Das Ziel dieser Arbeit ist, die Tatsache zu veranschaulichen, dass es zwischen den Begriffen Kasus und Semantik in der Tat gewisse Parallelen gibt, die trotz der enormen Anzahl verschiedener Arbeiten noch nicht ganz ausdiskutiert worden sind – die heutige kontroverse Diskussion unter den Sprachwissenschaftlern über die semantischen bzw. thematischen Rollen, die die direkten Nachfolger der Fillmoreschen Tiefenkasus sind, und deren Anzahl, ist ein Beweis dafür.
Der Begriff „Kasus“ ist in der traditionellen Grammatik fest etabliert. Als Schüler lernen wir das Kasussystem unserer Muttersprache in der Grundschule. Wer eine Fremdsprache erlernen will, muss sich mit dieser grammatikalischen Kategorie als einer der ersten auseinandersetzen. Mit ihr können wir Sprachen vergleichen und eine Sprachtypologie aufbauen: manche Sprachen haben nur einige Kasus, manche sehr viele, manche gar keine. Je mehr man die Kasussysteme der Welt miteinander vergleicht, desto mehr Indizien findet man dafür, dass es auch Sprachen gibt, die weder ein „reiches“ noch ein „armes“ Kasussystem haben – sie liegen irgendwo dazwischen. Bei einem solchen Vergleich könnte man sagen, dass z.B. das Englische ein armes bzw. „degeneriertes“ Kasussystem hat, die meisten slawischen Sprachen ein relativ reiches, Deutsch liegt irgendwo dazwischen.
Solch eine grobe Differenzierung könnte den Laien zu dem Fehlschluss führen, dass Sprachen mit armem Kasussystem nicht in der Lage sind, bestimmte syntaktische Verhältnisse in einem Satz genauso gut wie die Sprachen mit einem reichen Kasussystem darzustellen bzw. dass solche Sprachen überhaupt keine Kasustheorien aufweisen. Das ist jedoch nicht der Fall; ein deutscher Muttersprachler versteht den Satz „Erik sieht Peter“ genauso gut wie ein Pole den Satz „Eryk widzi Piotra“, obwohl im deutschen Satz das direkte Objekt im Akkusativ (Peter) nicht mit einem materiell sichtbaren Morphem markiert ist, wie es im polnischen Satz zu sehen ist (Piotra). Die Semantik des direkten Objekts in diesem Fall muss also eine von der Morphologie unabhängige Eigenschaft sein. Charles Fillmore war einer der ersten Sprachwissenschaftler, der sich intensiv mit der Kasussemantik beschäftigt hat und zwischen dem morphologischen und semantischen Kasus einen klaren Unterschied machte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Der Kasus im Satz
3. Semantik der Kasusformen
4. Sechs Tiefenkasus in The case for case
5. Fillmores Anspruch auf Universalität
6. Instrumental bei Fillmore
7. Selektion des Subjekts in der Kasusgrammatik
8. Fazit
Literaturverzeichnis
No one believes in them [casus] anymore. No one takes them seriously. They have even lost their name. They can no longer be called “cases”; they have to be called “surface cases”.
Anna Wierzbicka 1
1. Einführung
Der Begriff Kasus ist in der traditionellen Grammatik fest etabliert. Als Schüler lernen wir das Kasussystem unserer Muttersprache in der Grundschule. Wer eine Fremdsprache erlernen will, muss sich mit dieser grammatikalischen Kategorie als einer der ersten auseinandersetzen. Mit ihr können wir Sprachen vergleichen und eine Sprachtypologie aufbauen: manche Sprachen haben nur einige Kasus2, manche sehr viele, manche gar keine.
Je mehr man die Kasussysteme der Welt miteinander vergleicht, desto mehr Indizien findet man dafür, dass es auch Sprachen gibt, die weder ein „reiches“ noch ein „armes“ Kasussystem habensie liegen irgendwo dazwischen. Bei einem solchen Vergleich könnte man sagen, dass z.B. das Englische ein armes bzw. degeneriertes Kasussystem hat, die meisten slawischen Sprachen ein relativ reiches, Deutsch liegt irgendwo dazwischen.
Solch eine grobe Differenzierung könnte den Laien zu dem Fehlschluss führen, dass Sprachen mit armem Kasussystem nicht in der Lage sind, bestimmte syntaktische Verhältnisse in einem Satz genauso gut wie die Sprachen mit einem reichen Kasussystem darzustellen bzw. dass solche Sprachen überhaupt keine Kasustheorien aufweisen. Das ist jedoch nicht der Fall; ein deutscher Muttersprachler versteht den Satz „ Erik sieht Peter “ genauso gut wie ein Pole den Satz „ Eryk widzi Piotra “, obwohl im deutschen Satz das direkte Objekt im Akkusativ (Peter) nicht mit einem materiell sichtbaren Morphem markiert ist wie es im polnischen Satz zu sehen ist (Piotra). Die Semantik des direkten Objekts in diesem Fall muss also eine von der Morphologie unabhängige Eigenschaft sein. Charles Fillmore war einer der ersten Sprachwissenschaftler, der sich intensiv mit der Kasussemantik beschäftigt hat und zwischen dem morphologischen und semantischen Kasus einen klaren Unterschied machte. Obwohl seine Hypothese bzw. seine Tiefenkasus 3 immer noch als recht kontrovers gelten, gilt sein Aufsatz, The case for case (1968), immer noch als Klassiker auf diesem Gebiet und wird immer wieder von führenden Sprachwissenschaftlern erwähnt bzw. zitiert.
Diese Hausarbeit basiert auf dem o.g. Werk, im Mittelpunkt stehen vor allem neun Sätze, mit denen Fillmore sein Tiefenkasussystem veranschaulichen will:
(294 ) John opened the door.
(30) The door was opened by John.
(31) The key opened the door.
(32) John opened the door with the key.
(33) John used the key to open the door.
(34) John believed that he would win.
(35) We persuaded John that he would win.
(39) It was apparent to John that he would win.
(37) Chicago is windy.
(38) It is windy in Chicago.
Das Ziel dieser Arbeit ist, weder die Tiefenkasus-Theorie zu verteidigen noch ihre Schwäche zu zeigen. Vielmehr soll sie die Tatsache veranschaulichen, dass es zwischen den Begriffen Kasus und Semantik in der Tat gewisse Parallelen gibt, die trotz der enormen Anzahl verschiedener Arbeiten, Abhandlungen, Dissertationen usw., noch nicht ganz ausdiskutiert worden sind- die heutige kontroverse Diskussion unter den Sprachwissenschaftlern über die semantischen bzw. thematischen Rollen, die die direkten Nachfolger der Fillmoreschen Tiefenkasus sind, und deren Anzahl, ist ein Beweis dafür.
2. Der Kasus im Satz:
morphologisch vs. abstrakt / strukturell vs. inhärent Einer von Fillmores „Untersuchungssätzen“ lautet:
(29) John opened the door5. (John öffnete die Tür)
In diesem Satz gibt es zwei Argumente, einmal das Subjekt, und einmal das direkte Objekt.
Keines der beiden Argumente ist mit einem sichtbaren Morphem markiert: das Englische verfügt über ein sehr armes Kasussystem; die Bezeichnung „Akkusativ“ ist für diese westgermanische Sprache nicht wirklich geeignet, denn die Formen des Akkusativs völlig mit jenen des Dativs zusammenfallen. Es wäre aber auch nicht ganz korrekt zu sagen, dass es im modernen Englischen überhaupt keinen Akkusativ gibt, denn die „Reste“ dieses Kasus können immer noch bei den Pronomina (z.B. him) gefunden werden. Die Morphologie der Subjekt-markierenden Form in (29) ist mit der Objekt-markierenden Form identisch, nichtsdestotrotz ist jeder der englischen Sprache mächtige in der Lage, den abstrakten Kasus in diesem Satz zu erkennen und damit gleich zu sagen, welches Argument hier im Nominativ und welches im „Akkusativ“ steht. Gleiches gilt für die Mehrheit der slawischen Sprachen, denn Synkretismus ist, wenngleich die Kasusmorphologie der meisten slawischen Sprachen viel reicher als die der germanischen Sprachen ist, kein den slawischen Sprachen unbekanntes Phänomen:
(1) a. Джон открыл ɞɜɟɪɶ [Morph.Kasus: Nominativ oder Akkusativ].
b. John otworzył drzwi [Morph.Kasus: Nominativ oder Akkusativ].
Es ist also einleuchtend, dass der Kasus nicht einfach ein Aspekt der Morphologie, sondern auch eine mit konkreter struktureller Position im Satz verbundene Eigenschaft eines Nomens ist, und zwar nicht nur in Sprachen mit dem „armen“ Kasussystem, sondern auch in Sprachen mit stark entwickelter Kasusmorphologie.
Die germanischen und slawischen Sprachen sind Akkusativsprachen, aus diesem Grund erwarten wir, dass das externe Argument eines grammatikalisch kanonischen Satzes im Nominativ stehen muss und das interne Argument (meistens) im Akkusativ. Daher betrachten Sprachwissenschaftler (mit wenigen Ausnahmen6 ) den Nominativ und Akkusativ als strukturelle Kasus, die anderen Kasusformen, z.B. Genitiv und Dativ im Deutschen, als nicht-strukturelle (bzw. lexikalische oder inhärente) Kasus, da diese zwei Kasus (zumindest im Deutschen) nicht anhand der grammatikalischen Funktion, sondern der lexikalischen Eigenschaft des Verbs zugeordnet werden.
Fillmore glaubt an solche Binarität nicht und verzichtet in seiner Arbeit auf sie.
3. Semantik der Kasusform
Der Ausgangspunkt für alle Untersuchungen, die sich mit der Semantik der Kasusformen beschäftigen, ist die unbestreitbare Tatsache, dass die morphologische Kasusform für sich eine semantische Bedeutung haben kann; das können einfache Beispiele belegen:
(2) a. Eryk[Nominativ] widzi Piotra [Akkusativ].
b. Эрик [Nominativ] видит Пeтра [Akkusativ].
In (2a) und (2b) stehen die Argumente im Nominativ und Akkusativ. Sinn der beiden Sätze ist, dass eine Person namens Erik eine andere Person sieht, die Peter heißt. Wenn wir den morphologischen Kasus der beiden Argumente tauschen, ändert sich auch die Semantik des Satzes:
(3) a. Eryka[Akkusativ] widzi Piotr7 [Nominativ].
b. Эрикa [Akkusativ] видит Пётр8 [Nominativ].
Der Satz (3) hat schon eine ganz andere Bedeutung: die Person, die gesehen wird, ist nicht mehr Peter, und die Person, die schaut, ist nicht mehr Erik.
[...]
1 Aus: The Case for Surface Case
2 Kasus im traditionellen Sinne dieses Begriffes (Systeme von Kasusmorphemen)
3 Eng.: Deep Case
4 Hier und weiter: authentische Nummerierung aus The case for case (1968)
5 Fillmore 1968 : 35
6 Z.B. Dürscheid 1998 : 58
7 Bzw. Piotr widzi Eryka
8 Bzw. Bzw. Пётр видит Эрика