Im Zuge der Dokumentarliteratur-Strömung hat Erika Runge 1968 die "Bottroper Protokolle" veröffentlicht, eine Sammlung von Interviews mit Bottropern, die außerdem Aufzeichnungen von einer Betriebsversammlung und einem Gespräch zwischen zwei Bergarbeiterehepaaren enthält. Über dieses Buch hält Kurt Rothmann fest: „der Hinweis auf das Tonbandgerät und das Fehlen jeglicher Spur des Herausgebers oder seiner gestalterischen Eingriffe erwecken den Eindruck absoluter Authentizität.“ In dieser Arbeit soll analysiert werden, inwieweit dieser Anschein zutreffend ist.
Der Begriff Authentizität wird im Folgenden im Sinne von „Unverfälschtheit“ verwendet. Als Gradmesser für die Authentizität der "Bottroper Protokolle" soll gelten, inwiefern sie die wahre Lebenssituation und die tatsächlichen Gedanken der Befragten abbilden. Des Weiteren erscheint es unpassend, Runge als Autorin zu bezeichnen, weil sie die Texte im Buch nicht selbst geschrieben, sondern lediglich aufgezeichnet, überarbeitet und zusammengestellt hat. Deshalb wird sie in dieser Arbeit Aufzeichnerin genannt, in Anlehnung an den Untertitel „Aufgezeichnet von Erika Runge“.
Die ersten beiden Kapitel dieser Arbeit beschäftigen sich mit dem Entstehungsprozess der "Bottroper Protokolle", wobei das Augenmerk darauf liegt, bei welchen Schritten es in welcher Weise zu einem Authentizitätsverlust gekommen sein könnte. Das erste Kapitel behandelt die Auswahl der Interviewpartner durch Runge und die Durchführung der Befragungen. Im zweiten Kapitel geht es um die Auswirkungen der Veränderungen, die die Aufzeichnerin an den Protokollen vorgenommen hat und um das System, nach welchem sie die Einzeltexte im Gesamtwerk angeordnet hat. Das dritte Kapitel analysiert das Vorwort von Martin Walser im Hinblick auf eine mögliche Beeinflussung der Art und Weise, wie der Leser die "Bottroper Protokolle" interpretiert.
Ein wichtiger Literaturtitel für diese Arbeit ist die Monographie "Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur" von Nikolaus Miller. Außerdem bezieht sich diese Analyse häufig auf die Magisterarbeit von Monika Frasl, die den Titel "Studien zur Protokoll-Literatur von Erika Runge" trägt.
I Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Untersuchung der Authentizität der Bottroper Protokolle
2.1 Auswahl der Interviewpartner und Durchführung der Interviews
2.2 Bearbeitung und Anordnung der Interviews
2.3 Der Einfluss des Vorworts von Martin Walser auf den Leser
3 Fazit
II Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Im Zuge der Dokumentarliterartur-Strömung hat Erika Runge 1968 die Bottroper Protokolle[1] veröffentlicht, eine Sammlung von Interviews mit Bottropern, die außerdem Aufzeichnungen von einer Betriebsversammlung und einem Gespräch zwischen zwei Bergarbeiterehepaaren enthält. Über dieses Buch hält Kurt Rothmann fest: „der Hinweis auf das Tonbandgerät und das Fehlen jeglicher Spur des Herausgebers oder seiner gestalterischen Eingriffe erwecken den Eindruck absoluter Authentizität.“[2] In dieser Arbeit soll analysiert werden, inwieweit dieser Anschein zutreffend ist.
Der Begriff Authentizität wird im Folgenden im Sinne von „Unverfälschtheit“ verwendet. Als Gradmesser für die Authentizität der Bottroper Protokolle soll gelten, inwiefern sie die wahre Lebenssituation und die tatsächlichen Gedanken der Befragten abbilden. Des Weiteren erscheint es unpassend, Runge als Autorin zu bezeichnen, weil sie die Texte im Buch nicht selbst geschrieben, sondern lediglich aufgezeichnet, überarbeitet und zusammengestellt hat. Deshalb wird sie in dieser Arbeit Aufzeichnerin genannt, in Anlehnung an den Untertitel „Aufgezeichnet von Erika Runge“.
Die ersten beiden Kapitel dieser Arbeit beschäftigen sich mit dem Entstehungsprozess der Bottroper Protokolle, wobei das Augenmerk darauf liegt, bei welchen Schritten es in welcher Weise zu einem Authentizitätsverlust gekommen sein könnte. Das erste Kapitel behandelt die Auswahl der Interviewpartner durch Runge und die Durchführung der Befragungen. Im zweiten Kapitel geht es um die Auswirkungen der Veränderungen, die die Aufzeichnerin an den Protokollen vorgenommen hat und um das System, nach welchem sie die Einzeltexte im Gesamtwerk angeordnet hat. Das dritte Kapitel analysiert das Vorwort von Martin Walser im Hinblick auf eine mögliche Beeinflussung der Art und Weise, wie der Leser die Bottroper Protokolle interpretiert.
Ein wichtiger Literaturtitel für diese Arbeit ist die Monographie Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur von Nikolaus Miller.[3] Außerdem bezieht sich diese Analyse häufig auf die Magisterarbeit von Monika Frasl, die den Titel Studien zur Protokoll-Literatur von Erika Runge trägt.[4]
2 Untersuchung der Authentizität der Bottroper Protokolle
2.1 Auswahl der Interviewpartner und Durchführung der Interviews
Zunächst ist Runges Vorgehen bei der Auswahl der Interviewpartner näher zu betrachten. Es ist möglich, dass die Aufzeichnerin gezielt die Personen ausgewählt hat, die aufgrund ihres Lebenslaufs am ehestens die Antworten geben, die in das Gesamtbild ihrer Darstellung passen. In diesem Sinne stellt auch Miller fest: „Die Autorintention […] verbirgt sich hinter der scheinbar intensionslosen Präsentation des gezielt ausgesuchten, ja eigens herstellten Materials. So scheinen die Dokumente für sich selbst zu sprechen und sind doch nur das Sprachrohr des Autors“.[5] Runge selbst sagt über ihre Intention: „Mich interessierte nun, ob bei den Betroffenen ein neues Bewußtsein ihrer Lage entsteht und ob dieses Bewußtsein sie dazu bringt, aktiv zu werden und ihre Lage zu verändern.“[6]
Die einzige Gemeinsamkeit aller Interviewten ist, dass sie in Bottrop leben. Runge hat zunächst Kontakt zu Clemens K. aufgenommen. Er hat ihr die anderen Gesprächspartner vermittelt.[7] Es sind beide Geschlechter und verschiedene Altersstufen vertreten. Viele der Befragten sind von der Stilllegung der Zeche Möller/Rheinbaben nicht direkt betroffen, das heißt weder als dort Beschäftigter, noch als enger Angehöriger eines entlassungsbedrohten Bergarbeiters. Auch die Zugehörigkeit zur Klasse der Arbeiter gehört nicht zu den Auswahlkriterien, wie die Aufnahme der Darstellungen des Pfarrers Johannes L. und des Rektors Heinrich W. in die Bottroper Protokolle zeigt. Zu ähnlichen Feststellungen kommt auch Miller.[8] Des Weiteren analysiert er, dass Runge gezielt Interviewpartner gewählt hat, die besonders prädestiniert für den Anstoß von Veränderungen sind. Als Beispiele führt er unter anderem den kämpferischen ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Clemens K. und den jungen Beat-Sänger Rolf S. an,[9] der kein gleichförmiges, fremdbestimmtes Arbeiterleben führen möchte. Dies unterstützt die These, dass Runge vorwiegend mit Menschen gesprochen hat, die ihrer oben zitierten Intention entsprechen. Zu Runges Absicht stellt Miller weiterhin fest, dass diese „identisch mit dem Programm der ‚Rekonstruktion der Arbeiterbewegung‘“[10] ist. Diese hat sich die DKP (Deutsche Kommunistische Partei) zum Ziel gesetzt, der Runge angehört hat.[11] Der Rezensent Gottfried Just wirft Runge vor, sie hätte „möglicherweise nur die Lebensläufe ausgewählt, die noch immer dazu taugen, der marxistischen Theorie von der Ausbeutung zu einer Rechtfertigung von trostloser Aktualität zu verhelfen.“[12] Diese Sichtweise unterstützt Irmgard Scheitler, die – auf Dokumentarliteratur im Allgemeinen bezogen – festhält, dass diese trotz ihrer vermeintlichen Sachlichkeit der Bildung einer politischen Meinung im Sinne des Autors bzw. Aufzeichners dient.[13] Runge gibt selbst zu, dass es ihr „nicht allein um die Dokumentation, sondern um gezielte Aufklärung durch sie“ gegangen ist.[14]
Die in den Bottroper Protokollen veröffentlichten Lebensgeschichten stellen nur eine kleine Auswahl dar. Runge hat mehr Menschen interviewt und für ihr Buchprojekt diejenigen ausgewählt, die ihrer Ansicht nach besonders repräsentativ sind.[15] Auch diese nachträgliche Auswahl spricht für eine Darstellung der Arbeiterschaft gemäß den Intentionen der Aufzeichnerin.
Nach der Auswahl der Interviewpartner folgt die Durchführung der Interviews. Auch dabei bieten sich der Aufzeichnerin Möglichkeiten, die Aussagen durch Suggestivfragen in ihrem Sinne zu steuern. Runge berichtet, sie habe ihre Interviewpartner lediglich „um Hilfe gebeten“.[16] Laut Miller ermuntert und unterstützt Runge die Menschen bei der freien Erzählung ihrer persönlichen Erfahrungen und beeinflusst sie nicht durch die Art ihrer Fragen.[17] Leider ist aber nicht klar ersichtlich, woher Miller diese Erkenntnisse bezieht. Jedoch kommt auch Hans Joachim Schröder, der die mündliche Aufzeichnung des Interviews mit Maria B. mit der schriftlichen Form verglichen hat, zu dem Ergebnis, dass Runge vor allem nach detaillierteren Auskünften zu bereits Angerissenem fragt.[18]
Doch auch ohne Beeinflussung durch Suggestivfragen müssen die Erzählungen der Befragten nicht notwendigerweise hundertprozentig authentisch sein. Bei einem Interview handelt es sich um eine künstliche Redesituation, wie auch Miller anmerkt.[19] Dies führt dazu, dass die Menschen zu Darstellern werden und nicht komplett sie selbst bleiben.[20] Scheitler stimmt mit dieser Aussage überein und stellt zudem fest, dass Interviewte dazu neigen, literarischer, konstruierter und stärker um das Gesamtbild ihrer Erzählung bemüht zu sprechen.[21] Demzufolge entsprechen die Berichte nicht immer den wirklichen Gedanken der Befragten. Dies wird beispielsweise bei dem Protokoll des Rektors Heinrich W. deutlich, der – im Bewusstsein der Öffentlichkeit seiner Aussagen – nicht ausspricht, was er vermutlich denkt, sondern sich stattdessen um Diplomatie bemüht: „Hier sind fast nur Bergleute, die, deren geistiges Interesse doch nicht so stark ist. Und das wirkt sich auf die Kinder aus. Die Kinder sind, naja, es gibt überall begabte und unbegabte, das ist klar, aber so das allgemeine Interesse der Kinder hier ist nicht stark“.[22]
Außerdem entsprechen die Erzählungen lediglich den subjektiven Empfindungen der Interviewten. Jedes Protokoll gibt eine individuelle Lebensgeschichte und Sichtweise wieder und kann nicht als repräsentativ für die gesamte Klasse der Arbeiter oder auch nur der Bottroper Arbeiter gelten, wie Katrin Pallowski kritisiert.[23] Die Individualität der Aussagen wird durch die unterschiedliche Sprache in den Bottroper Protokollen deutlich. So ist zum Beispiel die Sprechweise der Hausfrau Erna E. stärker von Dialekt und Umgangssprache geprägt als die des Pfarrers Johannes L. Letzterer spricht außerdem in längeren, komplexeren Sätzen. Noch verschachtelter ist die Rede des Betriebsratsvorsitzenden August S., die in weiten Teilen konzeptueller Schriftlichkeit entspricht. Auf der anderen Seite gibt Runge die Nachnamen der Interviewten nur gekürzt wieder und erweckt auf diese Weise den Anschein von Anonymität und Allgemeingültigkeit. Dass die unvollständige Namensnennung nicht dem Schutz der Befragten vor der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dient, zeigt der Bericht des Rektors Heinrich W. Dessen Erwähnung seines Nachnamens hat die Aufzeichnerin nicht herausgestrichen: „Mein Vater war, wie sein Name sagt, Wegner, nämlich Wagenmacher.“[24]
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[1] Runge, Erika: Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser, Frankfurt am Main 197610.
[2] Rothmann, Kurt: Kleine Geschichte der deutschen Literatur, Stuttgart 200919, S.342.
[3] Miller, Nikolaus: Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, München 1982.
[4] Frasl, Monika: Studien zur Protokoll-Literatur von Erika Runge, Mag. phil., Wien 2009, online erschienen, URL: <http://othes.univie.ac.at/8142/1/2009-12-29_8251288.pdf> (eingesehen am 28.02.2017).
[5] Miller, Prolegomena, S.284.
[6] Erika Runge, zitiert nach Miller, Prolegomena, S.302.
[7] Frasl, Studien zur Protokoll-Literatur, S.47.
[8] Miller, Prolegomena, S.312.
[9] Ebd. S.316.
[10] Miller, Prolegomena, S.326.
[11] Ebd.
[12] Gottfried Just, zitiert nach Peitsch, Helmut: Nachkriegsliteratur 1945-1989, Göttingen 2009, S.269.
[13] Scheitler, Irmgard: Deutschsprachige Gegenwartsprosa seit 1970, Tübingen/ Basel/ Francke 2001, S.105.
[14] Erika Runge, zitiert nach Schmidt, Heinz Ulrich: Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre, Tübingen 1993, S.131.
[15] Frasl, Studien zur Protokoll-Literatur, S.47.
[16] Erika Runge, zitiert nach Miller, Prolegomena, S.313.
[17] Miller, Prolegomena, S.313.
[18] Peitsch, Nachkriegsliteratur, S.267.
[19] Miller, Prolegomena, S.285.
[20] Frasl, Studien zur Protokoll-Literatur, S.67.
[21] Scheitler, Deutschsprachige Gegenwartsprosa, S.107.
[22] Runge, Bottroper Protokolle, S.63.
[23] Peitsch, Nachkriegsliteratur, S.266.
[24] Runge, Bottroper Protokolle, S.56.