"Aktivgesellschaft" und "Ökonomisierung als Optionssteigerung". Zwei Perspektiven auf Ökonomisierung
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Die Ökonomisierung der Gesellschaft
2. Eine materialistische Perspektive: Der Weg zur Aktivgesellschaft
2.1. Demokratie, Kapitalismus, Staat
2.2. Geschichte des Wohlfahrtstaats
2.3. Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft
3. Eine differenzierungstheoretische Perspektive: Ökonomisierung als Optionssteigerung
3.1. Differenzierung ohne Zentralinstanz
3.2. Optionssteigerung als Lösung und Problem
3.3. Ökonomisierung als Optionssteigerung
4. Gemeinsamkeiten und Unterschiede
4.1. Historischer Fokus: Spätkapitalismus und Komplexität
4.2. Gesellschaft: Demokratischer Kapitalismus und Ausdifferenzierung
4.3. Semantik: Projektkultur und Invisibilisierung der Ökonomie
4.4. Risiko: Fremdbestimmte Individuen und kollabierende Ökonomie
4.5. Praxis: Soziologische Aufklärung und aufgeklärte Soziologie
5. Was ist denn jetzt Ökonomisierung?
Quellenangabe
Abstract
Economization as the spread of economic ways of thinking in more and more areas of social life is a central topic for sociology. The aim of this paper is to compare two quite different theoretical approaches to economization: Stephan Lessenich`s materialistic diagnosis and Armin Nassehi`s view in terms of differentiation theory. Their analyses are often similar on the surface but valuations and conclusions differ widely at times. Central motives that regular-ly shine through are “capitalism criticism” (Lessenich) and “complexity” (Nassehi).
1. Die Ökonomisierung der Gesellschaft
Ökonomisierung bezeichnet die Vermarktlichung von immer mehr Bereichen des sozialen Zusammenlebens. Marktlogiken wie Kosten-Nutzen-Vergleich, Optimierung und eine Fixierung auf die Akkumulation verschiedenster Werte, dringen in Bereiche vor, die dort traditionell nicht vorkommen. Der Mensch versteht sich zunehmend als wirtschaftlicher Akteur in einer vor allem wirtschaftlich geprägten und erklärbaren Welt. Ein Prozess also, der die Soziologie geradezu interessieren muss.
Im Folgenden werden zwei theoretische Herangehensweisen an das Phänomen der Ökonomi-sierung einander gegenübergestellt. Das ist zum einen eine materialistisch geprägte Perspekti-ve vom Aktivierungsstaat, repräsentiert durch Stephan Lessenich. Darin zeigt sich der Staat als strukturell krisenhaftes Verhältnis aufgrund seiner zwiegespaltenen Verfasstheit, im Hinb-lick auf die kapitalistische Wirtschaft einerseits und seine demokratische Natur andererseits. Der aktivierende Staat ist darin die jüngste Formierung eines prinzipiell endlos um Balance ringenden Staatswesens.
Die zweite Perspektive ist eine differenzierungstheoretische, repräsentiert durch Armin Nassehi. Hier wird Ökonomisierung als Spezialfall eines Grundprinzips von ausdifferenzierten Funktionssystemen verstanden: Optionssteigerung.
Bei allen vorhandenen Differenzen kommen doch bei beiden Autoren ähnliche Diagnosen zu Tage. Es herrscht auf beiden Seiten kein Zweifel an der zunehmenden und mehr oder weniger problematischen Ökonomisierung zeitgenössischer Gesellschaft(en). Dies und die Hinter-gründe der beiden Positionen sollen in angemessener Kürze in Kapitel 2 und 3 nachgezeichnet werden. Im vierten Abschnitt folgt eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Licht unterschiedlicher Aspekte. Von Interesse sind dabei insbesondere die geschichtliche Gewordenheit, Gesellschaftsbegriffe als Rahmenbedingung mit eigenen Dynamiken, die Be-deutung semantischer Analysen, die sich ergebenden Risikobilder und natürlich die Frage nach der Aufgabe der Soziologie.
2. Eine materialistische Perspektive: Der Weg zur Aktivgesellschaft
2.1. Demokratie, Kapitalismus, Staat
Zentral ist bei Lessenich das Verhältnis von Staat zu Demokratie und Kapitalismus. In einer Anknüpfung an Claus Offes Theorie des Spätkapitalismus wird der moderne Staat aus einer Geschichte der konstanten Vermittlung zwischen Erfordernissen der kapitalistischen Wirt- schaft und der Legitimationsressource Demokratie heraus begriffen. Die kapitalistische Wirt- schaft stellt in einem Staat, der auf Abschöpfung von Renditen angewiesen ist, eine grundle-gende Existenzbedingung dar. Doch genauso besteht ein umgekehrtes Abhängigkeitsverhält-nis: “nichts geht ohne Institutionenbildung”, und zwar “Institutionen, die den Kapitalismus in Bewegung setzen, indem sie die Umwandlung von »Gütern aller Art « 1 in Kapital gewährleis-ten.” (Lessenich 2009: 134). Selbst das Kaufen eines Bonbons ist, als Kaufvertrag, gesetzlich geregelt. Die Hilfestellung des Staats geht aber weit darüber hinaus - etwa in der Herstellung allgemein verwertbarer Güter wie Bildung. Sogar die Rechtfertigung von ökonomisch entste-henden Ungleichheiten übernimmt der Staat bis zu einem gewissen Grad (vgl. Lessenich 2015: 120).
Staat und Kapitalismus befinden sich aber nicht etwa in einem dauerhaft stabilen Verhältnis gegenseitiger Angewiesenheit. Staatliche Interventionen können immer nur Symptome lindern, die dem selbstzerstörerischen Markthandeln stets neu entspringen - und vom Markt selbst eben gerade nicht gelöst werden können. Der Staat ist gezwungen, immer neue Maßnahmen zu ergreifen, um die kapitalistische Wirtschaft zu stützen, denn eine strukturelle Lösung gibt es nicht (vgl. Lessenich 2009: 141ff).
Auf der anderen Seite steht das Verhältnis von Staat und Demokratie. Der Staat ist auf die Legitimation durch die demokratische Bestätigung angewiesen. Die Interessen des Wahlvolks sind aber nicht immer mit den Erfordernissen der kapitalistischen Ökonomie vereinbar. Der Staat, übrigens nicht als Staatsapparat sondern als Verhältnis zu verstehen, muss nun, um eine prinzipielle Organisationsfähigkeit zu erhalten, Wege finden, beide Seiten zufriedenzustellen. Lessenich spricht hier vom “double-bind” (Lessenich 2009: 148):
“Er [der Staat] kann diesen im Grunde nur auszuhalten versuchen - und das Beste im Sinne immer neuer adaptiver Selbsttransformationen seiner politischen Programmatik und seines regulativen Instrumentariums, daraus machen.” (Lessenich 2009: 149). Dieses Verhältnis ist also grundsätzlich krisenhaft, weil es immer neue Lösungen erfordert, die dann im Spannungsverhältnis unterschiedlicher Anforderungen von Wirtschaft und Wahl-volk plausibel gemacht und durchgesetzt werden müssen.
2.2. Geschichte des Wohlfahrtstaats
Aus einer spätkapitalistischen Sichtweise ist die Geschichte des Wohlfahrtsstaats eine Verket-tung von immer neuen Lösungsstrategien auf Probleme, die der zwiegespaltenen Figur des Staats entspringen. Diese werden anhand einer, von Franz-Xaver Kaufmann vorgeschlagenen, Typisierung der sich wandelnden Staatsaufgaben (vgl. Kaufmann 1994), nachvollzogen. So betrachtet lassen sich parallel zu Polizei-, Rechts-, Sozial und Steuerungsstaat auch spezifische Erwartungshaltungen und Staatsverständnisse im Sinne zur jeweiligen Zeit unterscheiden (vgl. Lessenich 2016: 26ff).
Für das Thema Aktivierung am interessantesten ist zweifellos der Übergang vom Sozialstaat zum - bei Kaufmann als Steuerungsstaat bezeichneten - aktivierenden Staat. Lessenich unters-tellt Kaufmann bei der Analyse des Steuerungsstaats nämlich eine einseitige Fixierung auf die Handlungsweisen des Staats, ohne den Wandel von Inhalt und Bedeutung zu berücksichtigen (vgl. Lessenich 2016: 28). Genau da setzt die Theorie des Aktivierungsstaats, der Aktivgesell-schaft, an.
Lessenich zeichnet einen Zusammenbruch des klassischen Sozialstaats nach, der etwa in den 70ern einsetzt und seinen Hauptgrund darin hat, dass eine stetig wachsende Umverteilung nicht mehr möglich ist, weil das zu Verteilende nicht mehr ständig wächst. Damit einsetzend ist eine Verbesserung der Bedingungen für unternehmerisches Handeln die Leitidee staatli-cher Politik. Nach dem Prinzip: maximales Wachstum bedeutet maximalen Wohlstand. “Das Zauberwort in Wirtschafts- und Arbeitspolitik lautet seither: Flexibilit ä t.” (Lessenich 2009: 159).
Im Zuge dieser sich ausweitenden Flexibilisierung in allen erdenklichen Bereichen der Politik (Arbeitsmarkt, Bildungswesen, etc.) wird auch der Arbeitnehmer nicht ausgelassen. Der Ar-beitnehmer wird mehr und mehr zum ökonomischen Verwalter seiner Ware Arbeitskraft, um den Anforderungen des Marktes gerecht zu werden. Diese Veränderungen führen aber nicht etwa zufällig oder zwangsläufig zum aktivierenden Staat, sondern werden von diesem aktiv “...herbeigeführt, ermöglicht und wahrscheinlich gemacht.” (Lessenich 2012: 114). Diese ak-tiv aktivierende Rolle macht den neuen Sozialstaat aus - und deshalb auch zum möglichen Ziel von Kritik.
2.3. Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft
Diese politische Aktivierung bringt nach Lessenich aber eine viel tiefere Bedeutung und Tragweite mit sich, die im folgenden Zitat sehr gut zum Ausdruck kommt: “... die Funktionslogik der Aktivierungspolitik, der soziale Sinn des aktivierenden Wohlfahrtsstaats ist damit nicht hinreichend erfasst. Denn ergänzt wird die fortschrei- tende Ö konomisierung durch eine parallele Subjektivierung des Sozialen. Die Sorge um das Soziale, seine Sicherung und Stärkung, wird in die Verantwortung der Subjek- te gelegt - nicht mehr vorranging in die »öffentliche Hand« staatlicher Instanzen, auch nicht in die »unsichtbare Hand« von Marktmechanismen und Preissignalen, sondern zuallererst in die tätigen Hände jedes und jeder Einzelnen von »uns«.” (Lessenich 2009: 165f).
Diese Verschiebung (einst) staatlicher Aufgaben in Richtung des Privaten, der Lebensführung des Einzelnen, ist für Lessenich der Kern des Aktivierungsstaats und auch der Grund, warum er sich Kaufmanns Begriff vom Steuerungsstaat (s. 2.2 dieser Arbeit) nicht anschließt. Denn damit zusammen hängt auch eine ganz gehörige Werteverschiebung, die sich in verschiedenen Semantiken widerspiegelt. So kann man nun plausibel auf all diejenigen schimpfen, die sich nicht bestmöglich für das Gemeinwohl engagieren, indem sie nach Kräften selbständig für sich sorgen (vgl. etwa Lessenich 2003: 217). Konkrete Beispiele dafür liefert Lessenich in verschiedenen Bereichen: Selbständigkeit bei der Jobsuche, Weiterbildung in Eigenregie, Aktive Beteiligung im Alter und mehr (vgl. Lessenich 2008: 85-128).
Was bei einer - noch so groben - Darstellung dieser Position auf keinen Fall fehlen darf, ist der kritische Aufruf an die Soziologie, der Lessenich erkennbar wichtig ist. Konkret sieht er die Aufgabe einer kritisch begleitenden Sozialwissenschaft darin, die Konflikthaftigkeit des Kapitalismus offenzulegen und Alternativen aufzuzeigen. Außerdem gilt es den aktuellen Sozialstaat von einer gefühlten Alternativlosigkeit zu befreien, indem man seine Entstehung als Spezialfall nachzeichnet. Ziel und Zweck des Ganzen ist letztlich eine “Wiederaneignung des Sozialen”, also ein Prozess der bewussteren und vielleicht auf irgendeine Art besseren Strukturierung des eigenen (Sozial-)Staats (vgl. Lessenich 2012: 146f, speziell Lessenich 2011).
3. Eine differenzierungstheoretische Perspektive: Ökonomisierung als Op- tionssteigerung
3.1. Differenzierung ohne Zentralinstanz
Es ist nicht ganz einfach, den Einstieg zu finden in eine Beschreibung der modernen Differen-zierungstheorie, wie sie in diesem Fall Armin Nassehi vertritt. Das liegt an der gegenseitigen Bedingung von Begriffen und daran, dass, wie Nassehi selbst betont, Differenzierung nicht von einer vorhergehenden oder umfassenden Entität gedacht werden darf, was eine Erklärung deutlich einfacher machen würde (vgl. Nassehi 2011 128ff). Es gilt zunächst einmal, Gesell-schaft als Kommunikation zu verstehen. Hier klingt natürlich das systemtheoretische Design Niklas Luhmanns an. Und genau dieser schreibt Folgendes gegen eine Fixierung auf jedwede Art von Einheit: “Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das umfassende System, dem es angehört und das es mit vollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt.” (Luhmann in: Nassehi 2011: 128).
Für die Differenzierungstheorie bedeutet das, dass ihre Funktionssysteme zwar alles erfassen können, aber eben nur auf ihre ureigene Weise. Anschlussfähigkeit nämlich haben sie nur im Rahmen ihres eigenen Codes (vgl. Nassehi 2012: 405). Man könnte vielleicht sogar frei über-setzt sagen: die Handlungsketten, die aus dem unvermeidlichen Anschluss an die immer glei-che Logik erfolgen, sind und reproduzieren die Funktionssysteme in deren operativer Natur (vgl. Nassehi 2003: 168). Was zunächst komplex klingt, findet seine Stärke in der eigenen Einfachheit. Denn es ist die simple Codierung, die die Anschlussfähigkeit erhöht und dadurch beständiges Anschließen wahrscheinlich macht. Auf diese und keine andere Art können Funk-tionssysteme ent- und bestehen (vgl. Nassehi 2003: 168). Stärke also durch simple Funktions-prinzipien.
3.2. Optionssteigerung als Lösung und Problem
Die einfache Anschlusslogik wird in ihrer Eigendynamik als Optionssteigerung bezeichnet. Optionssteigerung bezeichnet genau das Moment der Steigerung der systeminternen An-schlusswahrscheinlichkeit, welches sich erst durch die Einfachheit der Codierung ergibt (vgl. Nassehi 1999: 29-48, Nassehi 2003: 168-177, Nassehi 2012, Nassehi 2015a: 134-143). Sie ist insofern die Lösung für das Problem der Komplexität, weil sie die operative Schließung von Funktionssystemen ermöglicht. Gleichzeitig liegt in dieser Dynamik, dieser eigentlichen Stär-ke, die Gefahr einer Übersteigerung, die sich dann sogar selbstgefährdend auf das Funktions-system auswirken kann. Dazu Nassehi:
“Funktionssysteme, deren einzige Existenz-, besser Operationsbedingung die Anwendung ihres Codes ist, verlieren gewissermaßen die Selbstkontrolle, weil sie aus ihrem Code nicht ausbrechen können.” (Nassehi 2012: 409).
Es gibt keine Grenzen, keine Limitation außer dem eigenen Code - also auch kein Bewusstsein für eine, aus Selbsterhaltungsgründen gesunde, Selbstbeschränkung (vgl. Nassehi 2003: 172, Nassehi 2012: 405, 409, Nassehi 2015a: 140, 143).
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