Die Schweiz und die EU - Etappen der Schweizer Europapolitik
Die Schweiz, ein moderner Paria? Ein selbsternannter Ausgestoßener?
Zusammenfassung
René Schwok
„Paria, der; kastenloser Inder; übertragen für von der menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener“
DUDEN
Die Schweiz, ein moderner Paria? Ein selbsternannter Ausgestoßener?
Sicherlich ist dieses Land trotz seiner Lage im Herzen Europas, trotz seiner eigenen kulturellen und sprachlichen Vielfalt und trotz seiner engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Ausland ein Außenseiter im Europäischen Integrationsprozess. Jahrzehntelang propagierte es den Weg des Intergouvernementalismus und setzte ganz auf rein wirtschaftliche Zusammenarbeit, immer jedoch äußerst bedacht darauf, die eigene Neutralität mit allen Mitteln zu verteidigen.
Doch dann wurde es von der Entwicklung in Europa überrascht: die rasch zunehmende Dynamik des europäischen Einigungsprozesses und der Zusammenbruch des Ostblocks zwangen die Schweiz zum Umdenken. Nun wurde plötzlich der Beitritt zur EG zum neuen Ziel erklärt. Der Bevölkerung aber, in der Schweiz durch die direkte Demokratie mit weitreichenden Entscheidungs-kompetenzen ausgestattet, ging diese Wandlung zu schnell. Sie lehnte den Beitritt der Schweiz zum EWR an der Urne ab, und stellte die Schweizer Politiker damit vor schwierige Aufgaben. Durch bilaterale Abkommen wurde in der Folge versucht, die durch die Ablehnung hervorgerufenen negativen wirtschaftlichen Folgen möglichst gering zu halten. Außerdem unternahm man Anstrengungen, die Schweiz weiterhin an die EU anzunähern.
Aber wie sieht die Zukunft der Alpenrepublik aus? Wird sie es schaffen, von den Kastenlosen aufzusteigen, um beim Bild des Paria zu bleiben, und ein vollwertiger Teil der Europäischen Union werden? Oder will sie das vielleicht gar nicht und fühlt sich sehr wohl in ihrem selbst geschaffenen Abseits?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Etappen der schweizerischen Europapolitik
1. Vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zur Gründung der EFTA
2. Vom Freihandelsabkommen bis zur Einheitlichen Europäischen Akte
3. Die Auseinandersetzung um den EWR und das EG-Beitrittsgesuch
4. Die bilateralen sektoriellen Abkommen
5. Die „Ja zu Europa“ Volksinitiative
C. Elemente des politischen Systems als Ursachen für den „Sonderfall Schweiz“
1. Direkte Demokratie
2. Konkordanz und Kollegialität
3. Föderalismus
4. Neutralität
5. Milizsystem
D. Aktuelle Situation und Perspektiven
1. Aktuelles „Europa-Klima“ in der Schweizer Bevölkerung
2. Integrationsfreundliche und –feindliche Akteure
3. Inkrafttreten der bilateralen Abkommen
4. Neue bilaterale Verhandlungen
5. EU-Beitritt der Schweiz ?
E. Fazit
Literaturverzeichnis
A. Einleitung
„Switzerland: The European Union’s Self-appointed Pariah”
René Schwok[1]
„Paria, der; kastenloser Inder; übertragen für von der mensch-
lichen Gesellschaft Ausgestoßener“
DUDEN[2]
Die Schweiz, ein moderner Paria? Ein selbsternannter Ausgestoßener?
Sicherlich ist dieses Land trotz seiner Lage im Herzen Europas, trotz seiner eigenen kulturellen und sprachlichen Vielfalt und trotz seiner engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Ausland ein Außenseiter im Europäischen Integrationsprozess. Jahrzehntelang propagierte es den Weg des Intergouvernementalismus und setzte ganz auf rein wirtschaftliche Zusammenarbeit, immer jedoch äußerst bedacht darauf, die eigene Neutralität mit allen Mitteln zu verteidigen.
Doch dann wurde es von der Entwicklung in Europa überrascht: die rasch zunehmende Dynamik des europäischen Einigungsprozesses und der Zusammenbruch des Ostblocks zwangen die Schweiz zum Umdenken. Nun wurde plötzlich der Beitritt zur EG zum neuen Ziel erklärt. Der Bevölkerung aber, in der Schweiz durch die direkte Demokratie mit weitreichenden Entscheidungs-kompetenzen ausgestattet, ging diese Wandlung zu schnell. Sie lehnte den Beitritt der Schweiz zum EWR an der Urne ab, und stellte die Schweizer Politiker damit vor schwierige Aufgaben. Durch bilaterale Abkommen wurde in der Folge versucht, die durch die Ablehnung hervorgerufenen negativen wirtschaftlichen Folgen möglichst gering zu halten. Außerdem unternahm man Anstrengungen, die Schweiz weiterhin an die EU anzunähern.
Aber wie sieht die Zukunft der Alpenrepublik aus? Wird sie es schaffen, von den Kastenlosen aufzusteigen, um beim Bild des Paria zu bleiben, und ein vollwertiger Teil der Europäischen Union werden? Oder will sie das vielleicht gar nicht und fühlt sich sehr wohl in ihrem selbst geschaffenen Abseits?
In dieser Arbeit möchte ich zunächst auf wichtige Etappen der Schweizer Europapolitik ab dem Ende des zweiten Weltkrieges eingehen und erläutern, wie die Schweiz ins Abseits geriet. Dann möchte ich spezifische Elemente des politischen Systems der Schweiz betrachten, die für deren besondere Lage mitverantwortlich sind. Abschließend möchte ich die aktuelle Situation beleuchten und einen Ausblick auf die künftige Europapolitik der Schweiz geben.
B. Etappen der schweizerischen Europapolitik
1. Vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zur Gründung der EFTA
Durch ihre Neutralität gelang es der Schweiz, den zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet zu überstehen. Somit unterschied sich die Situation der Schweiz in wirtschaftlicher[3], sozialer und politischer Hinsicht stark von der der anderen westeuropäischen Staaten. Die Schweiz verfügte über eine weitgehend intakte Volkswirtschaft und war von den anderswo vorherrschenden innenpolitischen Spannungen und sozialen Konflikten verschont. Außenpolitisch war die Schweiz jedoch weitgehend isoliert, „die Anerkennung der schweizerischen Neutralität hatte ihren absoluten Tiefpunkt erreicht“[4]. Um die außenpolitische Lage zu verbessern, ergänzte man die bisherigen außenpolitischen Maximen Neutralität, Universalität und Disponsabilität um die Solidarität. Der Abschluss des Washingtoner Abkommens, nach dem die Schweiz 250 Millionen Franken an die Interalliierte Reparationsagentur zahlte, und freiwillige Wiederaufbauleistungen führten zu einer Entspannung der außenpolitischen Beziehungen der Schweiz.
1947 regten die USA im Rahmen des Marshall-Plans die Gründung der OECE an. Für die Schweiz war eine Teilnahme in vielerlei Hinsicht interessant: Zum Einen konnte sie so ihre neue Solidaritätspolitik weiter konkretisieren und ihre außenpolitischen Beziehungen verbessern. Außerdem erhoffte sie sich Handelsliberalisierungen. Es bestanden vordergründig nur geringe neutralitätspolitische Bedenken, da sich der Marshallplan prinzipiell an alle europäischen Staaten richtete. Durch die sogenannte „Schweizer Klausel“ – eine Form des „opting out“ - stellte der OECE-Vertrag vom 16. April 1948 mit der Schweiz als Gründungsmitglied keine Veränderung der bisherigen Neutralitätspolitik und eine Erhaltung der wirtschafts- und handelspolitischen Autonomie dar. Nach der sogenannten „Schweizer Klausel“ kann sich ein Mitgliedsstaat an einer Frage „nicht interessiert“ erklären. Durch diese Erklärung können die übrigen Staaten die entsprechenden Entscheidungen trotzdem wie vorgeschrieben einstimmig im Ministerrat fällen. Diese binden aber nur diese Länder und nicht die „nicht interessierten“ Staaten.
Zum GATT hatte die Schweiz zu Beginn eine zwiespältige Haltung. Einerseits war sie an einer weltweiten Handelsliberalisierung sehr interessiert, andererseits standen verschiedene Bestimmungen des GATT in deutlichem Gegensatz zu den wirtschaftlichen Interessen der Schweiz. Deshalb entschloss sich die Schweiz für ein vorläufiges Abseitsstehen vom GATT. Stattdessen wurde eine Politik des autonomen Nachvollzugs und der „Verbesserung“ der Beitrittsbedingungen verfolgt. Durch den Nachvollzug gelang es der Schweiz mit Hilfe der Meistbegünstigungsklausel, an den GATT-Liberalisierungen teilzunehmen. Gegenüber dem GATT bestanden keinerlei neutralitätspolitische Bedenken. Anders beim Europarat: Dort hielten solche Bedenken die Schweiz zunächst von einem Beitritt ab. Da die Initiative zur Gründung der Organisation von den Staaten der Westunion ausging, sah der Bundesrat diese als politischen Arm des Militärbündnisses an.
Auch der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet 1951, trat die Schweiz nicht bei. Die weitgehenden Kompetenzen der EGKS, die teilweise supranationale Ausgestaltung ihrer Organe und ihr politisches Fernziel waren nicht mit den Schweizer Prinzipien vereinbar. Für die Schweiz hatte die Gründung der EGKS wirtschaftlich wenig Konsequenzen.
Durch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1955 und damit der Ausweitung der Integrationskonzeption der EGKS auf potentiell alle Wirtschaftsbereiche, aufgebaut auf einer Zollunion, entstand jedoch die Gefahr einer Zolldiskriminierung innerhalb der OECE und somit einer wirtschaftlichen Spaltung Westeuropas. Um diese Gefahr zu bannen wurde das Projekt der Großen Freihandelszone entwickelt. Es wurde von der Schweiz nachhaltig unterstützt, da es vollständig ihren wirtschaftlichen Interessen und ihrer passiven Integrationskonzeption entsprach. In den Verhandlungen zeigten sich aber bald große Gegensätze zwischen den OECE-Staaten. Die Frage nach einer Zollunion entwickelte sich zum Hauptstreitpunkt, da in mehreren EWG-Staaten, insbesondere in Frankreich, die Sorge bestand, die EWG würde sich in einer reinen Freihandelszone auflösen „wie ein Stück Zucker in einer Tasse englischen Tees“[5]. Für Großbritannien, die Schweiz und die skandinavischen Länder war eine Zollunion jedoch aus handelspolitischen Gründen unannehmbar, für Österreich, die Schweiz und Schweden zusätzlich noch aus neutralitätspolitischen Gründen. Deshalb kam es 1958 zum endgültigen Scheitern der Verhandlungen.
Daraufhin wurde 1960 die European Free Trade Association (EFTA) gegründet: Großbritannien, Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz schlossen sich zu einer industriellen Freihandelszone zusammen. Die Gründung hatte sowohl wirtschaftliche, als auch integrationspolitische und taktische Ziele. Die EFTA stellte ein Bekenntnis zur wirtschaftlichen Integration dar und diente der Verteidigung einer alternativen integrationspolitischen Theorie, der Verringerung des Integrationsabstandes zwischen der EWG und der EFTA durch einen parallelen Zollabbau und der Zolldiskriminierung der EWG-Staaten. Außerdem war sie eine Plattform für Kontakte mit der EWG nach der mit dem Verlust ihres europäischen Charakters verbundenen Umstrukturierung der OECE. 1960 waren die USA und Kanada der OECE beigetreten.
Es zeigte sich jedoch bald, dass vor allem Großbritannien und Dänemark die EFTA nur als Übergangslösung sahen, im Gegensatz zur Schweiz, die einen Freihandelsvertrag mit der EWG anstrebte[6]: Als 1961 Großbritannien, Dänemark und Norwegen die Mitgliedschaft in der EWG beantragten, betrieb die Schweiz mit ihrem Vorschlag einer weitgehenden, dem späteren EWR ähnelnden Assoziierung eine aktive Gegenstrategie. Diese Bemühungen scheiterten 1962, die Schweiz kehrte zu einer Politik der pragmatischen, sektoriellen Annäherung zurück.[7]
1963 trat die Schweiz dem Europarat bei, um nach dem Wegfall der OECE als rein europäische Diskussionsplattform einen Zugang zu einem europäischen Forum zu haben, um an den europäischen Debatten teilnehmen zu können.[8]
2. Vom Freihandelsabkommen bis zur Einheitlichen Europäischen Akte
1970 schlug die EWG der EFTA Verhandlungen über ein umfassendes Freihandelsabkommen vor. Dass die EWG nun zu einem solchen Schritt bereit war, ist darauf zurückzuführen, dass einerseits dessen Tauglichkeit durch das zehnjährige Funktionieren der EFTA bewiesen war, und dass andererseits die EWG dank der realisierten Zollunion und den verschiedenen gemeinsamen Politiken über eine gefestigte Existenz verfügte, so dass ihre Auflösung nicht mehr befürchtet wurde.[9] Die Schweiz begrüßte ein solches Abkommen. Die Schweizer Verhandlungsführer verfolgten jedoch teilweise unrealistische Ziele wie eine weitgehende Partizipation an den EG-internen Entscheidungsmechanismen. Obwohl diese Erwartungen natürlich nicht erfüllt werden konnten, war das Verhandlungsresultat für die Schweiz doch positiv, da alle Industriezölle im Handel mit der EG abgeschafft wurden und mit der Entwicklungsklausel die Möglichkeit für weitere Liberalisierungen ausgehandelt werden konnte. Daher wagte der Bundesrat das Risiko einer rechtlich nicht zwingend vorgeschriebenen Volksabstimmung. Das Volk entschied sich 1972 mit 72,5% Ja-Stimmen deutlich für das Abkommen.[10] Die Schweiz verwirklichte mit dem Freihandelsabkommen zu einem hohen Maße ihre Zielsetzung: einerseits nicht ganz abseits stehen beim EG-Integrationsprozess, andererseits nicht auf Souveränität verzichten und die Selbständigkeit für den Abschluss weiterer Handelsverträge wahren. Neutralität, Föderalismus und direkte Demokratie blieben unangetastet. Mit Hilfe der oben erwähnten Entwicklungsklausel konnten in den folgenden 20 Jahren weit über 100 bilaterale Sonderabkommen ausgehandelt werden, das Freihandelsabkommen ließ also genügend Spielraum für weitere Vereinbarungen. Diese waren zumeist wirtschaftlicher Natur, es gab jedoch auch Konsultationen und Zusammenarbeit in den Bereichen Verkehr, Umwelt oder Forschung und Entwicklung. Ein solches sachbezogenes Vorgehen auf bilateraler Ebene wurde als eine auf Dauer gangbare Lösung angesehen, was im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und politischen Krise der EWG Anfang der 80er Jahre dazu beigetragen hat, dass in der Schweiz lange Zeit keine ernsthafte Europadiskussion stattfand.[11]
Dies änderte sich auch dann nicht, als die zunehmende Dynamik des europäischen Einigungsprozesses deutlich wurde und in der Einheitlichen Europäischen Akte gipfelte. Erst nachdem das Volk das Schweizer Beitrittsgesuch zu den Vereinten Nationen 1986 durch eine Volksabstimmung mit 75,7% Nein-Stimmen deutlich abgelehnt hatte, begann insbesondere in der französischsprachigen Schweiz ein Umdenkprozess; die Angst vor einer wirtschaftlichen Diskriminierung und einer politischen Isolation des Landes nahm dann aber auch im Rest der Schweiz zu.[12]
3. Die Auseinandersetzung um den EWR und das EG-Beitrittsgesuch
Im Januar 1989 schlug der Kommissionspräsident Delors den EFTA-Staaten vor, den Europäischen Wirtschaftsraum nicht über einen sektoriellen, sondern über einen neuen globalen Ansatz zu realisieren. Angesichts der fortgeschrittenen österreichischen Beitrittsdiskussion sollte allen EFTA-Staaten eine interessante Alternative zum Vollbeitritt angeboten werden, da sich die EG prinzipiell für eine Vertiefung der Integration anstelle einer neuen Erweiterungsrunde entschieden hatte. Dieser Vorschlag stieß in allen EFTA-Staaten auf großes Interesse.[13]
[...]
[1] Schwok, S. 21.
[2] DUDEN, S. 551.
[3] Zbinden, S. 216 ff.
[4] Zbinden, S. 216.
[5] Pescatore, S. 20.
[6] www.europa.admin.ch/europapol/d
[7] Christen, S. 210.
[8] Zbinden, S. 240.
[9] Zbinden, S. 242 ff.
[10] Christen, S. 210 f.
[11] www.europa.admin.ch/europapol/d
[12] www.europa.admin.ch/europapol/d
[13] Zbinden, S. 251 f.