Ziele erreichen in der Eingliederungshilfe. Mit welchen Zielen kommt man an's Ziel?
Eine Auseinandersetzung mit Annäherungs- und Vermeidungszielen nach Klaus Grawe
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1 Das Praxisfeld: Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe
1.2 Zielebenen: Grundsatzziele, Meilensteine und Ergebnisziele
1.3 Warum ist eine gute Zielsetzung in der Eingliederungshilfe wichtig?
1.4 Skizzierung des Praxisprojekts: Zielformulierung nach „SMART“
1.5 Einleitung in die Fragestellung
2. Annäherungs- und Vermeidungsziele – Mit welchen Zielen kommt man ans Ziel?
2.1 Grawes Grundannahmen über Annäherungs- und Vermeidungsziele
2.2 Die Motivation für die Ziele: Leidensdruck vs. Vision
2.3 Intrinsische vs. extrinsische Motivation: Problembewusstsein als Voraussetzung
2.4 Problem- und Lösungsorientierung auf neuronaler Ebene
2.5 Auf ein Ziel hinzuarbeiten bedeutet Lernen
2.6 Erwartungen und Befürchtungen des Klienten an Annäherungs- und Vermeidungsziele
2.7 Was bewirken Annäherungs- und Vermeidungsziele tatsächlich?
3. Synoptische Gegenüberstellung und Fazit
4. Verzeichnisse
4.1 Abbildungsverzeichnis
4.2 Literaturverzeichnis
1. Einführung
Aufgabenstellung für die ISPS-Arbeit war eine Fragestellung, die aus dem Studienprojekt des Praxissemesters hervorgeht. Zum Verständnis der Fragestellung wird in nachfolgender Arbeit zunächst auf das Arbeitsfeld der Praxisstelle eingegangen, sowie das Studienprojekt an sich näher erläutert, um danach in die eigentliche Fragestellung einzuleiten.
1.1 Das Praxisfeld: Teilhabeplanung in der Eingliederungshilfe
Die Verfasserin absolvierte ihr Praxissemester auf dem Kreissozialamt der Stadt Bad Kreuznach im Referat Eingliederung und Pflege. Die Aufgaben des Sozialamtes sind vielfältig, wie auch die Menschen und ihre Bedarfslagen im Landkreis.[1] Die Verfasserin war dort zuständig für die Teilhabeplanung für Menschen mit seelischer Behinderung. In § 2 SGB IX ist definiert, wann ein Mensch in Deutschland eine Behinderung hat:
1. Menschen, deren körperliche Funktion, geistige Fähigkeit, oder seelische Gesundheit vermutlich länger als sechs Monate von dem „für das Lebensalter typischen Zustand“ abweicht, und
2. deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft dadurch beeinträchtigt ist.[2]
Auch von Behinderung bedrohte Menschen können Eingliederungshilfe erhalten. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung abzuwenden, sowie eine bestehende Behinderung oder ihre Folgen zu mäßigen oder sogar zu beseitigen.[3] Das bedeutet insbesondere, Teilhabe herzustellen in den verschiedensten Bereichen des Lebens. Das kann zum Beispiel Arbeit oder Schule sein, Freizeitgestaltung, Wohnen, aber auch psychische wie physische Gesundheit oder Gewährleistung eines sozialen Netzwerkes. So verschieden die existierenden Behinderungen sind, so verschieden sind auch die Leistungsnehmer der Eingliederungshilfe, die sich in den unterschiedlichsten Lebenssituationen befinden, und ebenso individuelle Teilhabebedarfe aufweisen. Jene Teilhabebedarfe gilt es auf dem Kreissozialamt festzustellen, damit ein Leistungserbringer mit der hilfesuchenden Person an der Beseitigung oder Milderung der Teilhabebeeinträchtigung(en) arbeiten kann. Die Hilfe kann sowohl ambulant, als auch (teil-)stationär erfolgen und wird vom Kreissozialamt in einem festgelegten Zeitraum und Stundenumfang bezahlt.
Zur Feststellung des Hilfebedarfs wird in Rheinland-Pfalz ein so genannter Individueller Teilhabeplan verwendet - ein Dokument, das auf verschiedenen Bögen die Fähigkeiten und Beeinträchtigungen, Wünsche und Ziele des Leistungsnehmers in verschiedenen Bereichen des Lebens zusammenfasst. Ein Teilhabeplan wird entweder vom Sozialamt selbst, oder einem Leistungserbringer erstellt, jedoch immer zusammen mit der leistungsberechtigten Person. Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe findet also stets in einer Dreieckskonstellation statt: Die leistungsberechtigte Person, welche die Hilfe erhält, der Leistungserbringer, welcher die Hilfe erbringt, und der Sozialhilfeträger, der die Hilfe bezahlt.
Der letzte Bogen des Individuellen Teilhabeplans ist der Aktionsplan, dort wird unter anderem festgelegt, wer die notwendigen Hilfen erbringen soll, und in welchem Umfang. Weitere Dinge, die im Aktionsplan festgehalten werden zeigt die nachfolgende Abbildung, ein Auszug aus dem Aktionsplan: Die Ziele, die bis zur Erstellung des nächsten Teilhabeplans erreicht sein sollen, werden in der ersten Spalte eingetragen - dazugehörig die verschiedenen Lebensbereiche, in denen Teilhabebedarfe bestehen können, welche senkrecht aufgeführt sind. Neben den Zielen, mit denen sich das Praxisprojekt befasst hat, wird der Bewilligungszeitraum und die zur Erreichung der Ziele notwendigen Maßnahmen festgehalten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Auszug aus dem Aktionsplan im Individuellen Teilhabeplan Rheinland-Pfalz
1.2 Zielebenen: Grundsatzziele, Meilensteine und Ergebnisziele
Die Ziele, die im Aktionsplan festgehalten werden, werden Ergebnisziele genannt und sind kleine Schritte auf dem Weg, der durch die Eingliederungshilfe begleitet werden soll. Neben den Ergebniszielen wird in Rheinland-Pfalz außerdem noch zwischen Meilensteinen (mittelfristige Ziele) und Grundsatzzielen (langfristige Ziele) unterschieden. Aus dem Grundsatzziel leiten sich die Meilensteine ab und liegen zeitlich betrachtet näher als das Grundsatzziel. Ebenso verhält es sich mit den Ergebniszielen zu den Meilensteinen, welche die Meilensteine noch einmal konkretisieren und somit die kurzfristigsten Ziele darstellen. Meilensteine findet man mit der Frage nach wichtigen Zwischenschritten, Ergebnisziele mit der Frage nach wichtigen Schritten im Hinblick auf die Meilensteine. Ergebnisziele sollen innerhalb des Bewilligungszeitraums eines Teilhabeplanes erreicht werden, Meilensteine liegen zeitlich betrachtet etwas weiter in der Ferne, und das Grundsatzziel sollte das Endziel für die Hilfe sein.[4]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Zielebenen in Rheinland-Pfalz
1.3 Warum ist eine gute Zielsetzung in der Eingliederungshilfe wichtig?
Die Arbeit mit Zielen ist in der Eingliederungshilfe sehr wichtig: Ziele motivieren und geben dem Handeln einen Sinn, sie geben Leistungserbringer wie Klient Orientierung für die tägliche Arbeit. Gute Ziele lenken den Blick auf das, was erreicht werden soll und sind auch tatsächlich erreichbar. So werden sie zum Wegweiser für die tägliche Arbeit. Des Weiteren bieten Ziele Kontrollfunktion: Nach Ablauf der Kostenzusage für den Teilhabeplan lässt sich mit Hilfe der festgehaltenen Ziele feststellen, welche Ergebnisse tatsächlich erreicht wurden, und woran noch gearbeitet werden muss.
Großes Anliegen des Kreissozialamtes in Bad Kreuznach ist es, die Ergebnisziele im Aktionsplan „SMART“ zu formulieren. Nicht selten werden Teilhabepläne allerdings nicht durch das Sozialamt selbst, sondern durch Leistungserbringer erstellt, die ihre Klienten natürlich auch viel besser kennen als ein Fallmanager auf dem Sozialamt. Dabei passiert es häufig, dass viele Nachfragen seitens der Leistungserbringer kommen und Ergebnisziele nicht zufriedenstellend oder gar in Stichworten formuliert werden und durch das Kreissozialamt in Absprache mit Leistungsnehmer und -erbringer noch einmal abgeändert werden (müssen). Aufgrund dieser Problematik hat die Verfasserin für ihr Studienprojekt einen Handlungsleitfaden zur Formulierung von SMARTen Ergebniszielen erstellt, um eine bessere Zusammenarbeit zwischen Sozialamt und Leistungserbringern herzustellen. Da dies ausführlich bereits in der Projektpräsentation erörtert wurde, wird der theoretische Inhalt des Praxisprojekts im Folgenden nur kurz skizziert.
1.4 Skizzierung des Praxisprojekts: Zielformulierung nach „SMART“
Da es für die nachfolgende Arbeit unabdingbar ist, eine Zielformulierung nach „SMART“ zu verstehen, wird im Folgenden der für das Praxisprojekt erstellte Handlungsleitfaden in gekürzter Version vorgestellt. Die Buchstaben des Wortes SMART stehen für spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert.
S – Spezifisch
Die im Aktionsplan definierten Ergebnisziele sollten individuell an die Lebenssituation des Klienten/der Klientin angepasst werden und sind immer auf die Beseitigung oder Milderung der Teilhabebeeinträchtigungen auszurichten. Sie sind klar, einfach und konkret zu formulieren. Um die Ziele möglichst transparent zu beschreiben, sollte eine alltagsnahe Sprache verwendet werden, und lange, umständliche Sätze, wie auch Fachvokabular vermieden werden. Sie beschreiben vollendete Zustände.
M – Messbar
Ziele müssen messbar sein, um nachfolgend einen Abgleich mit den tatsächlich erreichten Ergebnissen herstellen zu können. Ohne mindestens eine Messzahl lassen sich Ziele nicht überprüfen. Begriffe wie höher, weiter, besser oder mehr sind zu ungenau und lassen sich schlecht überprüfen, da Fortschritte kaum verdeutlicht werden können. Mit der Frage, woran man erkennt, dass man am Ziel ist, kann man das formulierte Ziel auf seine Messbarkeit überprüfen.
A - Attraktiv
Um ein Ergebnisziel motivierend zu gestalten, sollte es weder zu leicht, noch zu schwierig zu erreichen sein und von Klient wie Leistungserbringer akzeptiert und angestrebt werden. Dabei sollte eng mit der betroffenen Person zusammengearbeitet werden, denn um seine Ziele geht es. Damit Ziele motivieren und der erstrebten Zustand vorstellbar gemacht wird, sind sie positiv zu formulieren, das heißt sie beziehen sich nicht auf vorhandene Defizite, sondern beschreiben den positiven Gegensatz zum Status Quo. Ergebnisziele sollen nicht überfordern, sondern tatsächlich erreichbar sein. Möglicherweise muss man hierbei etwas kleinschrittiger vorgehen und zunächst Teilziele formulieren, oder sich auf wenige Ziele konzentrieren. Ziele werden als eingetretenes Ergebnis beschrieben, anstelle eines in der Zukunft liegenden Ereignisses. Diese Formulierung lenkt den Blick auf das, was tatsächlich im festgelegten Zeitraum erreicht werden soll.
T - Terminiert
Eine zeitliche Terminierung des Teilhabeplans bindet Leistungserbringer und Klient, sie dient der Effektivitätssicherung und Effizienzsteigerung. Durch die zeitliche Terminierung wird ein Teilhabeplan überprüfbar und kann nach Ablauf kontrolliert werden. Um das zu gewährleisten, werden sie für einen überschaubaren Zeitraum vereinbart, in dem sie erreicht werden sollen.
„Planung ist ein Prozess. [...] Es gibt keine Garantie, dass geplante Ziele erreicht werden und der Zustand eintritt, den man sich vorgenommen hat. Dies ist kein grundsätzlicher Fehler, bedeutet aber, in den folgenden Planungsperioden genauer und realistischer zu planen. Ziele können sich ändern, Situationen können sich ändern, zur Bedarfsdeckung notwendige Leistungen können sich ändern. Planung ist dynamisch und nicht statisch zu begreifen. Sie ist stabil im Planungszeitraum, es sei denn, eine nicht vorhersehbare Veränderung der Situation erzwingt eine Änderung der Planung. Sie ist dynamisch in der Fortschreibung.“ [5]
1.5 Einleitung in die Fragestellung
„Problem-Talk creates Problems, Solution-Talk creates Solutions“ [6]
Dieser Satz stammt von Steve de Shazer, einem Begründer des lösungsfokussierten Ansatzes. Diese Aussage soll in dieser Arbeit auf die Probe gestellt werden – oder anders formuliert: Behindert Problemorientierung das Erreichen von Zielen und lassen sich lösungsfokussierte Ziele besser erreichen? Dafür soll auf zwei Arten von Zielen eingegangen werden, die der Psychotherapie-Forscher Klaus Grawe beschreibt: Annäherungs- und Vermeidungsziele. Vermeidungsziele möchten die Diskrepanz zu einem negativ bewerteten Ziel erhöhen, um die Person vor etwas Negativem zu schützen.
Zum Beispiel:
„Ich möchte nicht mehr so viel Fernsehen.“
„Ich möchte keinen Alkohol mehr trinken.“
Vermeidungsziele möchten das Problem möglichst reduzieren.
Im Gegensatz dazu befassen sich Annäherungsziele mit der Lösung: Sie möchten die Diskrepanz zu einem positiv bewerteten Ziel verringern und dienen der Erfüllung.[7] Zum Beispiel:
„Statt Fernsehen zu schauen, lese ich das Buch, das ich schon so lange lesen möchte.“
„Wenn ich Suchtdruck habe und Alkohol trinken möchte, rufe ich jemanden an, der mir in dieser Situation hilft.“
Ein Ziel, das SMART formuliert ist, soll motivieren und wird deshalb positiv formuliert, ein „SMARTes“ Ziel ist ein Annäherungsziel. Umgekehrt ist nicht jedes Annäherungsziel SMART, da die SMART-Formel noch mehr Kriterien wie Messbarkeit, Terminierung oder Konkretheit miteinschließt. Die Fragestellung für diese Arbeit soll sich mit Zielen nach Klaus Grawe beschäftigen: Kommt man in der Eingliederungshilfe besser ans Ziel, wenn man sich Annäherungsziele setzt, und auf Vermeidungsziele verzichtet? Mit welchem Ziel kommt man ans Ziel? Um eine Antwort auf diese Fragestellung zu finden, werden Vermeidungs- und Annäherungsziele in der nachfolgenden Arbeit näher betrachtet und abschließend synoptisch gegenübergestellt.
[...]
[1] vgl. http://www.kreis-badkreuznach.de/kreisverwaltung/aemter/amt-4-sozialamt/
[2] vgl. § 2 Abs. 1 SGB IX
[3] vgl. § 53 Abs. 3 SGB XII
[4] (Ohne Verfasser) in Zusammenarbeit mit der LIGA der freien Wohlfahrtspflege, dem Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime und ambulanter Dienste und den kommunalen Spitzenverbänden 2005: S. 26f
[5] (Ohne Verfasser) in Zusammenarbeit mit der LIGA der freien Wohlfahrtspflege, dem Bundesverband privater Alten- und Pflegeheime und ambulanter Dienste und den kommunalen Spitzenverbänden 2005: S. 24
[6] De Shazer nach von Schlippe/Schweitzer 1996: S. 35
[7] Grawe 2004: S. 278