Ziel dieser Arbeit ist es, den scheinbaren Widersprüchen im Verhältnis von Individuum und Masse in der Mode theoretisch nachzugehen und die Ergebnisse am Beispiel des (ursprünglich) amerikanischen Schuhmodells Converse All Star, oder kurz Chucks, zu veranschaulichen.
Zunächst findet dazu im Anschluss an die Einleitung eine Einordnung der Arbeit in die aktuellen wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Debatten statt. Anschließend wird in Kapitel Zwei die Methodik der Arbeit skizziert. Das dritte Kapitel definiert die für diese Arbeit relevanten Begriffe und diskutiert Theorien zum Verhältnis von Masse und Individuum vor dem Hintergrund der Modethematik. In Kapitel Vier wird gezeigt, inwieweit sich generelle Erkenntnisse zum Spannungsverhältnis von Masse und Individuum auf den Bereich der Mode übertragen lassen bzw. welche Schwierigkeiten hierbei entstehen. Inwiefern kann die Mode die im Menschen divergierenden Sehnsüchte nach Individualität und sozialer Zugehörigkeit befriedigen? Im Anschluss werden die theoretischen Befunde empirisch überprüft. Anhand der Kampagne zum 100-jährigen Bestehen der Chucks wird exemplarisch veranschaulicht, auf welche Weise die Mode die Mode das Paradox von Individualität durch Massenware thematisiert bzw. überwindet.
Diese Arbeit zeigt, dass eine Erklärung für das Paradox von Individuum und Masse in der Mode im Spannungsverhältnis der antagonistischen Bedürfnisse des Individuums zu finden ist, wie sie unterschiedliche Theorien zu Masse und Individuum aufzeigen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Wissenschaftlicher Kontext und Literaturbericht
1.1.1 Forschungsstand Massetheorien
1.1.2 Forschungsstand Mode
1.1.3 Kontext Converse All Stars
2 Anmerkungen zur Methode
3 Theoretisierung von Mode und Masse
3.1 Die Masse der Massedefinitionen
3.2 Definition Individuum
3.3 Definition Mode
3.4 Dialektik der menschlichen Bedürfnisse in den Massetheorien
3.5 Mode als soziale Funktion
4 Anwendung der Massetheorien auf das Phänomen Mode
4.1 Voraussetzungen und Eigenschaften der Masse
4.2 Stärke in der Masse
4.3 Die Masse der Individualisten
4.4 Führer und Vorbilder
5 Masse, Mode und die Werbung
5.1 Analyse und Deutung
6 Schlussbetrachtung und Kritik
7 Quellen
1 Einleitung
In einem Stern -Artikel zum 100-jährigen Bestehen des Schuhmodells Converse All Star schreibt die Autorin Susanne Kaloff: „Chucks, benannt nach dem Basketballspieler Chuck Taylor, waren schon immer ein Symbol für Freiheit, Autonomie, Rebellion, Jugendkultur, für hey ho, let's go!“ und ein paar Absätze später, „Im Jubiläumsjahr [2008 Anm. der Verfasserin] wird die Eine-Milliarde-Schallgrenze an verkauften Chucks aller Wahrscheinlichkeit nach durchbrochen werden“(2008).
Auf der einen Seite Freiheit, Autonomie, Rebellion und auf der anderen eine Milliarde verkaufte Paar Schuhe – wie geht das zusammen? Ist es nicht ein Paradox, dass ein absolutes Massenprodukt der Inbegriff von Individualität und alternativer Lebensweise sein kann bzw. das Individuum seine Individualität mithilfe von Massenprodukten herzustellen sucht?
Ziel dieser Arbeit ist es, diesen scheinbaren Widersprüchen im Verhältnis von Individuum und Masse in der Mode theoretisch nachzugehen und die Ergebnisse am Beispiel des (ursprünglich) amerikanischen Schuhmodells Converse All Star, oder kurz Chucks, zu veranschaulichen.
Zunächst findet dazu im Anschluss an die Einleitung eine Einordnung der Arbeit in die aktuellen wissenschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Debatten statt. Anschließend wird in Kapitel Zwei die Methodik der Arbeit skizziert. Das dritte Kapitel definiert die für diese Arbeit relevanten Begriffe und diskutiert Theorien zum Verhältnis von Masse und Individuum vor dem Hintergrund der Modethematik. In Kapitel Vier wird gezeigt, inwieweit sich generelle Erkenntnisse zum Spannungsverhältnis von Masse und Individuum auf den Bereich der Mode übertragen lassen bzw. welche Schwierigkeiten hierbei entstehen. Inwiefern kann die Mode die im Menschen divergierenden Sehnsüchte nach Individualität und sozialer Zugehörigkeit befriedigen? Im Anschluss werden die theoretischen Befunde empirisch überprüft. Anhand der Kampagne zum 100-jährigen Bestehen der Chucks wird exemplarisch veranschaulicht, auf welche Weise die Mode die Mode das Paradox von Individualität durch Massenware thematisiert bzw. überwindet.
Diese Arbeit zeigt, dass eine Erklärung für das Paradox von Individuum und Masse in der Mode im Spannungsverhältnis der antagonistischen Bedürfnisse des Individuums zu finden ist, wie sie unterschiedliche Theorien zu Masse und Individuum aufzeigen.
1.1 Wissenschaftlicher Kontext und Literaturbericht
Dieses Kapitel kontextualisiert die drei Kernelemente dieser Arbeit: (1) Mode, (2) Masse und Individuum sowie (3) das kulturwissenschaftliche Phänomen Chucks.
Sowohl Mode als auch Masse sind Themen, die erst mit der modernen Gesellschaft aufgekommen sind. Erst durch die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen der Aufklärung und der Industrialisierung haben beide an Momentum und dadurch an Relevanz gewonnen.
1.1.1 Forschungsstand Massetheorien
Zwar gibt es Massen und Individuen schon (fast) seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte, eine umfassende Theoretisierung findet aber erst seit Ende des 19. Jahrhunderts statt. Dies lässt darauf schließen, dass das im Zuge der Aufklärung gewachsene Bewusstsein für das Individuum, auch das Interesse an der Masse als „Gegenpol des Individuums“ befördert hat. Seit dem Aufkommen des Forschungsinteresses stellt das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und darin enthalten die Dichotomie von Individuum und Masse allerdings eines der zentralen Themen in der Soziologie und der Sozialpsychologie dar (Ebers 1995: 14).
Gustav Le Bons „Psychologie der Massen“ (1919 [1895]) gilt als eines der Schlüsselwerke zur Massenforschung. Auch wenn einige seiner Konzepte, wie z.B. die Idee einer „Massenseele“, von nachfolgenden Wissenschaftlern kritisiert und weiterentwickelt wurden, hat sein Werk vielfach den Anstoß für die zentralen Fragen zur Thematik gegeben.
Insbesondere in den Zwanziger Jahren und nach 1945 bis in die Fünfziger wurde die wissenschaftliche Diskussion vom Thema Masse beherrscht (Ebers 1995: 17). Laut Helmut König bündeln sich in diesem Zeitraum im Phänomen Masse „die zentralen politischen, sozialen und psychologischen Folgeprobleme der industriekapitalistischen Entwicklung“. „Die Masse ist Voraussetzung und Produkt des Kapitalismus“ (zitiert nach Ebers 1995: 17). Es ist nicht verwunderlich, dass sich im deutschsprachigen Raum ein Großteil der Arbeiten zum Thema Masse (auch heute noch) auf den Nationalsozialismus bzw. auf das Verhältnis von Diktatur und Masse beziehen (Pross und Buß 1984: 21).
Mit Abstand zum Zweiten Weltkrieg verändert sich jedoch der Fokus und das Individuum rückt stärker in den Mittelpunkt der Analysen[1]. Ende der 70er Jahre wird im Zuge der Diskussionen um Wertewandel und die Pluralisierung der Lebensstile (z.B. Inglehart 1977; Zapf 1987) die Masse durch das Phänomen der Massenhaftigkeit abgelöst (Ebers 1995: 19). 1984 konstatieren Helge Pross und Joachim Kleves: „Gegenwärtig ist ‚Masse’ in der deutschen Soziologie kein Thema“ (Pross und Buß 1984: 18).
Wie Kapitel 3.1 näher zeigen wird, unterscheiden sich die wissenschaftlichen Abhandlungen zum Thema Masse allerdings ganz erheblich, je nachdem welches Masseverständnis die AutorInnen ihren Ausführungen zugrunde legen. Es kann daher nicht von einer Massetheorie die Rede sein, sondern nur von den Massetheorien.
1.1.2 Forschungsstand Mode
Vielleicht gerade weil die Mode in der heutigen Zeit ein so omnipräsentes Thema ist, ist auch die Theorienlandschaft breit gefächert. Verschiedenste Forschungsrichtungen (darunter Soziologie, Ethnologie, Marketing, Psychologie, Semiotik) haben sich des Themas angenommen. Demgegenüber ist auffällig, dass in den einzelnen Bereichen jeweils nur relativ wenige Arbeiten zum Thema existieren und die AutorInnen oft gegenseitig eine unzureichende Tiefe der wissenschaftlichen Betrachtungen kritisieren. Selten wird eine eigene Theoriebildung um die Mode angestrebt, sondern vorhandene Theorien auf den spezifischen Gegenstandsbereich angewendet (Sommer 1989: 9f).
Dieses Defizit wird häufig auf verschiedene dem Phänomen Mode inhärente Missverständnisse und Missverhältnisse zurückgeführt: Der Operationsradius der Mode wird unterschätzt und ihre Natur missverstanden, Mode gilt als trivial und nebensächlich (Blumer 1969: 275). Vielfach wird die Mode auf ihre bekleidende und „verschönernde“ Funktion reduziert. Dabei zeigen die verschiedenen AutorInnen, dass Mode sehr wohl mehr ist und eine wissenschaftliche Analyse „verdient“ hat. Auch wenn einige AutorInnen in den letzten Jahren immer wieder ansetzten, das Defizit zu beheben (z.B. Sommer 1989) und umfassendere kulturtheoretische Aufsatzsammlungen entstanden sind (Benstock und Ferris 1994), stellt sich letztlich das Theoriengerüst um die Mode weiterhin fragmentarisch dar.
Zwar stammen schon die ältesten Arbeiten zur Thematik aus den Bereichen Soziologie und Sozialpsychologie (Simmel 2009 [1895]), aber auch heute ist diese Forschungsrichtung noch stark vertreten (Sommer 1989; Crane 2000a). Der Soziologe Georg Simmel nimmt sich der sozialen Bedeutung von Mode und Kleidung erstmals 1895 mit dem Aufsatz „Zur Psychologie der Mode“ an. Seine Ausführungen beeinflussen wiederum Walter Benjamin und andere.
In der klassischen europäisch-humanistischen Tradition wurde Mode in der Gesellschaft lange abfällig betrachtet. Jemand, der mit der Mode ging, hatte keinen eigenen Geschmack und Stil, jemand mit Geschmack unterwarf sich nicht dem Diktum der Mode. Dieses verbreitete Verständnis von Mode als „blinder“ Imitation wurde erstmals von Immanuel Kant in seinen Schriften zur Anthropologie kurz kommentiert und lange nicht hinterfragt (Gronow 1993: 89f).
Simmel stellt Mode zunächst als Abgrenzungsmittel der oberen Stände von den unteren dar. Das Aufwärtsdrängen der Massen, ihr Konsumismus, macht die Mode aber zu Beginn des 20.Jahrhunderts zügig zu einem wichtigen Wirtschaftszweig; Mode wird Massenprodukt und Massenverhalten. Die These von der blinden Imitation wird überdacht (Müller 1992: 52). Im Laufe seiner Arbeiten antizipierte Simmel fast alle grundlegenden Fragen der Modetheorie und er erkennt in der Mode einen wichtigen Wirtschaftszweig der Moderne. Dennoch werden Aspekte in Bezug auf die kapitalistische Verwertungskette und Inkorporation von ihm eher vernachlässigt.
Aufgrund der ökonomischen Bedeutung und Verbreitung der Modeindustrie ist Mode aber auch zentrales Thema der kapitalistischen Konsumkritik und der Konsumforschung (Veblen 1912 [1899]; Lynch und Strauss 2007; Weber 2007). Einerseits erleben besonders seit Ende der 70er Jahre Analysen aus den Bereichen Marketing (z.B. Zielgruppenstudien) oder Werbepsychologie einen Boom. In diesem Zusammenhang wird häufig auch die Prozesshaftigkeit der Mode betont und es wird versucht, Modezyklen zu antizipieren bzw. ihre Entwicklung zu beeinflussen.
Gleichzeitig wird die Mode zur Konsumkritik oder zur Verdeutlichung kapitalistischer Verwertungslogik herangezogen. Der Medientheoretiker und Soziologe Dick Hebdige hat beispielsweise die Diskussion um Mode und die Kulturindustrie und die Bedeutung von Subkulturen im kapitalistischen System vorangetrieben (1979). Seit den 60er Jahren sind zur Subkulturtheorie auch vermehrt Arbeiten aus der Genderforschung hinzugekommen (Crane 2000b; Jenß 2007).
Auch wendet Hebdige die Erkenntnisse der Semiotik auf die Praktiken von Subkulturen an und verschmilzt so Konsumkritik und Semiotik. Die Diskussion der Mode aus semiotischer Sicht als System von vestimentären Zeichen und Codes, die zwischen Trägern und Beobachtern vermitteln, stellt einen weiteren bedeutenden Zweig im verästelten System der Theorienlandschaft um die Mode dar (Enninger 1983; Barthes 1985 [1967]).
Aus psychologischer Sicht wird Mode meist als eine Form des Ausdrucks vorhandener Bedürfnisse (nach Rebellion, Erfüllung sexueller Wünsche, Anerkennung, gegen Langeweile) gesehen. Diese Gefühle artikulieren sich bei unterschiedlichen Individuen allerdings auf vielfältige Weisen und müssen sich nicht notwendigerweise in der Mode manifestieren (Blumer 1969: 284f).
In den letzten Jahren hat sich das Forschungsinteresse einerseits stark der Beziehung von Mode und Körper(lichkeit) zugewandt (Balsamo 1997; Entwistle 2007). Andererseits untersuchen die AutorInnen vermehrt das Verhältnis von Mode und Identität (Benstock und Ferris 1994).
1.1.3 Kontext Converse All Stars
Obwohl es im Bereich Marketing und Konsumforschung auch Arbeiten zu einzelnen oder wenigen ausgewählten Marken und Produkten gibt (z.B. zu Saab, Ford Bronco und Macintosh bei Muniz und O'Guinn 2001), war die Marke Converse noch nicht bedeutender Gegenstand eine Forschungsarbeit. Im wissenschaftlichen Kontext findet lediglich eine Erwähnung in Einzelfällen statt, so z.B. in einer kulturgeschichtlichen Abhandlung zu Minnesota im Zuge einer Personenbeschreibung (Dean 2002: 35).
Dahingegen finden die Chucks immer wieder Erwähnung in Zeitungen und Zeitschriften, sei es um ihrer selbst Willen z.B. zum 100jährigen Bestehen (Bild 2008; Horizont 2008; Schönhöfer 2008; Thöne 2008) oder weil sie als Accessoire bei einem gesellschaftlichen Ereignis Beachtung finden – wie beispielsweise auf der Hochzeit Mick Jaggers 1971.
Obwohl die Beliebtheit der Chucks starken Schwankungen unterliegt und das Unternehmen Converse 2001 Konkurs anmelden musste, sind die Segeltuchschuhe mit dem schlechten Fußbett immer noch bzw. immer wieder verbreitet:
„Der wiederkehrende Erfolg des primitiven Basketballschuhs erklärt sich aus einem paradoxen Prinzip: Obwohl ideell wie kommerziell schon lange breit gelatscht, lässt sich das Image von individueller Lässigkeit und provokantem Understatement, das den Chucks anhaftet wie der üble Gestank, nicht klein kriegen.“(Schönhöfer 2008)
2 Anmerkungen zur Methode
Diese Arbeit schließt überwiegend an die soziologische und sozialpsychologische Tradition der Modebetrachtung an. Auch findet hier lediglich eine Anwendung von Theorien anderer Bereiche auf das spezifische Phänomen Mode statt. Somit wird auch diese Abhandlung nicht das Problem der fehlenden umfassenden Modetheorie lösen, aber doch zumindest einen weiteren Baustein hinzufügen. Auffällig ist, dass sich zwar viele AutorInnen der Mode aufgrund ihres Status als „Massenphänomen“ angenommen haben, es bisher aber keine Übertragung der Massetheorien auf den Gegenstand Mode gibt. Das Defizit soll diese Arbeit beheben.
Das Hauptinteresse gilt dabei der gesellschaftlichen Rolle von Mode in ihrer Funktion als Bindemittel von Individuum und Masse. Dieses Verhältnis wurde lediglich ansatzweise von Georg Simmel zu Beginn der Theoretisierung von Mode und Masse betrachtet, seitdem rückte dieses Spannungsverhältnis in den Hintergrund. Dabei haben sich seit Simmels Beobachtungen die gesellschaftlichen Verhältnisse weiter verändert. Zur Industrialisierung ist die Globalisierung hinzugekommen und die Individualisierung drückt sich heute nicht nur im Wunsch nach Selbstbestimmung sondern auch im Streben nach Selbstverwirklichung und exzessivem Egozentrismus aus (Thomson 1989: 858ff).
Im Folgenden werden nun zunächst die Begriffe Mode, Masse und Individuum theoretisiert. Darauf aufbauend werden unterschiedliche Konzepte der Massetheorie(n) auf ihre Gültigkeit für das Phänomen Mode untersucht. Dazu wird auf Erkenntnisse der Autoren Le Bon, Freud, Kracauer, Ortega y Gasset, Canetti, Gehlen und Maffesoli rekurriert. Zuletzt werden die theoretischen Befunde am Beispiel der Chucks überprüft und verdeutlicht.
Sinn dieser Arbeit ist nicht, eine Kulturgeschichte der Chucks zu beschreiben, sondern das theoretische Spannungsverhältnis von Individuum und Masse in der Mode an diesem Beispiel exemplarisch zu verdeutlichen. Auch wenn die scheinbare Dichotomie am Beispiel der Chucks besonders stark hervortritt – das eigentliche Paradox des Erreichen-Wollens von Individualität durch ein Massenprodukt ist weit verbreitet, handelt es sich nun um Apple Computer, MINIs oder Tattoos. Demnach wird das populärwissenschaftlich beliebte „Phänomen Chucks“ auch nur soweit erläutert, wie es für die Klärung der eigentlichen Frage nach dem Paradox von Individualität und Masse in der Mode zwingend notwendig ist.
3 Theoretisierung von Mode und Masse
Im folgenden Kapitel werden zunächst die Begriffe Mode, Masse und Individuum definiert. Zudem wird Verhältnis von Individuum und Masse in der Theorie dargestellt. Anschließend werden die Erkenntnisse aus der Massetheorie auf das spezifische Aktionsfeld Mode übertragen.
3.1 Die Masse der Massedefinitionen
Intuitiv denken wir bei dem Begriff Masse, zumindest wenn er auf Menschen bezogen ist, an eine quantitativ große Gruppe, die sich durch leichte Beeinflussbarkeit, Erregbarkeit, Einfalt, Unkontrollierbarkeit und ein Verschmelzen der Individuen in ihr zu einem „Ganzen“ auszeichnet. Dieses intensive Gefühl der inneren Bindung der Gruppe machen wir dafür verantwortlich, dass Massen eine eigene, zumeist entfesselte und unverantwortliche Dynamik entfalten können. Fast immer folgt daraus eine negative Haltung gegenüber der Masse.
So verwundert auch nicht, dass Gustave Le Bon, der als „Vater der Massenpsychologie“ gesehen wird (Pross und Buß 1984: 7), den Begriff 1895 auf ähnliche Weise kategorisiert (Le Bon 1919 [1895]: Erstes Buch). In nachfolgenden Werken zur Theoretisierung der Masse wird der Begriff allerdings sehr unterschiedlich gebraucht. Masse wird besonders in den Sozialwissenschaften inflationär für Phänomene verschiedenster Art benutzt, die meist lediglich das quantitative Moment gemein haben – die Rede ist von „Massenmedien“ oder „Massenbewegung“ genauso wie von der „breiten“ oder der „einsamen Masse“ (vgl. Pross und Buß 1984: 8f). Zwar werden häufig die „intuitiven“ Ideen übernommen, danach setzen die einzelnen Theoretiker allerdings ganz verschiedene Schwerpunkte und liefern unterschiedlichste Erklärungsansätze für das jeweils definierte „Phänomen Masse“. Resultat ist eine gegebene Unschärfe des Begriffs.
Die Masse im intuitiven, „engeren Sinn“ ist durch die Merkmale große Zahl, kurze Dauer, Erregung und ein gewisses Maß an Regelwidrigkeit der Aktionen bzw. Herausforderung der geltenden Normen gekennzeichnet (Pross und Buß 1984: 10). Dieser Massebegriff wird häufig in politischen Zusammenhängen gebraucht.[2]
Für Siegfried Kracauer war die Kategorie des physischen Raums für solche „Massen im engeren Sinn“ noch entscheidend (1990). Mittels moderner Medienvermittlung wird die reale Konstitution einer physischen Masse allerdings hinfällig, der Raum kann real oder virtuell sein.
Dem Verständnis der „Masse im engeren Sinne“ stellt Freud eine Theorie basierend auf „künstlichen Massen“ wie Kirche und Heer zur Seite (1987). Ähnlich unterscheidet Elias Canetti Massen anhand ihrer konstitutiven Umstände und der verschiedenartigen tragenden Affekte und Empfindungen. Es braucht einen äußeren Kitt, der die Masse eint und zusammenhält. Dies kann ein gemeinsames Ziel oder ein gemeinsamer Feind sein – beides gibt der Masse eine Richtung (Canetti 1992: 28). Dabei bleibt Canettis Massebegriff allerdings sehr diffus: Er spricht von der Masse der Toten, der Nachkommenschaft, Hetz- und Fluchtmassen oder sog. Doppelmassen, die nur durch das Vorhandensein einer zweiten Masse bestehen können (z.B. Männer und Frauen) (Canetti 1992: 43ff). Teilweise wird Masse auch einfach als Gegenpol zur Elite verstanden bzw. als „Durchschnittsmensch“ (z.B. Ortega y Gasset 1949).
Ebenso hat das in der amerikanischen Soziologie verbreitete Konzept des „kollektiven Verhaltens“ viele Überschneidungspunkte mit Massekonzepten.
„Zum kollektiven Verhalten rechnen – je nach Autor – soziale Bewegungen, Apathie, Panik, Mob, Wahn; ebenfalls einbezogen werden Moden, Öffentlichkeit, Kulte und Gefolgschaften.“(Pross und Buß 1984: 14)
Um dieser Unschärfe zu begegnen, klären viele Autoren zu Beginn ihrer Ausführungen, auf welchen Massebegriff sie sich beziehen (Pross und Buß 1984: 9). Diese Arbeit soll sich jedoch nicht auf die Anwendung eines Masseverständnisses auf die Mode beschränken. Es wird vielmehr versucht, aus den unterschiedlichen Erklärungsansätzen für Masse und dem jeweils darin enthaltenen Verständnis des Begriffs die relevanten Aspekte für den Bereich Mode zu extrahieren. Dabei wird die Tiefe der Analyse allerdings wieder zugunsten der Breite geopfert.
3.2 Definition Individuum
Der Begriff Individuum wurde bis in das 18. Jahrhundert wortsinngemäß für Dinge aller Art benutzt, die getrennt von anderen existieren. Der lateinische Begriff individuum bedeutet „Einzelding“ bzw. eigentlich „das Unteilbare“ (gemäß Duden 2003). Mit dem Auflösen der natürlichen Einheiten der Dinge durch die Naturwissenschaften wandelt sich die Bedeutung und Individuum bezeichnet nunmehr den Mensch als Einzelwesen in seiner jeweiligen Besonderheit.
Eine Definition des Begriffs Individuum in diesem Kontext kommt allerdings nicht ohne eine Einordnung gegenüber „Individualität“ und „Individualismus“ aus. Individualität beschreibt die persönliche Eigenart und Einzigartigkeit, der Individualismus eine „Anschauung, die dem Individuum und seinen Bedürfnissen den Vorrang vor der Gemeinschaft einräumt“ (gemäß Duden 2003).
Ideengeschichtlich tritt das Individuum im 17. und 18. Jahrhundert mit der Aufklärung vermehrt in Erscheinung. Der Liberalismus bringt den Gedanken von der freien Persönlichkeit als einer von der Tradition losgelösten Individualität voran. Nach den Idealen von Freiheit und Gleichheit sollen „unnatürliche“ Schranken und Gleichmachungen (Standesgesellschaft, Religion) abgebaut werden. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz schafft die Individuelle Freiheit. Der Mensch ist nicht mehr Teil seines Standes oder seiner Glaubensgemeinschaft, sondern ganz Individuum. Dabei sind die Individuen aber im Inneren gleichartig („jeder Mensch ist Menschheit“). Dieser Gedanke findet beispielsweise Ausdruck im Aufkommen des evangelischen Glaubens und in der Literatur.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts kommt mit dem Übergang in die Massengesellschaft ein Streben nach Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit hinzu (Simmel 1995a: 52). Simmel setzt in seinem Werk bereits Freiheit mit Individualität gleich. Auch sieht er den zunehmenden Individualismus als Resultat der Arbeitsteilung: „Je differenzierter und einzigartiger die Individuen sind, desto enger sind sie doch wiederum aufeinander angewiesen (Simmel 1995c: 281).
Für diese Arbeit ist ferner das Verständnis von Individuum, Individualisierung und Masse von Ulrich Beck zentral. Laut Beck beschreibt die Individualisierung u.a. die „massenhafte und kollektive Vereinzelung“ der Gesellschaftsmitglieder.
„Der Einzelne verschmilzt nicht mehr mit der ‚Masse’, sondern bleibt als ‚Solist’ in ihr erhalten […]. Die ‚massenhaft Vereinzelten’ haben in dieser Perspektive das Erbe der ‚Masse’ angetreten.“ (Ebers 1995: 19)
[...]
[1] Einen guten Überblick über die Entwicklung der Theorien zum Verhältnis von Masse und Individuum in der Soziologie gibt Nicola Ebers in ihrem Werk zur Individualisierung (1995: Kapitel I und II).
[2] Eine gute Auswahlbibliographie zur „Soziologie der Masse“ mit Schwerpunkt auf die politischen Aspekte findet sich bei Pross und Buß (1984: 177-182).