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten, Lit Verlag, Berlin 2006, vgl. S.73
17 Ebd., vgl. S.75
18 Davies, Franziska: Muslime im Russischen Reich und in der Sowjetunion in globaler Perspektive, in: Aust, Martin (Hg.): Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, S.264
19 Ebd., vgl. S.264
20 Ebd., vgl. S.266