Das Viable System Model als Grundlage für Organisationsarchitektur
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt der systemtheoretisch-kybernetischen Managementlehre steht deshalb die Idee der Lebensfähigkeit. Die Erkenntnisse dieser Disziplin können herangezogen werden, um zu erläutern wie die Organisationsarchitektur von Unternehmen als Reaktion auf die Komplexitätsentwicklung effizient gestaltet werden kann. Das Viable System Model (VSM, dt. Model lebensfähiger Systeme) von Stafford Beer ist dem ähnlichen Modell Autpoiesis oder der Viability-Theorie als Grundlage dieser Arbeit vorzuziehen. Ein Vergleich zeigt, dass das VSM einen größeren Gültigkeitsbereich hat und genauer ist.
Zunächst werden in Kapitel 2 die notwendigen theoretischen und begrifflichen Grundlagen vermittelt, bevor in Kapitel 3 das Viable System Model erklärt wird. Anschließend wird in Kapitel 4 das VSM auf Anwendungsmöglichkeiten im Projekt- und Prozessmanagement sowie auf Kritikpunkte untersucht.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Problemstellung und Relevanz des Viable System Model
2 Begriffliche und Theoretische Grundlagen
2.1 Viable System Model
2.2 System und Systemtheorie
2.3 Kybernetik
2.3.1 Komplexität
2.3.2 Ashby´s Law
3 Das Viable System Model
3.1 System 1: Operieren
3.1.1 Die elementare organisationale Einheit
3.1.2 Die drei Grundsätze von Organisation
3.1.3 Das Rekursionstheorem
3.2 System 2: Koordinieren
3.3 System 3: Optimieren
3.3.1 Synergieeffekte
3.3.2 Das Erste Axiom von Management
3.4 System 4: Intelligenz
3.5 System 5: Politik
4 Anwendung und Kritik am VSM
4.1 Allgemein
4.2 Das VSM im Projekt- und Changemanagement
4.3 Kritik
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Variety-Engineering abgeleitet von Ashby´s Law of Requisite Variety
Abbildung 2: Die drei Elemente jeder Organisation
Abbildung 3: Vereinfachte Darstellung des Komplexitätsausgleichs
Abbildung 4: Die elementare organisationale Einheit
Abbildung 5: System 1 und das Metasystem
Abbildung 6: Die Beziehungen mehrerer EOE´s
Abbildung 7: Die Struktur wird um System 2 erweitert
Abbildung 8: System 3 und das Metasystem
Abbildung 9: Schematische Darstellung der Varietätskanäle
Abbildung 10: Struktur nach dem Ersten Axiom von Management
Abbildung 11: Die Gesamtheit aller Teilumwelten und System 4
Abbildung 12: Informeller Zyklus zwischen System 3 und 4
Abbildung 13: System 4 und die Gesamtheit aller Teilumwelten
Abbildung 14: Das Closure-Theorem
1 Problemstellung und Relevanz des Viable System Model
Megatrends wie Digitalisierung, Globalisierung und die Verschiebung von Wirtschaftszentren betreffen fast alle Unternehmen. Zur dadurch entstehenden Komplexität und deren Bewirtschaftung hat das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung eine Studie veröffentlicht. 82 % der befragten Unternehmen sehen sich mit zunehmender externer Komplexität konfrontiert.[1] Insolvenzstatistiken lassen vermuten, dass viele Unternehmen diese Herausforderung nicht bewältigen können. Allein im Jahr 2015 meldeten mehr als 23.000 Firmen Insolvenz an.[2] Andere Unternehmen können Nutzen aus dieser Entwicklung ziehen. Bewusstsein und Akzeptanz der Komplexitätsentwicklung sind dafür nicht ausreichend. Vielmehr muss der veränderten sozialen und ökonomischen Realität aktiv begegnet werden.[3] Die Vermutung liegt nahe, dass sich erfolgreiche Unternehmen durch eine entsprechende Organisation von den Insolvenzfällen unterscheiden. Damit sich Unternehmen an das dynamische Umfeld anpassen können, muss die Organisationsstruktur flexibel sein. Das Potential für Flexibilität und Anpassung kann mit dem Begriff der Lebensfähigkeit umschrieben werden. Diese Fähigkeit ist ein wichtiger Erfolgsparameter beim Umgang mit Komplexität, jedoch kein integraler Bestandteil der vorherrschenden ökonomisch geprägten Organisationstheorie. Das Management kann mit herkömmlichen Methoden und Organisationsstrukturen den Herausforderungen des Unternehmens scheinbar nicht mehr begegnen.[4] Im Mittelpunkt der systemtheoretisch-kybernetischen Managementlehre steht deshalb die Idee der Lebensfähigkeit. Die Erkenntnisse dieser Disziplin können herangezogen werden, um zu erläutern wie die Organisationsarchitektur von Unternehmen als Reaktion auf die Komplexitätsentwicklung effizient gestaltet werden kann. Das Viable System Model (VSM, dt. Model lebensfähiger Systeme) von Stafford Beer ist dem ähnlichen Modell Autpoiesis oder der Viability-Theorie als Grundlage dieser Arbeit vorzuziehen. Ein Vergleich zeigt, dass das VSM einen größeren Gültigkeitsbereich hat und genauer ist.[5]
Zunächst werden in Kapitel 2 die notwendigen theoretischen und begrifflichen Grundlagen vermittelt, bevor in Kapitel 3 das Viable System Model erklärt wird. Anschließend wird in Kapitel 4 das VSM auf Anwendungsmöglichkeiten im Projekt- und Prozessmanagement sowie auf Kritikpunkte untersucht.
2 Begriffliche und Theoretische Grundlagen
2.1 Viable System Model
Das Viable System Model wurde vom Begründer der Managementkybernetik Stafford Beer entwickelt und erstmals 1959 in seinem Buch „Kybernetik und Management“ vorgestellt. Nach Beer ist die Unternehmensführung dafür verantwortlich effektive Organisationen zu schaffen. Das zentrale Managementproblem ist dabei der Umgang mit Komplexität. Das entscheidende Element um dieses Problem lösen zu können sieht er in der Struktur der Organisation.[6]
Mit systemtheoretischer Forschung und Anwendung der Kybernetik ist es ihm gelungen allgemeingültig zu beschreiben wie lebensfähige Systeme funktionieren. Mit lebensfähig ist dabei nicht das Überleben am Existenzminimum gemeint, sondern die Fähigkeit sich ändernden Umweltbedingungen anpassen und weiterentwickeln zu können und dabei Identität und Konsistenz zu bewahren.[7] Das VSM ist ein Strukturmodell für organisationale Intelligenz, Lebensfähigkeit und Entwicklung[8], das die dafür notwendigen und hinreichenden strukturellen Voraussetzungen spezifiziert. Damit hat es hohes Problemlösungspotential in Bezug auf die Analyse und Gestaltung von Organisationsarchitekturen in komplexer Umwelt.[9]
2.2 System und Systemtheorie
Der Begriff des „Systems“ ist seit mehr als zweitausend Jahren bekannt und mit einer Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen belegt. Er kann beispielsweise eine Klassifikation oder eine planmäßige Methode, einen lebenden Organismus, ein Ensemble von Lebewesen, ein Ordnungsgefüge in Wirtschaft (z.B. Verwaltungssystem), Gesellschaft oder Politik (z.B. Regierungssystem) bezeichnen, ein idealisiertes natürliches Phänomen (z.B. Periodensystem) oder eine technische Einrichtung bzw. Anordnung (z.B. Betriebssystem eines Computers).[10]
Der Ausdruck geht auf das griechische Wort „σύστημα“ (systema) zurück, das sich aus „συν-ίστημι“ (syn - istemi) für „zusammenstellen“ zusammensetzt. Der Begriff bezieht sich demnach nicht auf die Eigenschaften der Teile, aus denen sich das Ganze zusammensetzt (oder auf die Eigenschaften des Ganzen), sondern allein darauf dass das Ganze aus Einzelteilen zusammengesetzt ist. Es handelt sich um ein rein formales Merkmal. Dies lässt darauf schließen, dass die Allgemeine Systemtheorie ebenfalls nur eine formale Theorie sein kann.[11]
Eine substanzielle Systemdefinition ist nicht möglich. Ein System ist vielmehr eine Darstellung mit der man einen Teil der Wirklichkeit abbildet. In dieser Arbeit wird ein System als Form verstanden, in der beliebige Gegenstände der Wirklichkeit zu beschreiben und zu erklären sind. Systeme sind dabei keine Erscheinungen der Wirklichkeit, sondern Modelle im menschlichen Denken. Systeme sind damit Modelle von Ganzheiten. Bei der Systemtheorie handelt es sich demnach um eine Modelltheorie.[12]
Die Systemtheorie wurde entwickelt um der Komplexität der Wirklichkeit zu entgegnen. Es handelt sich um einen fächerübergreifend angelegten Denkansatz, der dem Grundsatz „Everything is connected to everything else“ beruht.[13] Ganzheit und Entwicklung sind zentrale Begriffe des Systemdenkens. Danach sollen Gegenstände des Wissens und Handelns nicht in kleine Einzelbestandteile zergliedert, sondern holistisch betrachtet werden, das heißt als vielgliedrige Ganzheiten. Des Weiteren sollen sie nicht als starre Gegebenheiten, sondern als dynamische Erscheinungen betrachtet werden, die einem ständigen Wandel unterliegen.[14]
Demgegenüber steht die sogenannte funktionale Differenzierung als eine Entwicklungstendenz der Modernisierung. Diese steht im Zusammenhang mit der Sektoralisierung des Wissens, die sich seit rund 200 Jahre in der Ausprägung und Abgrenzung zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen äußert. Derartige Spezialisierungen zeigen jedoch Einseitigkeiten und Defizite. Der Blick für das Ganze geht verloren. Auf der einen Seite wächst zwar das kollektive Wissen stark an, auf der anderen Seite sinkt der Anteil des Gesamtwissens des Einzelnen.
Der Gegensatz zwischen der disziplinären Ordnung des Wissens und den transdisziplinären Wissensbedürfnissen der Menschen soll überwunden werden, da sich die komplexe Welt nicht nach der Einteilung bisheriger Disziplinen richtet. Nach Erich Zahn hat der interdisziplinäre Forschungsansatz der Systemtheorie der disziplinären Forschungsstrategie voraus, dass er „dem Wesen und der Komplexität der Realität, die nicht in Disziplinen unterteilbar ist“[15] entspricht. Sie soll nach Walter Buckley „[…] die Disziplinen, die mehr und mehr an die künstlichen Grenzen stoßen, die sie voneinander trennen, überschreiten und vereinen.“[16]
Ziel der Systemtheorie ist damit die Überwindung der disziplinären Vereinseitigung der Wissenschaft. Ludwig von Bertalanffy äußerte sich dazu in einem Aufsatz: “Die allgemeinsten Prinzipien der Wissenschaft erscheinen als die gleichen, ob es sich um unbelebte Naturdinge, um Organismen, um seelische oder gesellschaftliche Vorgänge handelt. Einmal ausgebaut wird sie (die Systemtheorie) vielleicht einen Schritt zu jener Mathesis universalis des Leibniz darstellen.“
Als Grundsätze der Systemtheorie hält Bertalanffy fest: “Während in der Vergangenheit die Wissenschaft versuchte, beobachtbare Erscheinungen dadurch zu erklären, dass sie diese auf das Zusammenspiel elementarer Einheiten reduzierte, die unabhängig voneinander zu untersuchen waren, treten gegenwärtig Konzeptionen auf, die sich damit befassen, was etwas ungenau als ‚Ganzheit‘ bezeichnet wird, wie z.B. Probleme der Organisation […], kurz ‚ Systeme‘ unterschiedlicher Ordnung, die nicht verständlich wären, wenn man ihre jeweiligen Teile unabhängig voneinander untersuchen würde.“[17]
In Bezug auf Unternehmen hilft die Systemtheorie ein ganzheitliches Verständnis einer Organisation zu erlangen. Es geht darum, die Vielzahl von Teilen einer Organisation zu erkennen und zueinander in Beziehung zu setzen. Die Erkenntnisse der transdisziplinären Forschung der Systemtheorie werden dazu auf die Organisationstruktur des Unternehmens übertragen. Die Anwendung der vielfach gleichartigen auftretenden Strukturen und Systeme soll statische Organisationsstrukturen zu dynamischen Organisationsarchitekturen weiterentwickeln. Die damit gewonnene Flexibilität soll die Antwort auf Komplexität sein. Man kann in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel in den Managementtheorien und -ansätzen sprechen.[18]
2.3 Kybernetik
Norbert Wiener, der Begründer dieser Disziplin, leitete den Begriff Kybernetik ab vom griechischen „Kybernetes“ für „Steuermann“ oder „Lotse“.[19] Wiener selbst sagt, dass die Kybernetik „ [..] das ganze Gebiet der Regelung und Nachrichtentheorie, ob in der Maschine oder im Tier“ behandelt.[20] Die Kybernetik versucht damit allgemeingültige Aussagen über Struktur und Verhalten von zielgerichteten Systemen gegenüber Umweltveränderungen herauszuarbeiten.[21] Es handelt sich demnach auch um eine allgemeine Systemtheorie.
Die Struktur und das Verhalten von Systemen sind geprägt von deren Komplexität. Um den Einfluss der Kybernetik auf das VSM darstellen zu können, wird deshalb zunächst der Begriff Komplexität genauer betrachtet.
2.3.1 Komplexität
Umgangssprachlich wird der Begriff Komplexität häufig unreflektiert mit Chaos oder Kompliziertheit gleichgesetzt. Mit allen drei Begriffen wird dem Gegenteil von Simplizität Ausdruck verliehen, also dem Fehlen von geordneten Strukturen und allgemein bekannten Ursachen- und Wirkungsprinzipien. Die Bedeutung des Wortes Komplexität ist für die vorliegende Arbeit derart wesentlich, dass an dieser Stelle eine weitere Abgrenzung zu Chaos und Kompliziertheit vorgenommen wird.
Komplizierte Aufgaben oder Zustände definieren sich dadurch, dass sie sich mit dem entsprechenden theoretischen Wissen analysieren und somit bewusst kontrollieren lassen. Chaos hingegen lässt kaum Muster erkennen oder Auswirkungen vorhersehen. Chaotische Zustände lassen sich nicht bewusst steuern. Auswirkungen und Verhaltensweisen müssen beobachtet werden um darauf reagieren zu können.[22]
Dem Komplexitätsbegriff kann man sich aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen nähern.[23] In den Realwissenschaften ist hier vor allem die Sozialwissenschaft von Bedeutung. So steht zum Beispiel bei Luhmann Komplexität in engem Zusammenhang mit dem Sinn einer sozialen Organisation. Demnach hat der Mensch ein begrenztes Potential für Informationsverarbeitung. Die Tatsache, dass es stets mehr Möglichkeiten gibt als der Mensch verarbeiten kann, bezeichnet Luhmann als unbestimmte Komplexität. Um bestimmte Möglichkeiten realisieren zu können, muss diese Komplexität im Sinne der Organisation selektiert werden um somit die unbestimmte Komplexität bestimmbar zu machen. Weiterhin hat der Sinn einer Organisation die Funktion auf Möglichkeiten außerhalb der notwendigen Selektion zu verweisen um die Welt zugänglich zu halten.[24]
Disziplinübergreifend bietet die Kybernetik einen Zugang zur Komplexität. Als Ursache für Komplexität wird das Fehlen ausreichender Information gesehen. Demnach kann Komplexität durch kontinuierliche Informationsverarbeitung beherrschbar gemacht werden.[25] Die vor allem technische Kybernetik strebt in komplexen Zuständen also nach Gleichgewicht zwischen externer Komplexität und interner Verarbeitungskapazität.
Die interdisziplinäre Wissenschaft der systemtheoretisch-kybernetischen Managementlehre, welche Basis dieser Arbeit ist, definiert Komplexität als Zustand in dem niemals ausreichend Information vorliegen kann. Die Beherrschbarkeit von Komplexität gelingt demnach nicht durch Informationsverarbeitung, sondern durch Umsetzung der Gesetzmäßigkeiten nach Ashby´s Law.[26] Dabei beruft man sich auf eine physikalisch begrenzte Kapazität zur Informationsverarbeitung. In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Bremermann-Grenze verwiesen.[27]
Der Versuch sich dem Begriff Komplexität zu nähern macht deutlich, dass die Bedeutung von einer Vielzahl von Kontexten abhängt. Bisher gibt es kein Konzept, welches die dadurch auftretenden Paradoxien auflösen kann.[28] Die Bedeutung des Komplexitätsbegriffs in dieser Arbeit herausgearbeitet, indem eine Charakterisierung von komplexen Systemen vorgenommen wird.
Komplexe Systeme…[29]
1. …bestehen aus einer großen Anzahl Elemente.
2. …bilden sich durch dynamische Wechselwirkungen der Elemente untereinander. Die Interaktionen können dabei materiell sein oder als Informationsübermittlung angesehen werden.
3. …bestimmen sich nicht durch die genaue Anzahl von Wechselwirkungen. Eine Anzahl loser gekoppelter Elemente kann die gleiche Funktion erfüllen wie ein reich gekoppeltes Element.
4. …produzieren nichtlineare Wechselwirkungen unter ihren Elementen.
5. …kennzeichnen sich durch Wechselwirkungen mit generell kurzer Reichweite. Diese sogenannten Constraints haben zur Folge, dass die Auswirkungen der Wechselwirkungen auf deren Weg auf verschiedene Arten verstärkt, unterdrückt oder verändert werden können.
6. …beinhalten in ihren Wechselwirkungen Rückkopplungen. Diese können verstärkend oder vermindernd wirken. Diesen Aspekt nennt man Rekurrenz.
7. …sind meist offene Systeme, stehen also in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt. Die Grenze eines komplexen Systems zu definieren ist meist von der Systembeschreibung und damit vom Kontext des Beobachters abhängig.
8. …kennen keinen Gleichgewichtszustand. Um die Organisation aufrechtzuerhalten bedarf es einen konstanten Energiefluss.
9. …haben eine Geschichte. Bei der Analyse des Verhaltens von komplexen Systemen muss also auch die zeitliche Dimension beachtet werden.
10. …haben die Eigenschaft, dass einzelne Systemelemente nicht das Systemverhalten in ihrer Gesamtheit kennen. Systemelemente arbeiten nur mit den lokal verfügbaren Informationen. Die Komplexität entsteht durch Wechselwirkungen zwischen den Elementen. Es können sich spontan neue Eigenschaften oder Strukturen bilden. Dies nennt man Emergenz.
Die beschriebenen Charakteristiken führen zu einer häufig verwendeten Definition von Komplexität. Demnach ist Komplexität das Potential eines Systems, viele variierende Zustände annehmen zu können.[30] Die Maßgröße für Komplexität nennt man deshalb auch Varietät.
Da ein Unternehmen ein soziales System ist, entsteht Komplexität in diesem Fall nicht durch statische Zustände sondern durch die Dynamik von potentiellen Verhaltensweisen. Ein effektives Management in komplexer Umwelt leitet sich aus systemtheoretisch-kybernetischer Sicht aus den Erkenntnissen des Kybernetikers William Ross Ashby ab.
2.3.2 Ashby´s Law
Es ist naheliegend, dass interaktive Systeme mit der Zeit komplexer werden. Die Vielfalt verschiedener Zustände und Verhaltensweisen wächst dabei sehr schnell. Ashby´s Erkenntnisse der Kybernetik zeigen, dass es auch eine natürliche Reaktion auf dieses Problem gibt.[31] Der Begriff „natürlich“ ist in diesem Zusammenhang folgendermaßen zu verstehen: „ [..] something that infallibly occurs in circumstances that can be generally defined within the limits of a stated knowledge and experience.“[32] Damit ist das Ergebnis von Ashby´s Forschungen für Manager so bedeutend, wie die Gesetze der Thermodynamik für Ingenieure[33] oder das Gesetz der Gravitation für die Physik.[34] Ashby selbst bezeichnete es als „Law of Requisite Variety“, während in der Literatur häufig „Ashby´s Law“ verwendet wird.
Ashby fasst seine Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: „If a system is to be stable, the number of states of its control mechanism must be greater than or equal to the number of states in the system being controlled.“[35] Das bedeutet, dass sich gegensätzliche Vielfalt bzw. Varietät gegenseitig absorbiert. Diese Erkenntnis ist bedeutend, da der Ausgleich von Varietät durch nichts anderes geschehen kann. Es gilt: „ONLY variety absorbs variety“.[36] Dabei ist nicht die Zahl der möglichen Zustände entscheidend, sondern dass das relative Verhältnis aneinander angepasst wird.
Dieser Aspekt ist beim Umgang mit Komplexität auch für Unternehmen entscheidend. Die Herausforderung besteht darin, die Eigenvarietät des Unternehmens und die Varietät der Umwelt in Balance zu bringen.[37] Dazu braucht es Elemente, die Varietät dämpfen und Elemente die Varietät verstärken. Diese Verstärker und Dämpfer müssen bewusst gestaltet werden. Stafford Beer spricht hier von Variety-Engineering.[38] Geschieht dies nicht, kann der Kontrollmechanismus des Unternehmens die Komplexität der Umwelt nicht absorbieren. Nach Ashby’s Law wird das System Unternehmen instabil und kontrolliert nicht seine Umwelt, sondern wird von dieser kontrolliert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Variety-Engineering abgeleitet von Ashby´s Law of Requisite Variety
3 Das Viable System Model
Das Viable System Model spezifiziert die notwendigen und hinreichenden strukturellen Voraussetzungen für lebensfähige Systeme. Beer identifizierte in seiner Forschung fünf Sub-Systeme aus denen jedes lebensfähige System besteht. Diese werden in den folgenden Kapiteln erläutert und zueinander in Beziehung gesetzt.
3.1 System 1: Operieren
3.1.1 Die elementare organisationale Einheit
In jedem System sind drei Elemente nachweisbar. Diese drei Elemente sind die Umwelt, die Funktion bzw. ausführende Tätigkeit und deren Management. Innerhalb einer vage definierten Umwelt werden die Tätigkeiten eines Systems durchgeführt und vom Management kontrolliert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Die drei Elemente jeder Organisation
In Abbildung 2 ist die Management Einheit (Quadrat) eingebettet in einem Kreis, welcher für die Tätigkeiten steht die vom Management reguliert werden.
Die Tätigkeiten (Kreis) sind wiederum in einer amöbienähnlichen Form eingebettet. Diese symbolisiert die relevante Umwelt aus dem Kontext der Tätigkeiten. Diese Umwelt ist mehrdimensional und besteht aus mehreren Teil-Umwelten deren Grenzen diffus sind (Markt, Kunde, Lieferanten, Öffentlichkeit, usw.).[39]
[...]
[1] Vgl. Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA 2014, S. 7
[2] Vgl. Statista 2016
[3] Vgl. Henning und Michulitz 2009, nach Prof. Dr. Thomas Fischer, S. 6
[4] Vgl. Malik 1992, S. 75
[5] Vgl. Adam 2001, S. 327
[6] Vgl. Beer 1985
[7] Vgl. Beer 1979, S. 113
[8] Vgl. Schwaninger 2000, Das Werk des Autors trägt den Titel: „Das Modell lebensfähiger Systeme – Strukturmodell für organisationale Intelligenz, Lebensfähigkeit und Entwicklung“
[9] Vgl. Henning/Borowski 2014, S. 51
[10] Vgl. Ropohl 2012, S. 24; Im Gabler Wirtschaftslexikon wird eine Unterteilung in natürliche und künstliche Systeme vorgenommen. Zu den natürlichen Systemen zählen organische Systeme wie z.B. das Planetensystem sowie anorganische Systeme (z.B. biologische Familien). Zu den künstlichen, d.h. vom Menschen gestalteten Systemen gehören beispielsweise mechanische Systeme, soziale Systeme wie eine Familiengemeinschaft oder auch kombinierte Systeme aus sozialen und sachlichen Elementen (sog. Mensch-Maschine-Systeme). Zu letzteren gehören unter anderem Unternehmungen. (Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon, Eberhard Fess, o.J., URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/system.html)
[11] Vgl. Ropohl 2012, S. 25
[12] Vgl. Ropohl 2012, S. 52
[13] Vgl. Ropohl 2012, S. 10
[14] Vgl. Ropohl 2012, S. 14
[15] Vgl. Zahn 1973, S. 8
[16] Vgl. Buckley 1972, S. 200
[17] Übersetzung von Ropohl 2012 aus dem Englischen von Bertalanffy 1969, S. 36 f.
[18] Vgl. McNamara o.J.
[19] Vgl. Mirow 1969, S. 17
[20] Vgl. Mirow nach Wiener 1948, S. 39
[21] Vgl. Mirow, S. 20
[22] In Anlehnung an Snowden 2000
[23] Vgl. Bandte 2006, S. 47 ff.
[24] Vgl. Schützeichel 2003, S. 36
[25] Das Gabler Wirtschaftslexikon spricht davon, dass Kybernetik die wesentlichen Eigenschaften von dynamischen Systeme erforscht, mit dem Ziel alle relevanten Informationen verarbeiten zu können um das System bewusst steuerbar zu machen, bzw. sich selbst zu entsprechen. URL: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/kybernetik.html
[26] Ausführliche Erläuterung siehe Kapitel 2.3
[27] Vgl. Malik 1992, S. 56; Ein transcomputationales Problem ist ein Problem, das die Verarbeitung von mehr als 1093 Bits erfordert. Die Grenze 1093 wird Bremermann-Grenze genannt, was nach Hans Joachim Bremermann der Gesamtanzahl der von einem hypothetischen Computer der Größe der Erde innerhalb der Lebenszeit der Erde verarbeiteten Bits entspricht.
[28] Vgl. Bandte 2006, S. 73
[29] Anlehnung und deutsche Übersetzung von wandelweb.de von Paul Cilliers 1998 URL: http://www.wandelweb.de/blog/?p=1039; Cilliers Beschreibung orientiert sich an der Theorie komplexer adaptiver Systeme vom Santa Fe Institut und der Universität von Michigan.
[30] Vgl. Schwaninger 2006, S. 11
[31] Vgl. Beer 1995, S. 83
[32] Vgl. Beer 1995, S. 85
[33] Vgl. Schwaninger 2006, S. 14
[34] Vgl. Beer 1995, S. 89
[35] Vgl Ashby 1956; so zitiert zum Beispiel bei Mitsubishi 2008, S. 310 oder Manoharan 2012, S. 146
[36] Vgl. Beer 1989. S. 89; Das Original Zitat von Ashby lautete „Variety can destroy Variety“ und wurde später von Beer abgeändert. Vgl. Ashby 1956, S. 207
[37] Vgl. Schwaninger, S. 14
[38] Vgl. Beer 1995, S. 89
[39] Vgl. Beer 1995, S. 94