Geschwister schwermehrfachbehinderter Kinder. Identitätsentwicklung, Auswirkungen und Unterstützungsmöglichkeiten
Zusammenfassung
Kaum vorstellbar sind das Leben mit einer eigenen schweren Behinderung sowie das Leben der Eltern eines betroffenen Kindes, welches sich unter diesem Gesichtspunkt äußerst schwierig darstellen kann. Dahingegen erscheint der Aspekt, Geschwister eines schwermehrfachbehinderten Kindes zu sein, vergleichsweise geradezu bedeutungslos. So kann man annehmen, dass sich diese unversehrten Kinder ohne Hindernisse entwickeln können, selbst wenn sie teilweise altersuntypische Aufgaben übernehmen, von ihnen Rücksichtnahme erwartet wird und sie unzureichend Beachtung von ihren Eltern erfahren.
Ist dieser Sachverhalt wirklich so ungewöhnlich und muss als gegeben hingenommen werden? Oder haben diese Kinder eine Chance aus dem Schatten ihrer schwermehrfachbehinderten Geschwister zu treten und ist es möglich diese besondere Situation positiv für ihre Identitätsentwicklung zu nutzen? Welche Risiken können dennoch möglicherweise auftreten? Welche pädagogische und institutionelle Unterstützung können Geschwister von schwermehrfachbehinderten Kindern zur optimalen Entwicklung ihrer Identität erfahren?
Diese Fragen sollen in der vorliegenden theoretischen Projektarbeit Beantwortung finden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen verwendeter Begriffe
2.1 Schwermehrfachbehinderung
2.2 Entwicklung
2.3 Identität
3. Bedeutung eines schwermehrfachbehinderten Kindes für die Familiensituation
4. Relevante Kriterien für die Entwicklung nichtbehinderter Geschwister
4.1 Elternverhalten und Familienatmosphäre
4.2 Behinderungsart und –schwere
4.3 Geschlecht und Alter
4.4 Soziale und Sozioökonomische Rahmenbedingungen
4.5 Soziales Umfeld der Familie
5. Auswirkungen der besonderen Familiensituation auf die nichtbehinderten Geschwister
5.1 Mögliche Probleme, die für nicht behinderte Geschwister entstehen können
5.2 Positive Auswirkungen auf die Entwicklung der nicht behinderten Geschwister
6. Hilfekonzepte für Geschwister behinderter Kinder
6.1 Gespräche mit den Eltern
6.2 Professionelle Beratung der Familie
6.3 Geschwisterseminare
6.4 Förderung und Unterstützung durch Lehrer in der Schule
6.5 Familienentlastender Dienst (FED)
7. Fazit
Literatur
1. Einleitung
„Eine Familie ist eine Vereinigung von Menschen, die nur in den seltensten Fällen zusammenpassen“(Elisabeth Taylor zit. in Neumann 2001:13).
Dennoch ist jedes Familienmitglied wichtig und muss in seiner Individualität anerkannt und ernst genommen werden. Gewichtung besitzt das im besonderen Maße für die Geschwister schwermehrfachbehinderter Kinder, da sie neben den Eltern eine unmittelbar betroffene Personengruppe sind (vgl. Hackenberg 2008:9). Kaum vorstellbar sind das Leben mit einer eigenen schweren Behinderung sowie das Leben der Eltern eines betroffenen Kindes, welches sich unter diesem Gesichtspunkt äußerst schwierig darstellen kann. Dahingegen erscheint der Aspekt Geschwister eines schwermehrfachbehinderten Kindes zu sein doch eher bedeutungslos. So kann man annehmen, dass sich diese unversehrten Kinder ohne Hindernisse entwickeln können, selbst wenn sie teilweise altersuntypische Aufgaben übernehmen, von ihnen Rücksichtnahme erwartet wird und sie unzureichend Beachtung von ihren Eltern erfahren (vgl. Winkelheide/ Knees 2003:10).
Ist dieser Sachverhalt wirklich so ungewöhnlich und muss er als gegeben hingenommen werden? Oder haben diese Kinder eine Chance aus dem Schatten ihrer schwermehrfachbehinderten Geschwister zu treten und ist es möglich diese besondere Situation positiv für ihre Identitätsentwicklung zu nutzen? Welche Risiken können dennoch möglicherweise auftreten? Welche pädagogische und institutionelle Unterstützung können Geschwister von schwermehrfachbehinderten Kindern zur optimalen Entwicklung ihrer Identität erfahren?
Gemäß meinem beruflichen Umfeld haben mich diese Fragen schon mehrfach beschäftigt. Im Rahmen meiner Tätigkeit als Physiotherapeutin in einem Förderzentrum für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche bin ich tagtäglich mit schwermehrfachbehinderten Menschen, den Sorgen und Belastungen ihrer Eltern und deren Geschwistern konfrontiert. Angeregt mich mit dem Thema gedanklich auseinanderzusetzen, wurde ich durch besorgte Eltern, die sich neben der Sorge um ihre behinderten Kinder ängstigen um das Wohl und die unbeeinträchtigte Entwicklung der Geschwister. Oftmals geraten sie an dieser Stelle an ihre Grenzen. Insofern nutze ich die Möglichkeit im Rahmen dieser Arbeit, diesen Aspekt auf wissenschaftlichem Hintergrund zu diskutieren. Erst bei der Recherche und dem Studium geeigneter Fachliteratur wurde mir bewusst, wie umfangreich und komplex sich diese Thematik darstellt. Gemessen daran und der Umfangsbegrenzung vorliegender Arbeit geschuldet, werde ich die spezielle Geschwistersituation in dieser Arbeit nicht näher betrachten, obgleich sie im Kontext der Entwicklung der Geschwister einen bedeutenden Stellenwert einnimmt.
2. Theoretische Grundlagen verwendeter Begriffe
Obwohl in dieser Arbeit die Geschwister von Kindern mit einer Schwermehrfachbehinderung im Vordergrund stehen, ist es von Relevanz den Begriff Schwermehrfachbehinderung zu definieren. Zum einen, um Verwirrungen vorzubeugen, da der Ausdruck in diesem Rahmen häufig verwendet wird als Begriff „behindert“. Zum anderen ist es wichtig zu wissen, dass Umschreibungen oder gar Nichtbenennung der Tatsache Behinderung die Geschwister mehr belastet als die Wahrheit (vgl. Winkelheide/ Knees 2003: 70). Da das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf die Identitätsentwicklung von Geschwistern behinderter Kinder gerichtet ist, erscheint es mir diesbezüglich auch notwendig die Termini „Entwicklung“ und „Identität“ zu definieren.
2.1 Schwermehrfachbehinderung
Für den Begriff „Schwerstmehrfachbehinderung“ gibt es keine allgemeingültige Definition, selbst durch die ICF[1] und ICD[2] konnte bis jetzt keine geeignete Begriffsbestimmung entwickelt werden. Dennoch versteht man traditionell unter einer Schwermehrfachbehinderung das gleichzeitige Vorliegen mehrerer Behinderungen, welche eine Zuordnung zu einer Hauptbehinderung einschränkt aufgrund der beträchtlichen Schwere der Behinderung (vgl. Schmidt- Ohlemann 2005: 594).
2.2 Entwicklung
Da der Begriff „Entwicklung“ unzählige Definitionen anbietet, hat sich folgende Begriffsbestimmung von Hobmair (1995) als besonders relevant für die vorliegende Thematik erwiesen.
„Unter Entwicklung versteht man eine Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen des Erlebens und Verhaltens die sich auf bestimmte zeitliche Abschnitte im Lebenslauf des Organismus beziehen“ (Hobmair zit. in Badnjevic 2008: 9).
2.3 Identität
Jeder Mensch hat eine Identität, welche er im Laufe seines Lebens findet und entwickelt. Dabei sucht er nach Eigenschaften, die ihn als unverwechselbare Person kennzeichnet (vgl. Stangl 2012: o. A.).
Unter einer Vielzahl von Definitionen erschien mir folgende Definition von Köck und Ott (1997) für die vorliegende Arbeit am aussagekräftigsten.
„Identität bezeichnet die völlige Übereinstimmung eines Individuums oder einer Sache mit sich selbst. In Bezug auf die Identität des Menschen spricht die Psychologie von einem dynamischen Selbstkonzept, das lebenslang in Entwicklung begriffen ist, im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld kontinuierlicher Veränderungen und in Form von Identitätskrisen“ (Köck/ Ott 1997: 312).
3. Bedeutung eines schwermehrfachbehinderten Kindes für die Familiensituation
Die folgenden Darlegungen, welche nicht allgemeingültig und zu pauschalisieren sind, sollen einen groben Einblick in die Familiensituation geben. Dabei wird nicht speziell auf die Geschwisterkinder eingegangen. Dennoch ist die Betrachtung der Familiensituation im Kontext der Entwicklung der nicht behinderten Kinder notwendig, da die Familie für sie die primäre und grundlegende Sozialisationsinstanz darstellt (vgl. Hackenberg 2008: 42), in welcher die Persönlichkeit geformt wird und die elementaren Regeln der Gesellschaft sowie Kompetenzen zur Bewältigung der Umwelt vermittelt werden (vgl. Kriegl 1993: 10).
Ein behindertes Kind wirft den bisherigen Lebensablauf einer Familie einstweilen aus seinen gewohnten Bahnen. Anfänglich, nach bekanntwerden der Diagnose eines behinderten Kindes, befinden sich die Eltern zunächst in einem emotionalen Schockzustand. Oftmals sind die ersten Jahre bezüglich der Akzeptanz eines behinderten Kindes und der vielen ungewohnten Anforderungen, welche die neue Situation hervorruft, die schwierigste Zeit für die Familienangehörigen (vgl. Badnjevic 2008: 11). Die Alltagssituation ist geprägt durch unzählbare Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte und einem zum Teil enormen Pflege, Kraft- und Zeitaufwand, wenn z. B. das betroffene Kind nicht alleine essen kann oder gewindelt werden muss (vgl. Hackenberg 2008: 46). An dieser Stelle müssen die betroffenen Familien ihre Rollen im familiären Ablauf neu definieren. Oftmals gelingt das nicht oder es kommt zu einer traditionellen Rollenverteilung, in welcher der Vater die Ernährerfunktion einnimmt, da die Mutter die Pflege- und Betreuungspflichten erfüllt. In diesem Zusammenhang besteht das Risiko der Bildung einer Dyade[3] zwischen Mutter und behindertem Kind, indessen der Vater sich mit dem gesunden Kind verbündet und so kaum Möglichkeiten für ein gemeinsames Familienleben bleiben (vgl. Badnjevic 2008: 13). Überdies gefährdend ist die beschränkte Zeit für eigene Interessen, selbst eine gemeinsame Freizeitgestaltung oder gar Reisen gestalten sich zumeist unspontan, da sie genau geplant werden müssen (vgl. ebd.: 14). Eine weitere nicht zu unterschätzende Bürde stellt das meist geringe Haushaltseinkommen dar. Ursache dessen sind die materielle Höherbelastung mit einem behinderten Kind sowie die eingeschränkte, oftmals aufgegebene Erwerbstätigkeit der Mutter als Zweitverdiener (vgl. Hackenberg 2008: 46). Unvorbereitet fühlen sich die Eltern in eine soziale Randgruppe integriert, welche ihr Selbstwertgefühl negativ beeinflusst. Grundsätzlich ist das nicht allein ein familiäres Problem im Kontext des Faktes Behinderung, sondern auch eine Folge unzureichender sozialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.
4. Relevante Kriterien für die Entwicklung nichtbehinderter Geschwister
Um die Entwicklung eines Geschwisterkindes im familiären Zusammenleben mit schwerstmehrfachbehinderten Kindern beurteilen zu können, müssen verschiedene Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Einige davon werden in den folgenden Kapiteln betrachtet, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
4.1 Elternverhalten und Familienatmosphäre
Für die psychosoziale Entwicklung eines Geschwisters nimmt das Selbstverständnis der Eltern zum behinderten Kind eine bedeutende Rolle für grundlegende Beziehungserfahrungen ein (vgl. Hackenberg 2008: 101). Eine ständige negative Einstellung und Resignation kann möglicherweise auch die Geschwister psychisch schwer belasten. Dennoch belegen empirische Studien, wenn auch nicht ausreichend, dass Geschwister nicht generell diese negative Einstellung übernehmen, sondern positivere Grundhaltungen vorweisen (vgl. Wolffersdorf 2005: 31). Steht dem gegenüber aber eine positive Gesinnung der Eltern und die Überzeugung die Hürde gemeinsam zu bewältigen, so wird auch die Denkweise der Geschwister und der Umgang mit der Behinderung positiverer Art sein. Insofern haben die Eltern eine Vorbildfunktion (vgl. Hornung 2010: 34). Zudem bezeugte eine Studie von Taylor (2001) Geschwisterkindern weniger Belastungsstress und psychosoziales Wohlbefinden, wenn besonders die Mutter aber auch andere Bezugspersonen ein gutes Einfühlungsvermögen besitzen (vgl. Hackenberg 2008: 103). Ebenso bedeutend für das Wohl der gesunden Kinder ist deren subjektive Zufriedenheit, welche durch eine gerechte Verteilung der elterlichen Aufmerksamkeit und Gleichbehandlung der Geschwister erreicht werden kann (vgl. ebd. 102). Oftmals bleibt aber für ihre Probleme und Wünsche zu wenig Zeit, da die Aufmerksamkeit der Eltern größtenteils auf die Bedürfnisse des behinderten Kindes gerichtet ist (vgl. Wolffersdorf 2005: 42).
Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt liegt in einer möglicherweisen Überforderung der nicht betroffenen Kinder, verursacht durch eine besonders hohe Erwartungshaltung der Eltern. Viele dieser Kinder fühlen sich in die Pflicht genommen, die Enttäuschung der Eltern über ein behindertes Kind auszugleichen und begegnen der Erwartung mit besonders guten Leistungen, Angepasstheit und problemlosem Funktionieren (vgl. ebd. 103).
Eine entscheidende Bedeutung für eine vorteilhafte psychosoziale Entwicklung nichtbehinderter Kinder nimmt die Familienatmosphäre ein, welche geprägt sein sollte von einem guten Familienzusammenhalt, einer stabilen elterlichen Partnerschaft und einer angemessenen Streitkultur (vgl. Hackenberg 2008: 103).
4.2 Behinderungsart und –schwere
Inwieweit Art und Schwere der Behinderung eines Kindes Einfluss auf die Geschwister haben, lässt sich nicht genau formulieren, da die Meinungen in der Literatur sehr differieren. Ungeachtet dessen sind die Familienatmosphäre und die soziale Eingliederung der Familie sowie ihre finanziellen Verhältnisse in Betracht zu ziehen (vgl. Hornung 2010: 33).
So stellt Achilles fest, dass „nicht die Behinderung an sich, sondern die Art des Umgangs damit bestimmt, welche Auswirkungen die Behinderung auf die einzelnen Familienmitglieder hat“ (vgl. Achilles 2002: 107). Dagegen ist Kasten (1993) der Ansicht, je schwerer sich die Behinderung darstellt, desto nachteiliger und problematischer wirkt sich das auf die Geschwister aus. Empirische Studien von Hackenberg (1992) bestätigen diese Aussage. Andererseits berichten Kinder mit einem schwermehrfachbehinderten Geschwister positiver über ihre Einstellung und Beziehung im Vergleich zu leichter behinderten Geschwister (vgl. Schaback 2003: 67). Dennoch gibt es neben diesen subjektiven Bewertungen auch objektive Argumente, die klärend für eine bessere oder schwerere Erträglichkeit der Behinderung stehen. So leiden nichtbehinderte Kinder aggressiver und unruhiger Geschwister eher an psychoneurologischen Schädigungen (vgl. Achilles 2002: 108). Demnach ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen geistiger, körperlicher und schwermehrfacher Behinderung unumgänglich.
Die geistige Behinderung eines Geschwisters ist für die gesunden Kinder schwer nachzuempfinden, da sie einerseits Angst haben auch daran zu erkranken und zum anderen in der Öffentlichkeit sehr unsicher (vgl. Hornung 2010: 32) und ihnen ihre Geschwister durch bestimmte abnorme Verhaltensweisen peinlich sind (vgl. Achilles 2002: 108). Diesbezüglich äußerte sich eine befragte Jugendliche Achilles, dass sie sich gewünscht hätte, ihr Bruder würde im Rollstuhl sitzen. So müsste sie durch die offensichtliche Behinderung nicht die Blicke Außenstehender ertragen (vgl. ebd. 109), gemäß der Behauptung Achilles: „Es scheint sich auch leichter mit einer Behinderung zu leben, die deutlich sichtbar ist“ (vgl. ebd. 108). Andere befragte und zugleich betroffene Kinder hingegen ziehen eine geistige Behinderung vor, da sie den Familienalltag weniger einschränkt und die Teilnahme an familiären Aktivitäten einfacher ist, als bei körperbehinderten Kindern wo oftmals bauliche Vorgaben zu Einschränkungen führen. Zudem schätzen die Kinder körperbehinderter Geschwister die unumschränkte gegenseitige Kommunikation (vgl. Grünzinger 2005: 20) und das bessere gesellschaftliche Verständnis im Vergleich zur geistigen Behinderung (vgl. Schaback 2003: 38). Wie schon in Kapitel 3 benannt, ist die gesellschaftliche Reaktion auf eine Behinderung das Problem. Insofern ist eine gesamtgesellschaftliche Bewusstseinserweiterung zum Abbau von Vorbehalten im Umgang mit Behinderung von Nöten (vgl. Hornung 2010: 33).
[...]
[1] Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (deutsche Übersetzung)
[2] Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (deutsche Übersetzung)
[3] Besonders intensive emotionale Zweierbeziehung (vgl. Stangl 2012 o. A.)