Nur zwölf Jahre nachdem Ferruccio Busoni in seinem futuristischen Essay "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" beklagte, dass die Entfaltung der Tonkunst an den physischen Limitierungen und dem eingrenzenden Stimmungssystem unseres traditionellen Instrumentariums scheitert, erklingt in der Pariser Opéra ein neuartiges Instrument, das sowohl Tradition und Zukunft, als auch Musikalität und Technologie geschickt in sich vereinen konnte.
Der Cellist, Radiotechniker und Pädagoge Maurice Martenot gewann mit der Präsentation seines Ondes Martenot große Aufmerksamkeit von zahlreichen Komponisten aus allen bedeutenden Metropolen der Welt. Sein Instrument erklang zunehmend in den größten Konzerthäusern und Theatern Frankreichs, in bekannten US-amerikanischen Filmen und im Hör- und Rundfunk. Es wurde an angesehenen französischen und kanadischen Konservatorien gelehrt und findet auch aktuell seinen Platz in der modernen populären Musik, wie beispielsweise in Daft Punks Song Touch aus dem Jahr 2013.
Maurice Martenot konnte mit seinem Instrument in der Zeit eines konträren musikästhetischen Diskurses die traditionell orientierte Hörerschaft mit den hohen Ansprüchen eines sich rasch entwickelnden technologischen Fortschritts vereinen, sodass das Ondes Martenot entgegen zahlreicher Entwicklungen anderer elektronischer Instrumente, wie zum Beispiel Jörg Magers „Sphärophon“, als serienproduziertes neues Instrument kommerzielle Erfolge und gleichzeitig ein bedeutendes Ansehen in der Kunstmusik gewinnen konnte. Das offensichtlich noch bestehende Interesse für dieses vielseitige Instrument spricht dafür, dass die Faszination nicht verklungen ist und auch weiterhin durch die aktuelle Renaissance analoger elektronischer Instrumente wachgehalten werden wird.
Diese Arbeit widmet sich neben den Entstehungskontexten und den Problemen zur Notation elektroakustischer Musik hauptsächlich der Funktionsweise der elektrotechnischen Klangerzeugung dieses Instruments; ebenso der Frage, wie die Oszillatoren jene Klänge in ihrer vorgesehenen Tonhöhe produzieren und wie die hochfrequenten Oszillationen überhaupt hörbar gemacht werden können. Schließlich werden die relevanten Nachfolger des Instruments behandelt, die nach dem Produktionstop 1988 sowohl in digitaler als auch in analoger Ausführung realisiert wurden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Entwicklungskontexte
2.1 Maurice Martenot
2.2 Uraufführung, Rezeption und Studium
2.3 Notation und Interpretation
2.4 Modelle und Variationen
3 Klangerzeugung und Klangmanipulation
3.1 Oszillatoren
3.1.1 Schwebungsprinzip
3.1.2 Elektronenröhren
3.2 Ansteuerung und Kontrollmodule
3.2.1 Tiroir
3.2.2 Touche d’intensité
3.2.3 Ring
3.2.4 Klaviatur
3.2.5 Pedale und Filter
3.2.6 Stimmvorgang
3.3 Klangabstrahlung
4 Nachfolger
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Nur zwölf Jahre nachdem Ferruccio Busoni in seinem futuristischen Essay Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst beklagte, dass die Entfaltung der Tonkunst an den physischen Limitierungen und dem eingrenzenden Stimmungssystem unseres traditionellen Instrumentariums scheitert, erklingt in der Pariser Opéra ein neuartiges Instrument, das sowohl Tradition und Zukunft, als auch Musikalität und Technologie geschickt in sich vereinen konnte.
Der Cellist, Radiotechniker und Pädagoge Maurice Martenot gewann mit der Präsentation seines Ondes Martenot große Aufmerksamkeit von zahlreichen Komponisten aus allen bedeutenden Metropolen der Welt. Sein Instrument erklang zunehmend in den größten Konzerthäusern und Theatern Frankreichs, in bekannten US-amerikanischen Filmen und im Hör- und Rundfunk. Es wurde an angesehenen französischen und kanadischen Konservatorien gelehrt und findet auch aktuell seinen Platz in der modernen populären Musik, wie beispielsweise in Daft Punks Song Touch aus dem Jahr 2013.[1]
Das Ondes Martenot basiert auf von Elektronenröhren erzeugte Schwingungen, angesteuert von einer Ringvorrichtung oder einer üblichen, für die Ausführung eines Vibratos jedoch horizontal beweglichen Klaviatur. Zahlreiche Klangfarben können durch Kombination unterschiedlicher Wellenformen und exklusiv für das Instrument entwickelten Lautsprechern verschiedener Charakteristika abgestrahlt werden, während das Ondes Martenot durch Transpositionsknöpfe auch im mikrotonalen Bereich agieren und die linke Hand mittels eines druckempfindlichen Tasters die Intensität und Lautstärke des monophonen Instruments bestimmen kann.
Diese Arbeit widmet sich neben den Entstehungskontexten und den Problemen zur Notation elektroakustischer Musik hauptsächlich der Funktionsweise der elektrotechnischen Klangerzeugung dieses Instruments; ebenso der Frage, wie die Oszillatoren jene Klänge in ihrer vorgesehenen Tonhöhe produzieren und wie die hochfrequenten Oszillationen überhaupt hörbar gemacht werden können. Schließlich werden die relevanten Nachfolger des Instruments behandelt, die nach dem Produktionstop 1988 sowohl in digitaler als auch in analoger Ausführung realisiert wurden.
2 Entwicklungskontexte
2.1 Maurice Martenot
Maurice Louis Eugène Martenot wurde am 14. Oktober 1898 im elften Arrondissement von Paris geboren und verstarb am 8. Oktober 1980 in Clichy.[2] Bereits in seiner frühen Kindheit erlernte er das Spielen des Violoncellos und zeigte zudem ein leidenschaftliches Interesse an der Elektrizität und Elektronik;[3] beide Interessen schlugen sich schließlich im Laufe seines Lebens auch in seinen Erfindungen nieder, während er am Pariser Konservatorium neben Violoncello auch Klavier und Komposition studierte.[4] Am Ende des ersten Weltkriegs wurde er im Alter von 20 Jahren in eine mobile Einheit für Telekommunikation einberufen, währenddessen er die extreme Reinheit der Vibrationen von Trioden bemerkte und anschließend näher untersuchte.[5] Weiterhin war Maurice Martenot als Pädagoge tätig; von ihm stammt die sogenannte „Méthode Martenot“, die sich mit musikpädagogischen und philosophischen Ansätzen dem Bildungspotential von Musik im humanistischen Sinne widmet und besonders in Lateinamerika eine weite Verbreitung fand.[6] Die „Méthode Martenot“ richtet sich im Wesentlichen dagegen, dass der Werdegang und die öffentliche Identifikation eines Musikers auf das Gewinnen von Preisen und Wettbewerben basiert, während er sich weiterhin für neue, weniger analytische Hörmethoden im Musikunterricht sowie der Musik als fundamentales Mittel zur Wesensbildung ausspricht.
Die Kombination aus seinem Forschungsdrang, dem Streben nach künstlerischer Verwirklichung und gelungenen technischen Realisationen führten dazu, dass Maurice Martenot die Entwicklung seines Instruments über einen Zeitraum von beinahe fünfzig Jahren für den Anwender kontinuierlich perfektionierte und etwas geschaffen hat, was von vornherein durch seine ‚Musikalität‘ überzeugen konnte. Die Erfindung des Ondes Martenot konnte nicht nur die Ansprüche einer eher traditionell orientierten Hörerschaft erfüllen, sondern auch als inspirierender Wegweiser für darauffolgende und aktuelle Entwicklungen der elektronischen Musikinstrumente genutzt werden.
2.2 Uraufführung, Rezeption und Studium
Am 20. April 1928 wurde das Ondes Martenot erstmals in einer Uraufführung von Dimitrios Levidis Poéme Symphonique pour solo d’ondes musicales et orchestre in der Pariser Opéra von Maurice Martenot selbst gespielt und der Öffentlichkeit präsentiert, ein Jahr nachdem dort das Theremin von Lev Termen vorgestellt wurde.[7] [8]
Das Ondes Martenot gewann mit jedem weiterentwickelten Modell große Anerkennung unter den Komponisten verschiedener Strömungen und erhielt schon bald einen festen Platz in zahlreichen französischen Theatern und Opern, während die Serienproduktion auf regen Absatz traf.[9] Der Preis für ein Konzertmodell des Instruments lag um 1960 in Deutschland bei 2800 Mark, das weniger umfangreiche Kammermusikmodell mit nur fünf statt sieben Oktaven und ohne Ringmodus konnte für 1650 Mark erworben werden und schien im Vergleich zu Klavieren und Flügeln relativ erschwinglich zu sein.[10] Letztendlich wurden bis zum letzten Modell insgesamt 370 Exemplare in Maurice Martenots Werkstatt neben einigen Sonderanfertigungen produziert,[11] darunter auch eine extrem komplizierte Abwandlung des vierten Modells für den bengalischen Dichter Rabindranath Tagore im Jahre 1933, auf dem die Oktave in 66 Tasten eingeteilt wurde; dieses Instrument bleibt leider bis heute, vermutlich nahe Indien, verschollen.[12]
Das wohl bekannteste Werk das zur Berühmtheit des Instruments beigetragen hat ist die Fête des belles eaux, komponiert von Olivier Messiaen im Jahre 1937 für sechs Ondes Martenot, uraufgeführt auf dem fünften Modell des Instruments.[13] Es wurde von der Stadt Paris anlässlich des „Festes der schönen Wasser“ auf der „Exposition Universelle de Paris“ kommissioniert,[14] für welches auch weitere Werke für das Ondes Martenot unter diversen Besetzungen beispielsweise von Honegger, Milhaud und Berlinski komponiert wurden.[15] Nach diesem Fest, welches direkt auf der Pariser Seine stattfand, rückte das Instrument und mit ihr die elektronische Musik im Allgemeinen in die öffentliche Wahrnehmung, woraufhin Kompositionen von weiteren namhaften Komponisten wie Edgard Varèse oder André Jolivet folgten. Dadurch, dass der elektronische Klang entgegen der Intention Maurice Martenots nun mit einer „musikalischen Mystik“[16] gekoppelt zu sein schien, wurde zeitgleich auch der Weg für zahlreiche effektorientierte Implementationen in Rundfunk, Film- und Theatermusik geebnet.
Im Jahr 1947 wurde die erste Meisterklasse am Pariser Konservatorium gegründet, nachdem sich dessen Direktor Claude Delvincourt an Maurice Martenot wandte und diesen als ersten Dozenten anwerben konnte.[17] In den darauffolgenden Jahrzehnten wurden neben Lehrangeboten an Privatschulen auch Meisterklassen an sechs weiteren französischen Konservatorien sowie im kanadischen Quebec und Ottawa angeboten.[18]
2.3 Notation und Interpretation
Die Notation des Ondes Martenot basiert im Wesentlichen auf traditionelle Notationsweisen, die mit textlichen Zusätzen, Anweisungen und graphischen Skizzierungen bezüglich der Klangfärbung und Spielweise versehen wurden; aufgrund der allgemeinen Problematik der Notation für elektroakustische Instrumente kann diese allerdings, abhängig vom Komponisten, deutlich variieren. Diese Problematik betrifft im Besonderen die Kategorisierung und Notation bestimmter Klangfarben, da dessen Reproduzierbarkeit von zahlreichen Parametern abhängig ist, die in der traditionellen Notation nur inadäquat ausgeführt werden können.
An dieser Stelle wird eine gewisse Dichotomie zwischen einer ‚beschreibenden‘ und einer transkribierenden Notationsart deutlich, die vom Interpreten ein gewisses Gleichgewicht zwischen einer präzisen Umsetzung des Notentextes und einer obligatorischen Freiheit der Klangfärbung fordert. Der Rahmen dieser Freiheit der Klangfärbung soll bei Interpreten, die eine originalgetreue Aufführung vollziehen möchten, durch die Beschäftigung mit den notierten Anweisungen und Notizen in den Manuskripten sowie mit dem Hinzuziehen von historischen Aufnahmen sinnvoll definiert werden.[19] Es gab zahlreiche Versuche der elektroakustischen Notation, von denen sich jedoch keine bestimmte vereinheitlichte Form durchsetzen konnte. Häufig wurde jedoch in verschiedenen Ansätzen das Konzept einer graphischen, gestischen und spektralanalytischen Darstellungsweise aufgegriffen, zusätzlich zu einer beschreibenden Kategorisierung von Klangfarben und deren Implementation im Notentext durch neue Formen der Symbolik. Letztendlich galt es für das Ondes Martenot mit Blick auf dessen breite Rezeption eine kompromisshafte Notation zu verwenden, die weder zu komplex noch zu simpel ist. Wie auch in jeder traditionellen Komposition können die Intention des Komponisten und die Realisation durch den Interpreten und seinem Instrument nur bedingt konvergieren; je mehr Parameter jedoch einfließen, wie zum Beispiel das Summenverhältnis zwischen den Oszillatoren des Ondes Martenot, desto schwieriger wird es eben diese Konvergenz aufrechtzuerhalten.
[...]
[1] „Daft Punk – Random Access Memories“, Discogs, https://www.discogs.com/de/Daft-Punk-Random-Access-Memories/release/5290712, abgerufen am 26.07.2016.
[2] Archives numérisées de l'état civil de Paris, acte de naissance no. 11/4222/1898, abgerufen am 20.07.2016.
[3] Jeanne Loriod, Technique de L'Onde Electronique. Volume I: Le Clavier, Paris 1987, S. 4.
[4] Richard Orton u. Hugh Davies, Art. „Ondes martenot“, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com, abgerufen am 20.07.2016.
[5] Jeanne Loriod, Technique de L'Onde Electronique. Volume I: Le Clavier, Paris 1987, S.6.
[6] Ana Lucía Frega, „A Comparison of the Teaching Strategies of Maurice Martenot and Edgar Willems: Conclusions and Implications for Future Research, in: Bulletin of the Council for Research in Music Education, Heft 127 (Winter 1995/1996), S. 66.
[7] Richard Orton u. Hugh Davies, Art. „Ondes martenot“, in: Grove Music Online. Oxford Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com, abgerufen am 20.07.2016.
[8] Fred K. Prieberg, Musica Ex Machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, 1960 Frankfurt u. Berlin, S.214.
[9] Ebd., S. 215.
[10] Ebd.
[11] Thomas Bloch, CD-Booklet für Music for ondes Martenot, Naxos 8.555779, 2004, S. 6.
[12] Jeanne Loriod, Technique de L'Onde Electronique. Volume I: Le Clavier, Paris 1987, S. 7.
[13] Ebd., S. 7f.
[14] Ebd.
[15] Fred K. Prieberg, Musica Ex Machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, 1960 Frankfurt u. Berlin, S. 219.
[16] Ebd., S. 216.
[17] Jeanne Loriod, Technique de L'Onde Electronique. Volume I: Le Clavier, Paris 1987, S. 9.
[18] Ebd.
[19] Gregorio García Karman, „Closing the Gap between Sound and Score in the Performance of Electroacoustic Music“, in: Sound & Score. Essays on Sound, Score and Notation, Leuven 2013, S. 151.