Unterrichtsstörungen theoretisch reflektieren und effektiv beheben
Bericht zum berufsfelderschließenden Schulpraktikum
Zusammenfassung
Eine besondere Herausforderung bedeuten Störungen für Nachwuchslehrerinnen, etwa weil ihnen noch die professionelle Routine im Umgang mit denselben fehlt. In meinem berufsfelderschließenden Praktikum habe ich mich mit Unterrichtsstörungen auseinandergesetzt, gerade weil ich als Nachwuchslehrer durch sie besonders gefordert sein werde. Anhand der übergeordneten Fragestellung, welche Störungen im Gymnasialunterricht auftreten und wie man sie wirksam beheben kann, habe ich Unterricht in zahlreichen Jahrgängen, Klassen, Kursen und Fächern bzw. bei zahlreichen Lehrerinnen beobachtet.
Als theoretisches Fundament für meine Beobachtungen und deren Auswertung haben Texte aus der Erziehungswissenschaft zum Thema Störungsmanagement gedient. In diesen wird einerseits diskutiert, was Unterrichtsstörungen sind und wodurch sie verursacht werden, andererseits wie sie erfolgreich behoben werden können, wobei es unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte gibt. Am Ende meines zum Praktikum verfassten Berichts stehen die Beantwortung meiner Forschungsfrage sowie ein produktiver Vergleich zwischen Theorie und Praxis des Störungsmanagements.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Profil der Praktikumsschule
3. Praktikumsprojekt
3.1 Problem und Zielsetzung
3.2 Theoretischer Hintergrund
3.3 Methodisches Vorgehen
3.4 Ergebnisse
3.5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
4. Abschließende Reflexion zum Blockpraktikum
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Das iPhone einer Schülerin vibriert auf dem Tisch, in der letzten Reihe tuscheln zwei Schüler hinter ihren Büchern, der Lehrer klagt über zu wenige Meldungen, vor den geöffneten Fenstern werden hörbar Glascontainer geleert – Störungen wie diese sind ein ebenso fester Bestandteil des Schulunterrichts, wie es Stundenbeginn und -ende, die Kontrolle der Hausaufgaben oder das Aufschlagen der Lehrbücher sind. Tatsächlich stellen Unterrichtsstörungen keine Seltenheit dar; im Durchschnitt treten sie alle zwei Minuten auf[1], so dass jede Lehrkraft jeden Tag mit ihnen konfrontiert wird. Eine besondere Herausforderung bedeuten Störungen für Nachwuchslehrerinnen[2], etwa weil ihnen noch die professionelle Routine im Umgang mit denselben fehlt.[3]
In meinem berufsfelderschließenden Praktikum habe ich mich mit Unterrichts-störungen auseinandergesetzt, gerade weil ich als Nachwuchslehrer durch sie besonders gefordert sein werde. Anhand der übergeordneten Fragestellung, welche Störungen im Gymnasialunterricht auftreten und wie man sie wirksam beheben kann, habe ich Unterricht in zahlreichen Jahrgängen, Klassen, Kursen und Fächern bzw. bei zahlreichen Lehrerinnen beobachtet. Als theoretisches Fundament für meine Beobachtungen und deren Auswertung haben Texte aus der Erziehungswissenschaft zum Thema Störungsmanagement gedient. In diesen wird einerseits diskutiert, was Unterrichtsstörungen sind und wodurch sie verursacht werden, andererseits wie sie erfolgreich behoben werden können, wobei es unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte gibt. Am Ende meines zum Praktikum verfassten Berichts stehen die Beantwortung meiner Forschungsfrage sowie ein produktiver Vergleich zwischen Theorie und Praxis des Störungsmanagements.
Der Bericht selbst ist wie folgt strukturiert: In Kapitel 2 stelle ich zunächst meine Praktikumsschule, das XX-Gymnasium in XX vor, an dem ich vom 7.9. bis 2.10.2015 hospitiert habe, wobei ich vor allem auf diejenigen Aspekte eingehe, die meine Fragestellung betreffen. Kapitel 3 bildet den Hauptteil der vorliegenden Arbeit, es beschreibt das eigentliche Praktikumsprojekt. In Kapitel 3.1 erkläre ich das Thema Störungsmanagement, ich verdeutliche seine schulpraktische Relevanz und entwickle meine Forschungsfrage. Kapitel 3.2 beinhaltet den theoretischen Hintergrund – was eine Unterrichtsstörung ist, wird definiert und diskutiert, Störungsursachen und -arten erläutert, vor allem aber Strategien vorgestellt und miteinander verglichen. Daraus ergibt sich meine in Kapitel 3.3 entwickelte Beobachtungsmethode. Ferner lege ich Störungskategorien fest, beschreibe meine Datengrundlage und erkläre, auf welche Weise ich meine Daten ausgewertet habe. Während ich in Kapitel 3.4 die Ergebnisse meiner Beobachtungen auswerte, indem ich für jede Kategorie angebe, welche Maßnahmen ich beobachtet habe und dabei auf zahlreiche Besonderheiten eingehe, interpretiere ich die Ergebnisse in Kapitel 3.5. Diese Interpretation orientiert sich an zentralen Thesen, bindet den theoretischen Hintergrund ein und mündet in die Beantwortung meiner Forschungsfrage. Zum Abschluss reflektiere ich das Schulpraktikum in Kapitel 4, dabei gehe ich u.a. auf meinen persönlichen Gewinn und das praktikumsvorbereitende Seminar ein.
2. Profil der Praktikumsschule
Das in der XX im Berliner Bezirk XX gelegene, 1833 erstmals eröffnete XX-Gymnasium habe ich aus mehreren Gründen als Praktikumsschule ausgewählt.[4] Zuerst war mir als angehendem Gymnasiallehrer für Deutsch und Philosophie / Ethik wichtig, dass ich beide Fächer an einem Gymnasium in der Praxis erleben kann, was an dieser staatlichen konfessionslosen Schule möglich war. Durch meine Recherchen im Vorfeld wusste ich, dass in der Sek. II kein Philosophieunterricht angeboten wird, da es keine Lehrerinnen mit dem dafür notwendigen Philosophiestudium gibt.[5] Dieser Nachteil wurde jedoch dadurch ausgeglichen, dass die XX-Schule zu den wenigen Oberschulen des Landes gehört, die eine 5. Klasse aufmachen, so dass es auch eine 6. Klasse gibt. Wie mir Frau Fontane später erklärte, gibt es seit dem Schuljahr 2012/13 jedes Jahr eine 5. Klasse mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt.[6] Regulär richtet das XX-Gymnasium jährlich drei 7. Klassen ein. Ich hatte während meines Praktikums also die Möglichkeit, in allen Jahrgängen der Sek. I und II zu hospitieren.
Des Weiteren habe ich mich für diese Schule entschieden, weil sie mit zwei von vier Berliner Universitäten gut vernetzt ist – das XX-Gymnasium ist aktuell Partnerschule der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität Berlin –, so dass ich davon ausgehen konnte, dass sie im Umgang mit Praktikantinnen erfahren und gegenüber deren Forschungsfragen aufgeschlossen ist. Diese Annahme hat sich bestätigt. Tatsächlich hat keiner der Lehrerinnen auf mein Thema abweisend reagiert, wovor mich die stellvertretende Schulleiterin bei unserem Vorabgespräch gewarnt hatte. So könne es sein, dass gerade die Kolleginnen, die Probleme im Störungsmanagement haben, mich nicht ihren Unterricht beobachten lassen würden.[7] Das war jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil, keine Lehrkraft hat mich aufgrund meiner Forschungsfrage abgewiesen, immer wieder wurde ich an meinen ersten Praktikums-tagen freundlich und neugierig eingeladen, doch mal im Unterricht vorbeizuschauen. Am letzten Tag meines Praktikums hat mir Frau Kafka noch einmal versichert, wie spannend und gewinnbringend es sei, „dass so viele junge Leute von der Uni kommen“[8]. Zu dieser menschlichen und fachlichen Aufgeschlossenheit trägt auch der Umstand bei, dass das XX-Gymnasium einen vergleichsweise hohen Anteil an jungen Lehrkräften hat: Unter den derzeit 83 Lehrerinnen befinden sich 18 Referendarinnen, von denen sieben mit dem Schuljahr 2015/16 ihren Vorbereitungsdienst angetreten haben.
Dieser positive Eindruck spiegelt sich im guten Ruf der Schule wider, wie er aus den aktuellen Zahlen für Schulanmeldungen der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft ersichtlich ist. Aus dieser Übersicht, die die Erstwünsche für weiterführende Schulen ab der 7. Klasse auflistet, geht hervor, dass das XX-Gymnasium mit insgesamt 130 Anmeldungen bei 96 Plätzen das drittbeliebteste des Bezirks ist.[9] Diese Beliebtheit hat mich in meiner Wahl bestätigt, zugleich ging ich davon aus, dass das als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ausgezeichnete Gymnasium keine „Problemschule“ mit gravierenden oder ungewöhnlichen Unterrichts-störungen sein würde. Nicht zuletzt das Selbstverständnis der XX-Schule als einer Institution, die „die Vermittlung der Ideale eines friedlichen und vorurteilsfreien Zusammenlebens von Schülern unterschiedlicher Herkunft an[strebt]“[10] und deren Ziel es ist, ihre „Schüler auf ein Leben in sozialer und demokratischer Verantwortung vorzubereiten“[11], rundet das Bild ab: Das XX-Gymnasium habe ich als eine im besten Sinne moderne Bildungseinrichtung erlebt.
Von einer Besonderheit der Schule, die meine Forschungsfrage nicht unwesentlich berührt, habe ich an meinem ersten Praktikumstag erfahren: Am XX-Gymnasium findet der Unterricht in Doppelstunden statt. Das sogenannte Block-stundenmodell, das 2011 eingeführt und 2015 bestätigt wurde, sieht Unterricht in 90-minütigen Blöcken vor; der erste beginnt 8 Uhr morgens. Ein Aspekt dieses Modells ist der regelmäßige Wechsel zwischen A- und B-Woche, d. h. jede Woche wechselt der Stundenplan, um auch diejenigen Fächer zu realisieren, die eine ungerade Anzahl an Wochenstunden haben. Wie Herr Hauptmann erläuterte, fänden rund 80 bis 90 Prozent der Stunden in Form von Doppelstunden statt.[12] Eingeführt wurde dieses Modell auch, „um weniger Raumwechsel und damit mehr Ruhe in den Schulalltag zu bringen“[13], so der Lehrer. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch der sparsame Gebrauch der Schulklingel: Es läutet nur fünf Minuten vor Beginn eines Blocks, also im Schnitt einmal in zwei Stunden.[14]
In meinen vier Wochen am XX-Gymnasium hat mich dieses Modell überzeugt. Durch die Blöcke herrscht tatsächlich mehr Ruhe auf dem Schulgelände, das immerhin aus zwei Unterrichtsgebäuden – dem Hauptgebäude und dem sogenannten Vorderhaus –, einer nicht auf dem Schulgelände gelegenen Turnhalle und zwei Schulhöfen, von denen einer zur Zeit umgebaut wird, besteht. Die derzeit 831 Schülerinnen müssen so seltener zwischen den einzelnen Orten pendeln. Zudem ist durch das Blockstundenmodell ein intensiveres Lehren und Lernen möglich. Die Schülerinnen bzw. Lehrerinnen müssen sich nicht jeden Tag auf fünf, sechs oder sieben verschiedene Fächer bzw. Stunden vorbereiten und entsprechende Unterlagen bei sich tragen, sondern nur auf durchschnittlich drei. Eine Entlastung also für beide Seiten. Auch meine anfängliche Skepsis, 90-minütige Blöcke seien für die Schülerinnen zu lang, sie müssten spätestens in der zweiten Blockhälfte unruhig und unkonzentriert werden, hat sich nicht bestätigt, obwohl jede Klasse in der Sek. I aus bis zu 32 Schülerinnen besteht. Insgesamt herrschte auf dem Gelände und im Unterricht ein angenehmes, zivilisiertes Klima.
3. Praktikumsprojekt
So sehr sich einzelne Unterrichtstunden in Bezug auf die Schulform, das Fach, den Jahrgang, die Lehrkraft, die Klassengröße und -zusammensetzung oder das konkret zu behandelnde Thema unterscheiden, eins haben alle gemeinsam – sie werden gestört. In manchen Stunden treten häufiger Störungen auf, in manchen weniger. Es gibt Störungen, die heftig sind, andere werden kaum wahrgenommen. Aber keine Stunde verläuft ohne sie – ein Umstand, dem mein Praktikumsprojekt Rechnung trägt.
3.1 Problem und Zielsetzung
Wie Winkel sagt, gehört es zu einem erfolgreichen Lehrer dazu, sich der Realität von „mannigfachen Unterrichtsstörungen“[15] zu stellen. Lohmann sieht Disziplinkonflikte und Unterrichtsstörungen als „unausweichliche und bis zu einem gewissen Grad normale Begleiterscheinungen von Unterricht“[16] an. Thomas spricht vom „Eingeständ-nis, dass es keinen störungsfreien Unterricht gibt“[17]. Doch wie oft wird Unterricht eigentlich gestört? Letzterer führt verschiedene Studien an. Darin heißt es, dass eine Stunde im Durchschnitt alle 2,6 Minuten unterbrochen wird.[18] An anderer Stelle wird gesagt, in 45 Minuten treten über 20 Störungen auf.[19] Manchmal werden „bis zu 60 % der Unterrichtszeit“[20] zur Störungsbehebung verwendet. Bemerkenswert an diesen Zahlen ist, dass sich Thomas dabei sowohl auf eine jüngere Studie von 2004 als auch auf eine deutlich ältere von 1958 beruft. Die Störungsfrequenz scheint also über die Jahrzehnte konstant hoch geblieben zu sein. Demnach gibt es heute nicht mehr oder weniger Unterrichtsstörungen als vor 20 oder 50 Jahren.[21]
Während Störungen also ein fester Bestandteil des Unterrichts sind und alle Lehrerinnen jeden Tag mit ihnen umgehen müssen, scheint doch festzustehen, dass junge Lehrkräfte durch sie stärker herausgefordert werden als ältere. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen legt die Ausbildung den Fokus eher auf die Vermittlung von fachwissenschaftlichen statt -didaktischen Fähigkeiten, die Inhalte spielen also eine zentralere Rolle als deren Vermittlung.[22] Dafür wird die Lehrerinnen-ausbildung vielfach kritisiert. So moniert Thomas deren Praxisferne, die „oft nicht genug an Know-how und wirksamen Strategien“[23] vermittelt. Lohmann bemängelt, dass die Schülerinnen in der Ausbildung keine Rolle spielten, und falls doch, dann nur als ein verklärter Typus.[24] Winkel spricht im Zusammenhang der Lehrerinnenausbildung von einer „Bankrotterklärung“[25] – nicht umsonst erlitten viele Junglehrerinnen nach dem Studium einen „Praxisschock“[26].
Angehende Lehrerinnen werden in ihrem Studium also nicht genügend für den erfolgreichen Umgang mit Unterrichtsstörungen gerüstet. Zum anderen fehlt ihnen – selbst wenn ihre Ausbildung noch so praxisnah sein sollte – der sich erst im Laufe der Berufstätigkeit entwickelnde, wertvolle Routine herstellende „pädagogische Takt“[27]. Diesen erlangt man laut Herbart nur, wenn die Theorie der Ausbildung durch die Praxis des Ausübens vervollkommnet wird – das eine genügt nicht ohne das jeweils andere.[28] Doch ist diese mit der Zeit erlangte Routine kein Allheilmittel. Im Gegenteil, sie stellt auch eine Gefahr dar, wie Lohmann warnt. Denn die Berufspraxis verläuft „hochgradig individuell und es gibt im Schulalltag kaum Möglichkeiten, die negativen Erfahrungen und Frustrationen zu reflektieren und positiv zu verarbeiten.“[29] Die Gefahr besteht also in einem beständigen Zermürbt-Werden, auch weil der tägliche Unterricht das ›Kerngeschäft‹[30] von Schule ausmacht. Dazu kommen einzelne Phänomene, mit denen sich sowohl Berufsanfängerinnen als auch erfahrene Lehrkräfte konfrontiert sehen, etwa wenn sie beim Start in einer neuen Klasse, aber auch in anderen Situationen regelrecht getestet werden.[31]
Wenn ich mich in dieser Arbeit mit dem Thema Störungsmanagement auseinandersetze, so hat das also eine klare schulpraktische Relevanz, weil sich alle Lehrerinnen gegenüber Störungen positionieren müssen, insbesondere am Anfang ihres Berufs-lebens. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass diese Positionierung nur in der Unterrichtspraxis gelernt werden kann und muss. Hier sind Störungen in ihrem basalen Kontext, bestehend aus einem Auslöser, der Störung an sich und einer Gegenmaß-nahme[32], eingebettet. Diesen Kontext will ich im Folgenden untersuchen, wobei der Fokus auf den Gegenmaßnahmen und damit auf dem Lehrerhandeln liegt: Mit welchen Maßnahmen kann man auf welche Störungen reagieren? Welche Maßnahmen sind besonders wirksam, welche weniger? Ist es überhaupt notwendig, auf jede Störung einzugehen? Daraus ergibt sich die übergeordnete Forschungsfrage: Welche Störungen treten im Gymnasialunterricht auf und wie können sie wirksam behoben werden?
Von der Beantwortung dieser Frage verspreche ich mir, besser für die Unterrichtspraxis gerüstet zu sein. Ich möchte lernen, selbst angemessen und effektiv auf Störungen zu reagieren. Darüber hinaus erhoffe ich mir einen produktiven Abgleich von Theorie und Praxis, also zwischen den in der Literatur beschriebenen Unterrichts-störungen bzw. Gegenmaßnahmen und denen, die im von mir beobachteten Unterricht aufgetreten sind.
3.2 Theoretischer Hintergrund
Störungsmanagement theoretisch zu betrachten führt zunächst zu der Frage, was Störungen überhaupt sind. Die aktuelle Forschung vertritt hier größtenteils eine offene, systemische und lösungsorientierte Perspektive, die bereits im Begriff „Störung“ erkennbar ist: „ Eine Unterrichtsstörung liegt dann vor, wenn der Unterricht gestört ist, d.h. wenn das Lehren und Lernen stockt, aufhört, pervertiert, unerträglich oder inhuman wird. “[33] Das bedeutet, wer wen wodurch stört, ist erst einmal sekundär. Notwendigerweise muss allein eine Unterbrechung des Unterrichts vorliegen, um von einer Störung zu sprechen, wobei Unterricht „eine[r] durch Standards geregelte[n], planvolle[n] Praxis der intergenerationellen Fähigkeitsübertragung nach definierten Prinzipien und Methoden der Unterweisung innerhalb von festgelegten Organisations-formen und gesellschaftlichen Einrichtungen“[34] bedeutet. Mit dieser Minimaldefinition von Störung wird ein weites Feld aufgemacht. Es umfasst neben diesem begrifflichen auch fachhistorische, kausale, kategoriale und handlungsorientierte Aspekte, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.
Wie Winkel erklärt, wurden Unterrichtsstörungen lange Zeit als „Disziplinstö-rungen“ bezeichnet – ein Begriff, der einerseits sehr konkret anwendbar wirkt, andererseits bereits Verantwortung und Schuld impliziert und insofern Ausdruck einer heute nicht mehr gültigen Schulpädagogik ist.[35] Schuld an Störungen waren demnach allein die Schülerinnen.[36] Abgelöst wurde der Begriff von der etwas diffuseren Bezeichnung „Verhaltensstörung“. Dieser hat „das Schulklima in vielerlei Hinsicht entgiftet“[37], aber auch das Problem über den Schulkontext hinaus neu verortet und damit zu einer gewissen Hilflosigkeit geführt. Denn zur Behebung von Verhaltensstörungen sind Spezialisten gefragt und keine Lehrerinnen.[38] Gleichwohl gilt auch hier: Schuld an Störungen sind die Schülerinnen. Dabei handelt es sich um eine verführerische Perspektive, die Lohmann näher beschreibt[39]: Denn wenn Störungen aus der Lehrerinnenperspektive meist mit unangemessenem Schülerinnenverhalten gleich-gesetzt werden, dann liegt die Ursache für diese Störungen auch nicht im Unterrichtskontext, sondern in den Persönlichkeitsstrukturen der Schülerinnen. Deren Pathologisierung entlastet die Lehrerinnen, Eltern und Schülerinnen selbst von ihrer Verantwortung. Wenn man dann als Lehrkraft eine schwierige Klasse hat, besteht diese „aus zu vielen verhaltensgestörten Schülern; sie unterrichten zu müssen ist […] schlichtweg berufliches Pech. Der Blick auf andere Einfluss- und Handlungsmöglich-keiten wird verstellt.“[40]
Letztlich kommen beide Begriffe, also Disziplin- und Verhaltensstörung, aus „dem Teufelskreis von Verurteilen und Entschuldigen nicht heraus und haben deshalb mit Pädagogik nichts zu tun. Dieser geht es nämlich um das Verstehen – auch und gerade befremdlicher Situationen“[41]. Allgemein akzeptiert in den Erziehungswissen-schaften wird nunmehr der Begriff „Unterrichtsstörung“. Dieser wirkt im Vergleich zu seinen Vorgängern sehr offen, wenn nicht gar vage. Dabei handelt es sich jedoch um eine gewollte Offenheit, um die komplexe Struktur[42], die sich hinter dem Phänomen verbirgt, freilegen und adäquate Strategien entwickeln zu können.
Sofern eine Störung von Schülerinnen ausgeht – und darauf liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit –, stellt sich die Frage, warum sie stören. Vor allem Lohmann und Winkel gehen dieser Frage nach. Ersterer gibt konkrete Antworten: Schülerinnen stören den Unterricht vor allem aus Langweile und Leistungsdruck.[43] Daneben spielen „das Handlungsziel, die Aufmerksamkeit und Anerkennung durch Lehrer und Mitschüler zu gewinnen“[44] sowie das Streben nach Macht und Vergeltung eine Rolle.[45] Winkel weist darauf hin, dass die meisten Unterrichtsstörungen Signale der Schülerinnen seien, um etwas mitzuteilen, z.B. dass der Unterricht langweilig sei oder man gerade andere Probleme habe.[46] Jenseits der konkreten Unterrichtssituation nennt Winkel zudem „individuelle, familiäre, gesellschaftliche, historische, zeittypische“[47] Ursachen, die aber oft verborgen bleiben. Bei der Störungsanalyse gelangt man hier also auf eine einigermaßen abstrakte Ebene, die umso abstrakter wird, da, wie Thomas anmerkt, nicht alle Störungen bewusst geplant werden und sie fließend ineinander übergehen.[48]
Bleibt man bei den Schülerinnen als Störungsursache, können weiterhin verschiedene Störungsarten ausfindig gemacht werden. Lohmann nimmt dazu eine Einteilung in vier Kategorien vor; er unterscheidet zwischen verbalen Störungen vom Flüstern bis hin zu Beleidigungen, mangelndem Lerneifer, der sich in geistiger Abwesenheit oder auch Unaufmerksamkeit äußern kann, motorischer Unruhe wie Kippeln oder Umherlaufen und schließlich aggressivem Verhalten.[49] Dabei nimmt das verbale Störverhalten quantitativ „eine Spitzenstellung“[50] ein, während veritable Aggressionen eher selten auftreten. Etwas abweichend davon hält Thomas fünf Erscheinungsformen fest: Auch er sieht verbales Störverhalten und motorische Unruhe als eigene Kategorien an, differenziert aber zwischen aggressivem Verhalten und Provokationen – erstere richten sich gegen Mitschülerinnen, letztere gegen Lehrerinnen. Eine besondere Störungsart ist die geringe Mitarbeit, darunter versteht Thomas „fehlende Aufgaben und Materialien, Unaufmerksamkeit, Desinteresse, geistige Abwesenheit, Nebenbeschäftigungen“[51].
[...]
[1] Vgl. Thomas, Lutz: Unterrichtsstörungen mit System begegnen. Flexible Strategien für schwierige Situationen. Berlin 2013, S. 1. Vgl. zur Störungsfrequenz auch Kap. 3.1.
[2] Zwecks einer besseren Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit nur eine Pluralform, und zwar die weibliche. Sie schließt alle Geschlechter mit ein.
[3] Vgl. Kap 3.1 für weitere Gründe, warum Störungen besonders junge Lehrerinnen herausfordern.
[4] Alle Informationen zum XX-Gymnasium stammen, sofern nicht mit anderer Quelle versehen, von der Website der Schule.
[5] Derzeit haben nur die Referendarinnen ein solches Studium absolviert.
[6] Feldnotiz aus dem Gespräch mit Frau Fontane am 9.9.2015 um 9 Uhr 45. Zur Anonymisierung der von mir zitierten Lehrerinnen verwende ich durchgängig und einheitlich die Nachnamen deutschsprachiger Autorinnen.
[7] Auch wenn ich auf mein Forschungsthema an dieser Stelle noch nicht weiter eingehe, möchte ich kurz darauf hinweisen, dass Störungsmanagement von den Lehrerinnen beim Kennenlernen im Lehrerinnenzimmer oft missverstanden wurde. Viele assoziierten damit lediglich störendes, d.h. provokantes oder aggressives Verhalten der Schülerinnen bzw. dessen Unterbindung. Dass der Begriff viel mehr umschließt, war ihnen nicht bewusst. Insofern ist es umso erstaunlicher, dass jede Lehrkraft am XX-Gymnasium mir und meinem Thema gegenüber aufgeschlossen war.
[8] Feldnotiz aus Gespräch mit Frau Kafka am 1.10.2015 um 11 Uhr 40.
[9] Köhler, Regina: Das sind Berlins beliebteste Gymnasien. Berliner Morgenpost, 31.3.2015. http://www.morgenpost.de/berlin/article138947938/Das-sind-Berlins-beliebteste-Gymnasien.html. Auf dem ersten Platz der Bezirksstatistik liegt das Leibniz-Gymnasium, das außerdem das zweitbeliebteste Gymnasium von ganz Berlin ist.
[10] XX
[11] Ebd.
[12] Feldnotiz aus dem Gespräch mit Herrn Hauptmann am 7.9.2015 um 8 Uhr 15.
[13] Feldnotiz aus dem Gespräch mit Herrn Hauptmann am 7.9.2015 um 8 Uhr 15.
[14] Dieser sparsame Einsatz der Klingel ist natürlich eine Herausforderung für die Lehrerinnen, die ihren Unterricht ohne ein entsprechendes Signal beginnen bzw. beenden müssen. Manche verwenden eine Glocke. Vgl. zum Glockengebrauch Kapitel 3.4.
[15] Winkel, Rainer: Der gestörte Unterricht. Diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Baltmannsweiler 2011, S. 2.
[16] Lohmann, Gert: Mit Schülern klarkommen. Professioneller Umgang mit Unterrichtsstörungen und Disziplinkonflikten. Berlin 2013, S. 14.
[17] Lutz 2013, S. 8.
[18] Vgl. ebd., S. 1.
[19] Vgl. ebd.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. Winkel 2011, S. 9. Ähnliches deutet Winkel an.
[22] Zur Bestätigung dieser These dient ein Blick auf meine eigene, aktuelle Bachelor-Studienordnung. Laut dieser muss ich in meinem Hauptfach 16 Module absolvieren, davon 13 zur Fachwissenschaft, eins zur Fachdidaktik und zwei zur Erziehungswissenschaft im Allgemeinen. In meinem Nebenfach steht ein fachdidaktisches Modul sieben fachwissenschaftlichen gegenüber.
[23] Thomas 2013, S. 1. Vgl. dazu auch Lohmann 2013, S. 9. „Das Problem ist, dass viele Lehrkräfte auf diese Situation nur unzureichend vorbereitet sind. Zum einen erfolgt die Ausbildung häufig zu theoretisch. Die Studierenden werden an der Universität als Experten für bestimmte Fächer ausgebildet. [ … ] “
[24] Vgl. Lohmann 2013, S. 9. Dementsprechend versteht Lohmann seinen mit unzähligen konkreten Tipps versehenen Band als ein Praxishandbuch, das vor allem bei seiner „Hauptzielgruppe“, den Berufsanfängerinnen, die praktischen Mängel der Lehrerinnenausbildung kompensieren und als Rüstzeug im Umgang mit Schülerinnen dienen soll.
[25] Winkel 2011, S. 112.
[26] Vgl. ebd. Dieser Schock lasse die Berufsanfängerinnen geradezu hilflos, wenn auch mit viel Verständnis auf Störungen reagieren, so Winkel.
[27] Herbart, Johann Friedrich. Die ersten Vorlesungen über Pädagogik. in: Asmus, Walter (Hg.): Pädagogische Schriften. Erster Band. Kleinere pädagogische Schriften. Stuttgart 1982, S. 124 – 127, hier S. 126.
[28] Vgl. ebd. , S. 127.
[29] Lohmann 2013, S. 9.
[30] Reusser, Kurt: Unterricht. in: Andresen, Sabine / Casale, Rita / Gabriel, Thomas / Horlacher, Rebekka / Larcher Klee, Sabina / Oelkers, Jürgen (Hg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim, Basel 2009, S. 881 – 896, hier S. 881.
[31] Vgl. Thomas 2013, S. 27. Lehrer werden z.B. durch provokantes Nachfragen oder Nicht-locker-Lassen getestet. Vgl. Winkel 2011, S. 87 f. In einer Testsituation rät Winkel, diese nicht zu ignorieren, sondern adäquat auf sie einzugehen und den Test so als berechtigt zu erklären. Tatsächlich soll man als Lehrkraft den Ball an die Klasse zurückspielen, indem man fragt, wie die Schülerinnen in dieser Situation reagieren würden, so dass jeder kurz in die Rolle der Lehrkraft schlüpft und die Situation auf diese unerwartete Weise entspannt wird.
[32] In dieser Arbeit verstehe ich unter (Gegen-)Maßnahme eine einzelne Handlung zur Störungsbehebung, unter Strategie eine Kombination verschiedener Maßnahmen und unter (Störungs-)Management die Gesamtheit aller Strategien bzw. Maßnahmen einer Lehrkraft.
[33] Winkel 2011, S. 29. Die Forschungsliteratur macht verschiedene Definitionsangebote. Für diese Arbeit soll die Definition von Winkel maßgeblich sein, da sie in Bezug auf die Forschungsfrage am offensten und produktivsten erscheint. Thomas verwendet keine eigene Definition, sondern verweist auf Winkel und Lohmann. Vgl. Thomas 2013, S. 10. Eikenbusch arbeitet durchgängig mit der nicht näher erläuterten Wendung „schwierige Situationen“: „Von ›schwierigen Schülern‹ zu sprechen, verkürzt also das Problem, da Lehrkräfte durch ihre Reaktion, Überzeugungen und Handeln beeinflussen, wie Schüler sich verhalten. Spricht man stattdessen von ›schwierigen Situationen‹ im Unterricht, ermöglicht dies, den Anteil und die Mitverantwortung der Lehrer zu sehen.“ Eikenbusch, Gerhard: Nicht jede schwierige Situation ist ein Problem. Wie man mit Krisen, Störungen und Konflikten umgehen kann. in: Pädagogik, Heft 11/2011, S. 6 – 10, hier S. 6 f. Lohmann hingegen erklärt etwas umständlich, „Unterrichtsstörungen sind Ereignisse, die den Lehr-Lern-Prozess beeinträchtigen, unterbrechen oder unmöglich machen, indem sie die Voraussetzungen, unter denen Lehrern und Lernen erst stattfinden kann, teilweise oder ganz außer Kraft setzen.“Lohmann 2013, S. 13. Zugleich soll Winkels Band an dieser Stelle aus mehreren Gründen ausdrücklich kritisiert werden. Erstens wirkt das erstmals 1976 erschienene, inzwischen vielfach überarbeitete Werk in der aktuellen, zehnten Auflage recht unsortiert. Zweitens macht es immer wieder einen unwissenschaftlichen Eindruck, was vor allem an der saloppen Sprache liegt. Drittens ist die verwendete Sekundärliteratur zu alt – das immerhin 26-seitige Literaturverzeichnis beinhaltet nur elf Titel aus den 2000ern, keinen aus den 2010ern, der Großteil stammt aus den 1970ern. Genauso alt ist das von ihm bevorzugte theoretische Konzept der Kommunikativen Didaktik (Vgl. S. 50). Viertens ist der Band offen sexistisch. In einer längeren Fußnote erklärt Winkel, er werde keine „sprachlichen Verrenkungen“ vornehmen, um Lehrerinnen und Lehrer gleichberechtigt anzusprechen, denn das wäre nur Ausdruck einer „z. Zt. dominanten correctness “ (Vgl. S. 13). Fünftens distanziert er sich von körperlichen Strafen wie Ohrfeigen zu wenig (Vgl. S. 116 f.); womöglich hat er dieses Detail bei den zahlreichen Neubearbeitungen aber einfach übersehen. Gleichwohl bietet Winkel mit Der gestörte Unterricht einen umfassenden, aus vielen, auch persönlichen Erfahrungen schöpfenden Überblick zum Thema. Sein Band gilt als ein Standardwerk.
[34] Reusser 2009, S. 881.
[35] Vgl. Winkel 2011, S. 27.
[36] Vgl. Thomas 2013, S. 7. Wie Thomas anmerkt, gelten Störungen im Alltagsverständnis bis heute als schwierige, durch Schülerinnen verursachte Situationen. Diese Erfahrung habe ich auch an meiner Praktikumsschule gemacht; vgl. dazu Kap. 2.
[37] Winkel 2011, S. 28.
[38] Vgl. ebd.
[39] Vgl. Lohmann 2013, S. 15, 16 und 19.
[40] Vgl. ebd., S. 16.
[41] Winkel 2011, S. 28.
[42] Tatsächlich weisen alle Autoren immer wieder auf die Komplexität von Unterrichtsstörungen hin. Vgl. Thomas 2013, S. 1, 11. Vgl. Lohmann 2013, S. 17, 25. Vgl. Eikenbusch 2011, S. 7 f. Vgl. Winkel 2011, S. 31.
[43] Vgl. Lohmann 2013, S. 21.
[44] Ebd.
[45] Vgl. ebd. , S. 22.
[46] Vgl. ebd., S. 31.
[47] Winkel 2011, S. 9 f.
[48] Vgl. Thomas 2013, S. 11.
[49] Vgl. Lohmann 2013, S. 14.
[50] Ebd.
[51] Thomas 2013, S. 11.