Sachanalyse zu einer Bildungsinteraktion im Kindergarten im Fach Philosophie
Zusammenfassung
Leseprobe
WERKSTATT
PHILOSOPHIE UND RELIGION
Methodisch - didaktische Vorüberlegungen
1. Thema und ü bergeordnete Zielsetzung
Die Bildungsinteraktion ist Teil einer Angebotsreihe zum Thema Toleranz. Dieses Thema nimmt gerade aufgrund der aktuellen Flüchtlingspolitik einen hohen Stellenwert in unserer heutigen und insbesondere zukünftigen multikulturellen Gesellschaft ein. Diese Angebotsreihe hat das Ziel, das Verständnis der Kinder für die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit verschiedener Perspektiven und Vorstellungen von der Welt zu wecken.1
Anhand des Bilderbuches „Kopf hoch, Fledermaus“ von Jeanne Willis, möchte ich mit den Kindern der Frage „Wer oder was bestimmt, was normal ist?“ in einer anschließenden Gesprächsrunde nachgehen, da diese Frage mir in der Vergangenheit von einem Kind aus der Gruppe gestellt worden ist.
Das Buch dient als Hilfestellung, damit sich die Kinder in eine andere Perspektive hineinversetzen bzw. einen Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Im Speziellen soll es in dieser Bildungsinteraktion um die Wahrnehmung gehen. Die Kinder sollen erkennen, dass die (hier optische) Wahrnehmung die Sichtweise auf bestimmte Dinge sowie unsere Vorstellung davon, was normal bzw. für uns vertraut ist, beeinflusst.
3. Sachanalyse
fachwissenschaftliche Analyse
Der Begriff Toleranz lässt sich ableiten vom lateinischen tolerare und bedeutet so viel wie ertragen bzw. erdulden. Es gibt viele Definitionen für den Begriff Toleranz. Die UNESCO hat ihn in ihrer Erkl rung von Prinzipien der Toleranz im Artikel 1 wie folgt beschrieben: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens.“2
Den Perspektivwechsel, den die Kinder während der Bildungsinteraktion durchführen sollen, dient als Grundprinzip interkulturellen Lernens. Während der Bildungsinteraktion verwende ich jedoch das Synonym Blickwinkel oder Standpunkt und erkläre den Kindern, dass diese Wörter alle dieselbe Bedeutung haben.
Dieser Wechsel der Sichtweise wird einigen Kindern nicht leicht fallen. Der Biologe und Entwicklungspsychologe Jean Piaget spricht in diesem Zusammenhang vom Egozentrismus des Kindes. Demnach sind Kinder im Alter zwischen 2 und 6 Jahren nicht in der Lage, sich in eine andere Perspektive hineinversetzen zu können. Die Überwindung des Egozentrismus wird nach Piaget nur möglich durch Erfahrung und Speicherung unterschiedlicher Ansichten sowie durch sozialen (Meinungs-)Austausch sowie durch Widerspruch und Konflikt der Ansichten.
Da sich die BI mit der Frage „Wer oder was bestimmt, was normal ist?“ beschäftigt, muss geklärt werden, was normal überhaupt bedeutet. Laut Duden bedeutet es der Norm entsprechend bzw. vorschriftsm äß ig. „Normen sind nicht nur Richtlinien für Qualitätsmanagement oder Büromöbel, sondern legen auch wichtige Kriterien im sozialen Miteinander fest. Eine Norm ist weniger als ein Gesetz, aber mehr als eine Vereinbarung unter Einzelnen. Normal ist also das, woran man sich gemeinhin hält. Dadurch glänzt das Normale meist durch die Abwesenheit großer Überraschungen, es glitzert und flirrt nicht.“3 Das Gegenteil davon ist anormal und bedeutet von der Norm abweichend bzw. ungew ö hnlich oder anders.
Wer oder was bestimmt, was normal ist, ist zum einen die Gesellschaft, in der man lebt. Diese verlangt von ihren Mitgliedern, dass sie ein normales Leben führen. Die Voraussetzungen für das normale Leben ändern sich in jeder Gesellschaft. Der Begriff Normalit t hat eine enge Beziehung mit der Kultur. Im Alltag benutzen wir den Begriff normal fast schon inflationär. In fremden Kulturen hingegen fällt es uns schwer, da wir uns erst an neue Sitten und Gebräuche sowie diverse Selbstverständlichkeiten in dieser Kultur gewöhnen müssen. Jede Kultur hat ihr eigenes Bild davon, was Normalit t und anders sein bedeutet. Folgende Beispiele können dies verdeutlichen:
In Indien ist es völlig normal seine Nahrung mit der Hand zu essen. In Vietnam ist das Nase putzen in der Öffentlichkeit verboten. In China gilt Schmatzen beim Essen nicht als Unsitte. In Namibia wird bei Regen getanzt.
In Thailand hat jeder Wochentag seine eigene Farbe.
„Innerhalb einer Kultur lässt sich in historischer Perspektive zeigen, dass sich Normalitätsvorstellungen wandeln. Solche Vorstellungen sind für die Ordnung eines sozialen Systems unverzichtbar und sie sind für die Individuen in einer Gesellschaft hoch bedeutsam. Sie liefern Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt, aber auch für den Ausschluss (die Soziologie spricht von „Inklusion“ oder „Exklusion“). Differenzierte moderne Gesellschaften haben sich Professionen, Institutionen und Dienstleistungssektoren geschaffen, die die Grenze von Normalität und Abweichung „bewachen“ und kontrollieren bzw. Menschen durch Beratung und Therapie auf den „Pfad der Normalität“ bringen sollen. Psychiatrie, Psychotherapie, Sozial- und Sonderpädagogik oder Kriminologie haben genau dadurch ihr Mandat erhalten. Sie haben differenzierte Klassifikationssysteme geschaffen, die das Abweichungsfeld ordnet (…).“4
Dann gibt es noch die Wahrnehmung, welche Einfluss auf die Sichtweise und das Verständnis von Normalität hat. Fakt ist: Wir reagieren auf Reize aus unserer Umwelt, z.B. akustische Reize, chemische Reize oder optische Reize. Um all diese Reize wahrzunehmen, besitzt der Mensch sechs verschiedene Sinne. Darunter auch den Sehsinn. Unsere Sinne nehmen Reize aus unserer Umgebung auf. Unsere Filter entscheiden, welche Informationen davon in unser Bewusstsein gelangen. Diese werden dort sofort mit Erfahrungen verglichen und interpretiert,damit das Wahrgenommene kategorisiert werden kann. Es wird mit einem Gefühl besetzt und die Handlung wird ausgelöst. Dadurch wird vieles, was wir während unserer Entwicklung optisch wahrnehmen im Gehirn abgespeichert. Daraus ergibt sich ein Wiedererkennungswert. Das Gesehene wird zur Gewohnheit und somit normal. Für einen Menschen, der von Geburt an blind ist, ist es normal seine Welt in Licht und Schatten oder hell und dunkel einzuordnen. Er kennt es nicht anders.
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1 vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Philosophieren mit Kindern. In: www.bpb.de. Stand: 24.5.2016. URL: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Leitfaden_01_02_200516.pdf (letzter Abruf am 22.09.2016)
2 UNESCO: Erkl rung von Prinzipien der Toleranz. In: www.unesco.de. Stand: 23.09.2016 URL: http://unesco.de/infothek/dokumente/unesco-erklaerungen/erklaerung-toleranz.html (letzter Abruf am 23.09.2016)
3 Emotion: Was bedeutet eigentlich ... normal? In: www.emotion.de Stand: 09.04.2014 URL: http://www.emotion.de/de/ina-schmidt/kolumne-normal-6214 (letzter Abruf am 24.09.2014)
4 Keupp, Heiner: Normalit t und Abweichung. In: www.ipp-muenchen.de Stand: unbekannt URL: http://www.ipp-muenchen.de/texte/keupp_normal_2_freiburg_07.pdf (letzter Abruf: 25.09.2016)