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Das Verhältnis von Mensch und Gott In Goethes "Prometheus" und "Grenzen der Menschheit"

©2017 Hausarbeit (Hauptseminar) 19 Seiten

Zusammenfassung

Johann Wolfgang von Goethe ist in ein Jahrhundert hineingeboren worden, das zwar maßgeblich unter dem Einfluss von wissenschaftlichen und geistlichen Fortschritten in Medizin, Astronomie und Philosophie stand, aber gleichzeitig noch immer an den traditionellen gesellschaftlichen Strukturen als von Gott angeordnet verhaftet blieb. Zusammen mit einer Vielzahl von jungen Dichtern (wie Matthias Claudius, Johann Gottfried Herder und natürlich Friedrich Schiller), rebellierte Goethe im Zuge des parallel zur Aufklärung entstehenden Sturm und Drangs gegen die Beschränkungen der Vätergeneration und postulierte dabei die individuelle Freiheit als höchstes Ideal. Als Urbild des freien, aus seinen persönlichen Empfindungen heraus schaffenden Menschen gebraucht er die Figur des Prometheus, die fortan als Prototyp des sogenannten „Originalgenies“ gilt.

Mit dem Übergang zur Klassik wendet sich Goethe allerdings zunehmend von diesem bedingungslosen Emanzipationsgedanken ab und setzt in Abgrenzung zu seinen früheren Werken vermehrt auf Werte wie Humanität, Toleranzbereitschaft, maßvolles Empfinden, Harmoniestreben und Bodenständigkeit. Eines der Werke, die an der Schnittstelle zwischen Sturm und Drang einerseits und Weimarer Klassik andererseits steht, ist das Weltanschauungsgedicht Grenzen der Menschheit aus dem Jahr 1780 (Entstehungszeitpunkt), wo der Fokus vom individuellen Fühlen und Denken des Einzelnen zurück auf das Weltganze verlegt wird.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen beiden unterschiedlichen Sichtweisen auf das Verhältnis von Mensch und Gott und versucht dabei einen Vergleich zwischen den in den Gedichten formulierten Weltbildern. In einem ersten Schritt wird sich die Arbeit also der Hymne Prometheus widmen und dort ins Besondere auf die Rolle des Prometheus sowie auf Stürmisch und Drängische Elemente achten. Im zweiten Teil folgt dann eine Analyse von Grenzen der Menschheit, bei der die veränderte klassische Geisteshaltung im Vordergrund stehen soll. Darauf aufbauend werden im dritten Teil dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gedichte diskutiert, ehe die Arbeit in einer letzten Zusammenfassung zu einem Fazit über das innere Verhältnis, das diese Gedichte zueinander haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Prometheus
2.1 Eine verkehrte Hymne
2.2 Die Rolle des Prometheus
2.3 Stürmisch und Drängische Elemente

3. Grenzen der Menschheit
3.1 Das Verhältnis von Gott und Mensch
3.2 Das Weltbild

4. Vergleich

5. Zusammmenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Wenn man dem bekannten britischen Germanisten Terence James Reed Glauben schenken darf, war die „Lehre von der Eitelkeit der Welt“, die die Möglichkeit diesseitiger Erfüllung verneinte, noch weit über die eigentlichen Grenzen des Barocks (etwa 1600 bis 1720) im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vorherrschend.[1] In seinem Artikel Der säkulare Goethe: Zur geistigen Selbstständigkeit und was daraus folgt beschreibt er, wie stark das Weltbild zu diesem Zeitpunkt trotz der kopernikanischen Wende noch vom christlichen Glauben an eine göttliche Schöpfungsordnung geprägt war und beschreibt die religiöse und oftmals sentimental anmutende Naturlyrik Barthold Heinrich Brockes als ernsthaften Ausdruck des „intellektuellen Niveau[s] des durchschnittlichen Lesers der Zeit“[2].

Johann Wolfgang von Goethe ist demnach also in ein Jahrhundert hineingeboren worden, das zwar maßgeblich unter dem Einfluss von wissenschaftlichen und geistlichen Fortschritten in Medizin, Astronomie und Philosophie stand, aber gleichzeitig noch immer an den traditionellen gesellschaftlichen Strukturen als von Gott angeordnet verhaftet blieb. Zusammen mit einer Vielzahl von jungen Dichtern (wie Matthias Claudius, Johann Gottfried Herder und natürlich Friedrich Schiller), rebellierte Goethe im Zuge des parallel zur Aufklärung entstehenden Sturm und Drangs gegen die Beschränkungen der Vätergeneration und postulierte dabei die individuelle Freiheit als höchstes Ideal. Als Urbild des freien, aus seinen persönlichen Empfindungen heraus schaffenden Menschen gebraucht er die Figur des Prometheus, die fortan als Prototyp des sogenannten „Originalgenies“ gilt.

Mit dem Übergang zur Klassik wendet sich Goethe allerdings zunehmend von diesem bedingungslosen Emanzipationsgedanken ab und setzt in Abgrenzung zu seinen früheren Werken vermehrt auf Werte wie Humanität, Toleranzbereitschaft, maßvolles Empfinden, Harmoniestreben und Bodenständigkeit. Eines der Werke, die an der Schnittstelle zwischen Sturm und Drang einerseits und Weimarer Klassik andererseits steht, ist das Weltanschauungsgedicht Grenzen der Menschheit aus dem Jahr 1780 (Entstehungszeitpunkt), wo der Fokus vom individuellen Fühlen und Denken des Einzelnen zurück auf das Weltganze verlegt wird.

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit diesen beiden unterschiedlichen Sichtweisen auf das Verhältnis von Mensch und Gott und versucht dabei einen Vergleich zwischen den in den Gedichten formulierten Weltbildern. In einem ersten Schritt wird sich die Arbeit also der Hymne Prometheus widmen und dort ins Besondere auf die Rolle des Prometheus sowie auf Stürmisch und Drängische Elemente achten. Im zweiten Teil folgt dann eine Analyse von Grenzen der Menschheit, bei der die veränderte klassische Geisteshaltung im Vordergrund stehen soll. Darauf aufbauend werden im dritten Teil dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gedichte diskutiert, ehe die Arbeit in einer letzten Zusammenfassung zu einem Fazit über das innere Verhältnis, das diese Gedichte zueinander haben.

2. Prometheus

Die Hymne „Prometheus“ wurde zwischen 1772 und 1774 von Johann Wolfgang von Goethe geschrieben und gilt als programmatischer Text der Epoche des Sturm und Drangs, da sie sowohl sprachlich, inhaltlich als auch konzeptionell das damals vorherrschende Ideal der persönlichen Freiheit und der Selbstverwirklichung des Ich ausdrückt.

2.1 Eine verkehrte Hymne

Formal entspricht das Gedicht der traditionellen griechischen Hymnenform mit freien Rhythmen, reimlosen Versen und unregelmäßigem Strophenbau. Auf eine Anrufung des Zeus folgt ein epischer Hauptteil, der dann jedoch nicht dem Gattungsformular entsprechend in eine Bitte an die entsprechende Gottheit mündet, sondern ganz im Gegenteil in einer radikalen Absage an den obersten olympischen Gott aushallt[3]. Bereits mit der imperativischen Exklamation „Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst“ in den ersten beiden Versen[4] wird die klassische Gebetform in eine Antihymne umgekehrt, proklamiert das lyrische Ich sein Selbstbestimmungsrecht und sorgt durch den rebellischen Tonfall seines Ausrufes für eine Umkehr der Machtverhältnisse zwischen Überlegenem und Unterlegenem, die während des gesamten Gedichtes erhalten bleibt. Sämtliche Aufbauelemente der Hymne—Aufschwung, Aretalogie, Fürbitte und Treuegelöbnis—werden ihres eigentlichen Sinnes enthoben und zu einer geradezu blasphemisch anmutenden Anklage umfunktioniert[5]. Anstatt die Machttaten des Zeus aufzuzählen und die Eigenschaften und Wundertaten der Götter zu lobpreisen, kritisiert er in den Strophen zwei bis fünf das Verhalten der Götter und stellt sie als distanzierte, sprachlose Wesen dar, die die Menschen nicht beschützen können, sondern vielmehr von deren Frömmigkeit und Vertrauen abhängig sind[6]. Das lyrische Ich beschreibt, wie es sich als Kind den Göttern zugewandt hat, um Verständnis, Akzeptanz Begleitung zu finden (V. 21-25), zieht aber die ernüchternde Bilanz, dass von den Herrschern des Olymps weder Hilfe noch Erbarmen oder Trost zu erwarten ist (V.38-41). Der Parallelismus „Ein Ohr zu hören meine Klage, | Ein Herz wie mein’s, | Sich des Bedrängten zu erbarmen“ (V. 25-27) verdeutlicht dabei einerseits die Dringlichkeit, mit der sich der junge, notleidende Prometheus an die Götter gewendet hat, verstärkt. in Verbindung mit den unmittelbar darauf folgenden rhetorischen Fragen—„Wer half mir | Wider der Titanen Übermuth? Wer rettete vom Tode mich | Von Sklaverey?“ (V. 28-31)—jedoch auch die Diskrepanz zwischen erhoffter Synergie und Realität. Aufgrund ihrer fehlenden Empfindungskraft, die sie nicht mit ihren Geschöpfen mitfühlen lässt, bleiben die Götter tatenlos und sehen unbeteiligt dabei zu, wie „die allmächtige Zeit“ (V. 43) ihr Werk tut.

Damit ist jedoch noch nicht genug. Das lyrische Ich beschuldigt die Götter zudem, eine „parasitäre Existenz“[7] zu führen, indem sie sich „von Opfersteuern | Und Gebetshauch“ ernähren (V. 15-16). Es liegt also gewissermaßen ein umgekehrtes Machtverhältnis vor, bei dem die Götter stark von den Menschen—ihren „Wirten“—abhängig sind und darauf vertrauen müssen, dass diese nicht bemerken, wie sie „betrogen“ (V. 35), ausgenutzt und geschädigt werden.

Im Einklang mit dieser These kommt Dr. Johannes Windrich in seinem Artikel Götter im Zwielicht: Zur Hymnendichtung des jungen Goethe auch zu der Auffassung, dass der Glaube in Prometheus mit einer Art blinden Verehrung gleichgesetzt wird[8], die die Schwachen („Kinder und Bettler“ V. 19) ihren Göttern entgegenbringen, weil sie von deren Majestätspomp (V. 17) geblendet werden und sich von ihnen wider aller Vernunft die Erfüllung ihrer „Blüthenträume“ (V. 50) erhoffen.

Aber obwohl der junge Prometheus zunächst noch Teil dieses Personenkreises von „Bettlern und Betern“ gewesen ist[9], macht er—wie in den Versen 32 bis 36 und 42 bis 45 beschrieben—bald einen Reifeprozess durch, der ihn seine eigene Autarkie entdecken lässt. Nach Ansicht des Prof. Dr. Peter Wruck von der Humboldt-Universität zu Berlin kann die Empfindungskraft des Prometheus demnach sowohl als Ursache für seine falsche Hingabe an die Götter und als Bedingung für seine spätere Entfaltung verstanden werden. In seinem Aufsatz Die gottverlassene Welt des Prometheus: Gattungsparodie und Glaubenskonflikt in Goethes Gedicht erklärt er, dass das Leiden der Grund ist, „aus dem die Gebete des Prometheus erwuchsen, als in verschiedener Gestalt die Lebensgefahren an ihn herantraten“, dass es gleichzeitig aber auch eine Schlüsselfunktion „in seiner Entwicklung und in seinem Selbstverständnis“ übernimmt (S. 528). Aufgrund der Kräfte seines „heilige[n], glühende[n] Herzen[s]“ (V. 43), gelingt es dem Halbgott schließlich, sich „im Spiel der übermächtigen Kräfte“ zu behaupten, das seine Existenz bis dato bestimmt hat[10], und dabei seine eigene Individualität zum Vorschein zu bringen.

2.2 Die Rolle des Prometheus

Wie Jonas Jølle in seiner Analyse der Prometheus-Hymne nachweist, ist das Gedicht durch eine Bewegung von außen nach innen gekennzeichnet, die maßgeblich durch die Verkettung der drei Synekdoche „Erde“ (V. 6), „Hütte“ (V. 8) und „Glut“ (V. 10) etabliert wird[11]. Indem also der Fokus vom Himmlischen und Göttlichen schrittweise auf das Menschliche verlegt wird, erfährt das Selbstgefühl des Individuums eine Aufwertung gegenüber der jenseitsorientierten Weltanschauung, die das lyrische Ich in den Strophen 2 bis fünf anprangert. Indem Prometheus das Religiöse überwindet und die Tugendzwänge aufgibt, „mit de[nen] er—in verfehltem Glauben und bodenloser Hoffnung befangen—heranwuchs“—erreicht er eine persönliche Freiheit, die ihm die Selbstverwirklichung seines Ichs ermöglicht.[12] Er beginnt, Menschen zu bilden, die von der gleichen Empfindungskraft beseelt sind wie er selbst (V. 51 bis 55), und errichtet auf diese Weise eine neue, menscheneigene Welt, wo das Fühlen den blinden Glauben ersetzt.

Wie im vorherigen Kapitel bereits angedeutet, hat sich die Leidensfähigkeit des Prometheus „als ein produktives Vermögen herausgestellt, ein Werk des glühenden Herzens, Kraft, die Schläge des Schicksals und den Lauf der Zeit, aus denen der Mann hervorging, nicht einfach auszudauern, sondern ihnen standzuhalten und sie zu bewältigen“[13]. Durch die Rückbesinnung auf die Kräfte seines Herzens entdeckt er also eine „neue Glut, die sich auf die Reproduktion des Selbst statt auf ein Außen richtet“[14] Und gerade diese betont sinnliche Wahrnehmung, aus der sich seine eigene Schöpfungskraft entwickelt hat, überträgt das lyrische Ich nun auf seine sterblichen Geschöpfe:

„Zu leiden, zu weinen, | Zu genießen und zu freuen sich, | Und dein nicht zu achten, | Wie ich!“ (V. 54 bis 57)—mit diesem letzten Triumphschrei, der durch das Abweichen von dem sonst reimlosen Schema zusätzlich hervorgehoben wird, verleiht er dem Menschen gewissermaßen seinen Lebensatem, seine Seele. Indem er ihn am Auf und Ab seiner Gefühle teilnehmen lässt, überreicht er ihm genau diejenige Kraft, die ihm zur erfolgreichen Emanzipation von den Göttern verholfen haben. Doch an dieser Stelle wirft Jonas Jølle die Frage auf, inwiefern man tatsächlich von einem Sieg des Prometheus sprechen kann. Er weiß darauf hin, dass die Hymne von einer deutlichen Diskrepanz zwischen der gesprochenen Nichtachtungserklärung auf der einen Seite und der Erzählsituation auf der anderen Seite geprägt ist[15]. Denn die wiederholten Bekundungen des lyrischen Ichs, es gäbe „nichts ärmeres | Unter der Sonn‘“ als die Götter, können kaum über die Tatsache hinwegtäuschen, dass diese nach wie vor einen großen Einfluss auf das lyrische Ich haben. Schon die bloße Tatsache, dass sich Prometheus mit dieser Hymne an Zeus und die Götter wendet, beweist, dass er nach wie vor mit ihnen verbunden ist und sich des Umgangs mit ihnen nicht erwehren kann. Außerdem zeugen die Ellipsen (z.B. „Ich dich ehren?“ im Vers 37), Enjambements (z.B. „Und darbtet, wären | Nicht Kinder und Bettler | Hoffnungsvolle Thoren“ in den Versen 18-20) und Inversionen (z.B. „Hat nicht mich zum Manne geschmiedet | Die allmächtige Zeit“ in den Versen 42-43) von einer Aufregung und innerlichen Zerrissenheit, die vor allem mit seiner selbstauferlegten Abgrenzung zu tun haben mag. Obwohl er von den Göttern für sein Verhalten nicht explizit bestraft worden ist, leidet er doch unter einer emotionalen Strafe, die der ursprünglichen vom griechischen Dichter Aischylos beschriebenen Verbannung in die kaukasischen Berge nicht unähnlich ist: er steht auf immer sowohl von den Göttern als auch von seinen Geschöpfen, den Menschen, isoliert[16]. Er bleibt in dem Spannungsfeld zwischen Leidenschaft und Moral, zwischen persönlicher Freiheit und Anpassung, sowie zwischen dem Wunsch, sich zu entfalten, und dem Bedürfnis, verstanden zu werden, gefangen.

2.3 Stürmisch und Drängische Elemente

Wie im obigen Abschnitt gezeigt, vereint die Goethe’sche Figur des Prometheus viele Schlüsselrollen und Paradigmen des Sturm und Drangs in seiner Person: er ist ein Rebell, Einzelkämpfer für Gerechtigkeit, fühlender Mensch und vor allem auch ein Originalgenie, das sich nicht an Regeln und Traditionen hält, sondern seine eigene Empfindungskraft nutzt, um einzigartige Werke zu schaffen. In diesem Sinne verkörpert er laut Dieter Bremer ein Art neues Selbstbewusstsein, „das den Menschen nicht mehr als geschaffenen verst[eht], sondern als Schaffenden, der sich selbst seine Form gibt und als formende Kraft die Welt gestaltet.“[17] Doch obwohl Prometheus von vielen Kritikern (wie z.B. von Theodore Gish) als der „Archetyp“ und idealtypischer Vertreter des Stürmisch und Drängischen Genies gesehen wird[18], fallen einige Besonderheiten auf, die dem Epochentypus zwar nicht direkt widersprechen, aber trotzdem eine bedeutende Variation darstellen. Die Schöpferkraft des lyrischen Ichs speist sich hier nämlich gerade nicht aus der Natur, sondern vielmehr aus seinem eigenen Herzen Sie ist keine besondere Art der Wahrnehmung, und erst recht kein Produkt aus der Einbildungskraft, sondern eine „innere, unmittelbar überzeugende Wahrheit“, wie es Nicolai von Bubnoff nennt[19]. Augen und Ohren können sich „irren“ (V. 23) und haben dem jungen Prometheus wie in der dritten Strophe beschrieben trotz allen Bemühens keinen Zugang zu den Göttern, nach denen er sich so stark gesehnt hat, zu bringen. Sein Selbstgefühl und seine innere Empfindungskraft bleiben die einzigen Sinneszugriffe, über die er den Kontakt zwischen der Außenwelt und den tiefsten Bereichen seiner Seele herstellen kann.[20] Durch die Kraft seines Herzens gelingt es ihm, sein Leiden in Kreativität umzuwandeln. Aus dem Mangel an Verständnis und Gefühl, den ihn die Götter entgegenbringen, wird er dazu getrieben, Menschen zu bilden, die ebenso leidens- und genussfähig sind wie er. Genialität erscheint in dieser Hymne also nicht als ein Vermögen oder als ein Talent, das jemand besitzen kann, sondern vielmehr als eine ganz individuelle Art und Weise, mit Einschränkungen umzugehen und Hürden gewissermaßen als Bausteine zu verwenden. Dabei ist es bezeichnend, dass Prometheus kein gesondertes Material wie Lehm oder Erde benutzt, um die Menschen zu formen, sondern sie scheinbar direkt aus seiner Agonie heraus schmiedet (V. 51-55). Dem „heilige[n], glühende[n] Herzen“ (V. 43) können Schmerz, Kummer und Sklaverei also nichts aussetzen. Kein „Wolkendunst“ der Welt (V. 2) vermag die innere Glut auszulöschen, die ihn vor den Launen der Götter schützt. Oder, wie es Nicolai von Bubnoff ausdrückt: „Die Persönlichkeit des Menschen, der ‚strebend sich bemüht‘, ist unsterblich, eine ‚geprägte Form, die lebend sich entwickelt‘ und von ‚keiner Zeit und keiner Macht zerstückelt‘ werden kann.“[21]

Ein weiteres Grundmerkmal des Sturm und Drangs, das in „Prometheus“ Anwendung findet, ist also das Freiheitsprinzip. Selbst in „Sklaverey“ (V. 31), unter Schmerzen (V. 38) und in Bedrängnis gelingt es dem lyrischen Ich die Freiheit seiner Gedanken zu behaupten und seine Individualität auszuleben. Es löst sich vom Ballast des Religiösen, bricht die Grenzen der Sittlichkeit und tritt aus den einschränkenden Glaubenslehren aus, an denen sich die „Kinder und Bettler“ (V.19) in ihrer verzweifelten Hoffnung noch immer halten. Dabei formen die freien Rhythmen, reimlosen Verse, und Neologismen das perfekte Rahmenwerk, durch das sich der innere Freiheits- und Emanzipationsdrang des lyrischen Ichs ausdrückt. Dieter Bremer setzt die Hymne also zurecht auch mit Giovanni Pico della Mirandolas De hominis dignitate in Verbindung, indem er deutlich macht, dass beide Werke beschreiben, wie der Mensch seine eigene Form gewinnen und seine eigene Wirkungsmacht entfalten kann, „indem er sie sich selbst gibt“ und gewissermaßen „sein eigener Bildner“ wird[22].

Wie im vorherigen Kapitel bereits angedeutet, liegt jedoch keine vollständige Sprengung sittlicher, moralischer und religiöser Grenzen vor. Das lyrische Ich formuliert zwar seine individuellen Ansprüche und entwickelt seine eigene Schöpfungskraft, doch schon die Sprechsituation beweist, dass er den Göttern durchaus noch verhaftet bleibt. Auf dieses maßvolle Festhalten an der gesetzhaften Ordnung weisen auch die Assonanzen (z.B. „gelindert“, „gestillet“ und „geschmiedet“ in den Versen 38,40 und 42), Parallelismen (z.B. V. 38 bis 41), Anaphern (z.B. V. 54 bis 55) und Wortwiedeerholungen hin, mit denen das antithetische Verhältnis von Himmel und Erde zumindest teilweise gemindert wird. Diese Einschränkung des persönlichen Willens zugunsten der Harmonie wird sich mit dem Übergang zur Klassik in Goethes Werken dann auch noch weiter fortsetzen und vertiefen.

3. Grenzen der Menschheit

Die das Gedicht „Grenzen der Menschheit“ wurde wahrscheinlich im Jahr 1780 von Johann Wolfgang von Goethe geschrieben und markiert den Übergang von der Epoche des Sturm und Drangs zu derjenigen der Klassik. Ähnlich wie in „Prometheus“ steht auch hier das Verhältnis von Mensch und Gott im Mittelpunkt, doch im Gegensatz zu der früheren Hymne wird hier das Ideal einer harmonischen Einheit von Gott, Natur und Mensch postuliert.

3.1 Das Verhältnis von Gott und Mensch

Ähnlich wie in Prometheus wird auch in Grenzen der Menschheit schon innerhalb der ersten Strophe das Verhältnis von Gott und Mensch etabliert und dann in den folgenden Versen weiter ausgeführt und vervollständigt. Im Vergleich zu der der frühen, Stürmisch und Drängischen Hymne erfährt der Mensch jedoch eine vollkommen neue Wesensbestimmung, bei der er fest in einer überindividuellen Ordnung verankert und im wahrsten Sinne des Wortes „geerdet“ (V. 21 bis 24) wird[23]. Im äußersten Gegensatz zu Prometheus, der sich mit seiner Klage über den scheinbar schwachen, viel zu passiv agierenden Zeus erhoben hat, fällt sich das lyrische Ich hier vom Anblick seines Gottes in eine freudig-erhabene, aber zugleich auch demütig-kontemplative Stimmung versetzt. Sowie es sich der Güte und Fürsichtigkeit gewahr wird, mit der Gott vom Himmel aus über die waltet und dort wie ein großer Gärtner selbst Hand anlegt, um alles zu segnen (V. 5 bis 6), fühlt sich das lyrische Ich buchstäblich zurück auf die Größe eines staunenden, aber doch gleichzeitig auch in gewissem Maße verängstigten Kindes reduziert (V. 9). Im Angesicht der Stärke, der Größe und des Alters seiner Gottheit, muss sich der Mensch als ein kleines Glied in dem unendlich viel größeren Daseinsmuster (V. 37 bis 42) erkennen und verstehen lernen, dass die Welt auch ohne ihn weiter existieren wird. Anhand des ruhigen, feierlichen und erhabenen Sprachstils zeigt sich jedoch, dass dieses Gefühl der Demütigung nicht als negativ zu betrachten ist, sondern vor allem wirkt, um das Leben des lyrischen Ichs in eine vollkommen neue Perspektive zu setzen und sein Streben umzuwerten. Es begreift, dass es sich den Kräften, die wie ein großes Gewitterwüten mit Blitzen (V.5) , Wolken und Winden (V.20) überall um es herum wüten, beugen muss.

Diese Beugebewegung spiegelt sich sodann auch sowohl im formalen Aufbau des Gedichts als auch in der thematischen Gliederung der einzelnen Strophen wider: betrachtet man die Strophen zwei bis fünf genauer, so fällt auf, dass sie inhaltlich und metaphorisch eine Art Rückwärtsentwicklung beschreiben, die von der himmelsstrebenden Hybris des Menschen zurück zu der selbsternüchternden Erkenntnis führt, dass der Mensch nicht an die Natur heranreicht und dass das einzelne Individuum im ewigen Lauf der Zeit nur eine geringe Rolle spielt. Selbst die kräftigsten, „markigsten“ Männer können sich nicht mit den Eichen (V.26) vergleichen, die seit Jahrhunderten Wind und Wetter strotzen und ihre Kraft aus Erde und Sonne ziehen, um mit Bescheidenheit, Geduld und Ausdauer dem Himmel entgegenzuwachsen. Und auch an die Reben (V.27), die aufgrund ihrer spiraligen Ranken häufig als Symbol der Unsterblichkeit angesehen werden, reicht der Mensch nach Meinung des lyrischen Ichs nicht heran. Auf die Frage, was die Menschen von den Göttern unterscheidet (V. 29 bis 30) folgt in den Versen 31 bis 36 unmittelbar die Antwort, dass der einzelne Mensch unweigerlich im ewigen Fluss des Lebens untergehen muss (V. 34 bis 35). Hier liegt dann gemäß der verwendeten Epipher „Uns hebt die Welle, | Verschlingt die Welle“, die einen der wenigen Reime im Gedicht bildet und zudem durch den Parallelismus besonders hervorgehoben wird, auch das Hauptaugenmerk des reflexiven Lobgesangs: in der Vergänglichkeit und Unbedeutendheit des Menschen im Unterschied zu der „uralten“ Existenz Gottes (V. 1). Die Ellipsen, Enjambements, Inversionen und das unregelmäßige Metrum verweisen hier auf die Menschlichkeit des lyrischen Ichs und lassen seine Fehlbarkeit besonders in Vordergrund treten, während der feierliche Sprachstil zum Ausdruck der Würde und Größe der angesprochenen Gottheit dient. Inhalt und rhetorische Gestaltung des Gedichts entsprechen sich also sehr gut, um eine Verbeugung des Menschen vor Gott, wie sie in den Versen 7 und 8 dargestellt wird, weiter zu entwickeln. Und auch die überwiegend weiblichen Kadenzen, die häufige Verwendung des Daktylus am Versanfang und auch die abnehmende Anzahl von Versen in den einzelnen Strophen (jeweils 10 in den ersten beiden, jeweils 8 in der dritten und vierten Strophe und zuletzt 6 in der fünften Strophe) verdeutlichen sprachlich die demütige Unterordnung des Geschöpfes unter den Schöpfer.

[...]


[1] Terence James Reed: Der säkulare Goethe. Zur geistigen Selbstständigkeit und was daraus folgt. In: KulturPoetik 14.1 (2014), S. 5-23, hier: S. 15.

[2] Terence James Reed: Der säkulare Goethe, S. 10.

[3] Peter Wruck: Die gottverlassene Welt des Prometheus. Gattungsparodie und Glaubenskonflikt in Goethes Gedicht. In : Zeitschrift für Germanistik 8.5 (1987), S. 517-531, hier: S. 523.

[4] Johann Wolfgang von Goethe: Prometheus. In ders.: Goethe‘s Schriften. Band 8. Hg. v. Georg Joachim Göschen. Leipzig 1789, S. 207-209, hier: S. 209.

[5] Johannes Windrich: Götter im Zwielicht. Zur Hymnendichtung des jungen Goethe. In: Poetica 44.1/2 (2012), S. 143-179, hier: S. 162.

[6] Jonas Jølle: "Prince poli & savant".Goethe's Prometheus and the Enlightenment. In: The Modern Language Review 99. 2 (2004), S. 394-415, hier: S. 397.

[7] Peter Wruck: Die gottverlassene Welt des Prometheus, S. 527.

[8] Johannes Windrich: Götter im Zwielicht, S. 159.

[9] Peter Wruck: Die gottverlassene Welt des Prometheus, S. 524.

[10] Peter Wruck: Die gottverlassene Welt des Prometheus, S. 530.

[11] Jonas Jølle: "Prince poli & savant”, S. 398.

[12] Peter Wruck: Die gottverlassene Welt des Prometheus, S. 529.

[13] Jonas Jølle: "Prince poli & savant”, S. 398.

[14] Johannes Windrich: Götter im Zwielicht, S. 163.

[15] Jonas Jølle: "Prince poli & savant”, S. 413.

[16] Jonas Jølle: "Prince poli & savant”, S. 408.

[17] Dieter Bremer: Prometheus-Variationen. Ein Mythos in der Renaissance und die Renaissance eines Mythos. In: Wiener Studien 104 (1991), S. 261-284, hier: S. 268.

[18] Theodore Gish: Götter, Helden—und Goethe. In: The South Central Bulletin 32.4 (1972), S. 217-220, hier: S. 218.

[19] Nicolai von Bubnoff: Goethe und die Philosphie seiner Zeit. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 1.2/3 (1947), S. 288-307, hier: S. 305.

[20] Marvin Bragg: Goethe's Conquest of the Enlightenment through Reevaluation of the Nature of Poetry. In: The South Central Bulletin 31. 4 (1971), S. 171-175, hier: S. 173.

[21] Nicolai von Bubnoff: Goethe und die Philosphie seiner Zeit, S. 297-298.

[22] Dieter Bremer: Prometheus-Variationen, S. 272.

[23] Johann Wolfgang von Goethe: Grenzen der Menschheit. In ders.: Goethe‘s Schriften. Band 8. Hg. v. Georg Joachim Göschen. Leipzig 1789, S. 212-214.

Details

Seiten
Jahr
2017
ISBN (eBook)
9783668491830
ISBN (Paperback)
9783668491847
Dateigröße
789 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Note
1,3
Schlagworte
Lyrik Goethe Mensch Gott Klassik Sturm und Drang Grenzen der Menschheit Ideale Genie Prometheus Gedicht Gedichtsvergleich
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