Gesundheitspolitische Reformvorschläge in Deutschland. Die Bürgerversicherung
Zusammenfassung
Im internationalen Vergleich können die Rahmenbedingungen der Gesundheitsvorsorge und Krankenbehandlung in Deutschland als besonders hoch eingeschätzt werden. Doch aktuell läuft das stabile System Gefahr zu kippen. Stark ansteigende Beiträge und Kosten haben die Gesundheitspolitik in den letzten Jahren zum Mittelpunkt wichtiger politischer Debatten gemacht. Sogar von „Kostenexplosionen“ berichtet die Presse. Die Kostensteigerungen könnten nur durch steigende Beitragssätze abgefangen werden, doch dies hätte möglicherweise fatale Folgen für den Arbeitsmarkt. Auch wenn Gesundheit das wichtigste Gut im Leben des Menschen ist, so muss das Gesundheitssystem innerhalb eines Sozialstaates gleichzeitig finanzierbar und wettbewerbsfähig bleiben.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird die anhaltende Notwendigkeit einer Gesundheitsreform erläutert. Dazu werden aktuelle gesundheitspolitische Probleme und Herausforderungen betrachtet. Im Hauptteil wird der Fokus auf den Reformvorschlag der Bürgerversicherung gelegt. Ziel soll es sein, ein Grundverständnis über den einnahmeseitigen Stellhebel der Politik zu geben, nicht einzelne politische Ausgestaltungsmöglichkeiten detailliert zu erörtern. Da der Reformvorschlag zur Bürgerversicherung von der Rürup-Kommission 2003 erfolgte, bildet das Jahr 2003 Basis für nachfolgende Betrachtungen. Ist die Bürgerversicherung ein geeignetes Konzept, um Krankenversicherungsbeiträge nachhaltig zu senken und welche Auswirkungen hätte sie für die deutschen Bürger?
Um die Forschungsfrage umfassend beantworten zu können, soll abschließend eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Bürgerversicherung erfolgen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitendes
2 Notwendigkeit zur Reform
3 Politische Reformvorschläge
3.1 Ausgabenorientierte Reformvorschläge
3.2 Einnahmenorientierte Reformvorschläge
3.2.2 Die Auswirkungen der Bürgerversicherung
3.2.3 Die Umsetzbarkeit der Bürgerversicherung
4 Fazit und Lösungsvorschlag
5 Quellenverzeichnis
Anhang I: Abbildungsverzeichnis
1 Einleitendes
Schon Oscar Wilde vertrat die Meinung: „Gesundheit ist die erste Pflicht im Leben.“ Gesundheit kann in der Tat als das wichtigste Gut im Leben eines Menschen betrachtet werden. Nur so lange sie gesichert ist, können wir unbeschwert am sozialen Leben teilhaben.
Im internationalen Vergleich können die Rahmenbedingungen der Gesundheitsvorsorge und Krankenbehandlung in Deutschland als besonders hoch eingeschätzt werden. Doch aktuell läuft das stabile System Gefahr zu kippen. Stark ansteigende Beiträge und Kosten haben die Gesundheitspolitik in den letzten Jahren zum Mittelpunkt wichtiger politischer Debatten gemacht. Sogar von „Kostenexplosionen“ berichtet die Presse (Böll, 2009). Die Kostensteigerungen könnten nur durch steigende Beitragssätze abgefangen werden, doch dies hätte möglicherweise fatale Folgen für den Arbeitsmarkt. Auch wenn Gesundheit das wichtigste Gut im Leben des Menschen ist, so muss das Gesundheitssystem innerhalb eines Sozialstaates gleichzeitig finanzierbar und wettbewerbsfähig bleiben.
Im ersten Teil dieser Arbeit wird die anhaltende Notwendigkeit einer Gesundheitsreform erläutert. Dazu werden aktuelle gesundheitspolitische Probleme und Herausforderungen betrachtet. Im Hauptteil wird der Fokus auf den Reformvorschlag der Bürgerversicherung gelegt. Ziel soll es sein, ein Grundverständnis über den einnahmeseitigen Stellhebel der Politik zu geben, nicht einzelne politische Ausgestaltungsmöglichkeiten detailliert zu erörtern. Da der Reformvorschlag zur Bürgerversicherung von der Rürup-Kommission 2003 erfolgte, bildet das Jahr 2003 Basis für nachfolgende Betrachtungen. Ist die Bürgerversicherung ein geeignetes Konzept, um Krankenversicherungsbeiträge nachhaltig zu senken und welche Auswirkungen hätte sie für die deutschen Bürger?
Um die Forschungsfrage umfassend beantworten zu können, soll abschließend eine kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Bürgerversicherung erfolgen.
2 Notwendigkeit zur Reform
Um den Reformvorschlag der Bürgerversicherung von der Rürup- Kommission im Hauptteil erläutern zu können, ist es zunächst grundlegend von Nöten sich die aktuellen Herausforderungen der deutschen Gesundheitspolitik vor Augen zu führen. Es ist zu konstatieren, dass die Beitragsätze der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) von 8,2% im Jahr 1970 auf 14,3% im Jahr 2003 stark angestiegen sind (Rürup, 2003). Ursachen für den Anstieg der Beitragssätze gibt es sowohl auf der Ausgaben- als auch der Einnahmenseite der GKV.
Die Ausgabensteigerungen sind mit den besonderen Gutseigenschaften von Gesundheitsgütern verbunden. Gesundheitsgüter zählen zu den sogenannten superioren Gütern, dass bedeutet mikroökonomisch, dass sie eine hohe Einkommenselastizität der Nachfrage aufweisen. Bei einem hohen Einkommen steigt die Nachfrage nach superioren Gütern. Das heißt im Hinblick auf die Gesundheitsgüter, dass sich die Bevölkerung eine qualitativ bessere und umfangreichere Gesundheitsversorgung wünscht (Storbeck, 2007).
Die gestiegene Nachfrage ist also keine Fehlentwicklung, sondern vielmehr eine logische Konsequenz aus dem gestiegenen Wohlstand der deutschen Bevölkerung und dem medizinisch-technischen Fortschritt (Augurzky & Felder, 2003). Die Entwicklung der Hochleistungsmedizin bietet neue Möglichkeiten: Moderne Behandlungsmöglichkeiten tragen dazu bei, dass die Lebenserwartung der Bevölkerung zunimmt. Jedoch sind vor allem medizinische Produktinnovationen sehr kostenintensiv und haben steigende Gesundheitsausgaben zur Folge (Fetzer, Hagist & Raffelhüschen, 2004).
In erster Linie sind jedoch nicht die Innovationen, sondern das fehlende Kostenbewusstsein von Patienten und Ärzten Grund für die Ausgabensteigerungen. Dadurch, dass die Kosten für Patienten undurchschaubar und einmalig mit dem Krankenversicherungsbeitrag abgeglichen sind, gibt es keinen Anreiz, Gesundheitsgüter und -dienstleistungen rational nachzufragen. Der kostensteigernde Effekt wird durch das Vergütungsmodell der Ärzte unterstützt, denn je mehr Leistungen sie verordnen, desto höher ist ihre Vergütung (Feldmann, 2015). Diese Fehlanreize entbehren der Betrachtung ökonomischer Variablen wie dem Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Wie zuvor erwähnt, nimmt die Lebenserwartung der deutschen Bevölkerung stetig zu.
Durch die zunehmende Alterung der deutschen Bevölkerung steigen die Kosten auf der Ausgabenseite, da ein höheres Alter mit erhöhten Ausgaben der Gesundheitsleistungen einhergeht. Der demografische Wandel ist gleichzeitig für Einnahmeprobleme verantwortlich, denn die Anzahl der erwerbsfähigen Personen wird ebenfalls sinken (Rürup, 2003). Durch die Lohnbezogenheit der Krankenversicherungsbeiträge führt der steigende Altersquotient zu einer Senkung der Beitragsgrundlage.
Auch die Veränderung der Einkommensverteilung hat die Senkung der Beitragsgrundlage zur Folge. Während die Lohnquote von 72,5 % im Jahr 2002 auf 64,2% im Jahr 2008 gefallen ist, steigt das BIP weiterhin (Schäfer, 2010). Dies untermauert die These der Veränderung der Einkommensverteilung von Lohn- zu Kapital- und Arbeitseinkommen. Auch andere sozialpolitische Bereiche wie die schwer abbaubare Sockelarbeitslosigkeit, tangieren die sinkende Beitragsgrundlage der GKV (Rürup, 2003).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, der Bruttolöhne und -gehälter, der GKV-Leistungsausgaben und der beitragspflichtigen Einkommen in Deutschland 1996-2002.
Quelle: modifiziert entnommen aus : Pfaff, Langer & Freund (2005, S.4 )
Anhand dieser Grafik wird die zuvor beschriebene Problematik abermals deutlich. Es ist erkennbar, dass die GKV- Ausgaben steigen, wenngleich die Steigung nicht mehr so steil verläuft wie in den Vorjahren. Jedoch fällt es auf, dass die beitragspflichtigen Einnahmen die Leistungsausgaben nicht mehr decken können (Pfaff, Langer & Freund, 2005). Als Konsequenz lässt sich annehmen, dass es auch bei vermindertem GKV-
Leistungsumfang zu einem einnahmebedingten Finanzierungsproblem kommen wird.
Weiterhin zeigt sich, dass die beitragspflichtigen Einkommen rückläufig sind, wohingegen die Bruttolöhne und Gehälter steigen oder zumindest stabil bleiben. Als Ergebnis wird es immer schwieriger, für die gesamte Bevölkerung eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, da die Einnahmenbasis der gesetzlichen Krankenversicherung durch ihre Finanzierung über die Lohneinkommen abnimmt (SPD Parteivorstand, 2011).
Um die Ausgaben zukünftig decken zu können, müssten die Beitragssätze stark angehoben werden. Laut Knappe und Arnold (2002) wären zukünftige Beitragssätze von 25% die Folge. Es sind enorme Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten, da die Sozialversicherungsbelastung auf über 50% ansteigen würde. Ein Ziel der politischen Reformvorschläge muss es folglich sein, den Arbeitsmarkt so attraktiv und wettbewerbsfähig wie möglich zu halten. Eine wichtige Maßnahme hierfür ist eine Senkung der Lohnnebenkosten, also auch die Senkung der Krankenversicherungsbeiträge für die Arbeitgeber.
Neben den Finanzierungsproblemen werden von der Bevölkerung weiterhin die Verteilungswirkungen im deutschen Gesundheitssystem kritisiert. Besonderheit ist dabei die Dualität im deutschen Krankenversicherungssystem. Rund 70 Millionen Versicherte sind gesetzlich versichert und 9 Millionen Versicherte sind in der Privaten Krankenversicherung (PKV) Mitglied (Paquet, 2013). Eine einkommensbezogene Beitragserhebung mit dem Umlageverfahren findet nur in der GKV statt. Das schließt nur 90% der Bevölkerung ein, die Versicherten der PKV entziehen sich dem Solidarprinzip.
Die schon angeführte Verschiebung von Lohn- zu Kapitaleinkommen und die Beitragsbemessungsgrenze führt ebenfalls zu einer nicht optimalen Umverteilung (Paquet, 2013).
3 Politische Reformvorschläge
Im Jahr 2003 kam es auf Grund der soeben beschriebenen fortschreitenden Problematik zur politischen Reaktion der Bundesregierung und der Bildung einer Arbeitsgemeinschaft zur Sicherung der Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rürup, 2003). Die sogenannte Rürup-Kommission, unter Vorsitz von Bert Rürup, arbeitete daraufhin einen 2-Stufen-Plan zur Reformation des Gesundheitssystems aus. Zum einen wurden kurzfristige eher ausgabenorientierte Konzepte ausgearbeitet, um den Druck auf der Finanzierungsseite kurzfristig zu nehmen. Zum anderen wurden langfristige Maßnahmen konzipiert, die die Einnahmenbasis der GKV stärken und so die positive Entwicklung des Arbeitsmarktes sichern sollen (Rürup, 2003).
Diese Arbeit legt den Schwerpunkt auf die Finanzierungsseite, da auch die Politik mit ihren gesundheitspolitischen Reformvorschlägen den Fokus auf die Einnahmensicherung der GKV gelegt hat.
3.1 Ausgabenorientierte Reformvorschläge
Um den steigenden Beitragssätzen entgegenzuhalten, wurde 2003 ein Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung verabschiedet. Hierbei stand die Entlastung durch eine Senkung der Ausgaben im Fokus.
Dies sollte in erster Linie durch Leistungsausgrenzungen und einer Veränderung der Zuzahlungsregelungen für GKV- Versicherte möglich sein. Von dem Ausschluss aus dem Leistungskatalog waren u.a. Sehhilfen und rezeptfreie Arzneimittel betroffen. Es wurde zusätzlich eine Praxisgebühr eingeführt. Damit eine ärztliche Konsultation für den Patienten möglich wurde, musste er einen pauschalen Beitrag in Höhe von 10 EUR pro Quartal entrichten. So erhoffte man sich eine Abnahme der Arztbesuche und damit verbundene Kostensenkungen (Rürup, 2003). Mit Hilfe des GKV- Modernisierungsgesetzes konnten die Leistungsausgaben im Jahr 2004 um rund 4 Mrd. Euro gesenkt werden (Die Welt, 2005). So erwirtschafteten die Krankenkassen seit langer Zeit erstmalig wieder Gewinne und der Beitragssatz konnte im Jahr 2004/2005 von 14,3% auf 14,2% gesenkt werden (GKV-Spitzenverband, o. J.).
[...]