Die Frage nach europäischer Identität. Was bedeutet es, nach der Identität einer Kultur zu fragen?
Zusammenfassung
Unter dem Ereignis von Fluchtbewegungen nach Europa wird immer wieder von Grenzen gesprochen. Grenzen umschließen den Identitätsraum. So eruiert Sylke Nissen in ihrem Artikel 'Europäische Identität und die Zukunft Europas', dass „sich Menschen in Europa kognitiv und emotional mit Europa als einem abgrenzbaren Raum verbunden fühlen.“ Hier will diese Arbeit etwas völlig Anderes denken. Die Frage nach Identität selbst zu befragen, eröffnet eine Perspektive, Europa nicht als Ordnung zu begreifen, die sich über ihre Grenzen und ihre Abgrenzung definiert, sondern als transistorischen Raum, der sich bewusst kulturell nicht abgrenzt, und dennoch und gerade deshalb seine Identität gewinnt.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Frage nach Identität
2.1 Identität durch Differenz
2.2 Das andere Kap
2.3 Die Nicht-Kultur des Anderen
2.4 Zwischenfazit
3. Der Raub der Europa
3.1 Analyse
3.1.1 Die Erzählung
3.1.2 Ambivalenzen
3.1.3 Das Schlussbild
4. Fazit
1. Einleitung
Die Frage nach einer oder der europäischen Identität wurde im Verlauf der Geschichte dieses Kontinentes und des politischen Unternehmens mit dem Namen Europa immer wieder gestellt. Angeregt durch den Präsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel, der 1994 bei einer Ansprache vor dem Europäischen Parlament eine Charta der europäischen Identität einforderte, beschloss der 40. Kongress der Europa-Union Deutschland am 5.11.1994, ein solches Dokument auszuarbeiten. In seiner damaligen Rede postulierte Havel, „dass die wichtigste Anforderung, vor welche die Europäische Union sich heute gestellt sieht, in einer neuen und unmissverständlichen klaren Selbstreflexion dessen besteht, was man europäische Identität nennen könnte.“[1] Am 28. Oktober 1995 erreichte die Charta ihren Beschluss. Doch einer Identitätsstiftung, was immer das heißen mag, wird sie nicht vollständig gerecht. Sie beschreibt Europa als 'Werte-', 'Lebens-', 'Wirtschafts-', 'Sozial-' und 'Verantwortungsgemeinschaft', und formuliert eine Reihe von Werten und Normen wie 'Toleranz', 'Brüderlichkeit', 'Demokratie' usw., Begriffe die sicherlich mit zur Identität Europas gehören, doch scheint es immer noch eine Lücke zu geben, die es zu füllen gilt, denn die Charta selbst fordert wiederum „einen föderalen Aufbau unserer zwischenstaatlichen Ordnung, in der ein europäisches Gemeinschaftsgefühl und somit ein gemeinsames Bewusstsein der europäischen Identität entstehen kann.“[2] Wird nach einer europäischen Identität gefragt, dann fragt man auch nach einem Gemeinschaftsgefühl und einem Bewusstsein für Europa, das selbst fundiert werden muss, einer Quelle bedarf aus der heraus das Identitätsbewusstsein entstehen kann. Und so finden sich bis heute zahlreiche Artikel zu diesem Thema, die einerseits versuchen eine Antwort zu formulieren, als auch eruieren, weshalb eine Antwort auf die Identitätsfrage so wichtig ist.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit europäischer Identität, will aber die Frage selbst befragen: Was bedeutet es, nach Identität und der Identität Europas zu fragen? Welche Schlüsse lassen sich daraus für die Frage nach Identität und die Frage nach europäischer Identität ziehen?
Wenn es um Identitätsstiftung geht, kommen Mythen eine besondere Rolle zu:
„Mythen sind nicht eo ipso unwahre Berichte, wie es ein landläufiges Begriffsverständnis nahelegt, sondern Erzählungen, denen es nicht um historische Wahrheit, sondern politische Bedeutsamkeit geht. Sie stiften Bedeutung – im Raum, indem sie Ereignisse mit bestimmten Orten verbinden, und in der Zeit, indem sie Geschichten erzählen, die der Geschichte Bedeutsamkeit verleihen und sie von der Vermutung des bloß Vergangenen befreien. Politische Mythen sind Interpunktionen der Zeit, sie markieren Zäsuren und stellen Ligaturen her. Sie strukturieren Vergangenheit im Hinblick auf das für uns heute noch Bedeutsame, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Aber das tun sie nicht bloß der besseren Übersichtlichkeit zuliebe, sondern um Einfluss auf die in der Gegenwart lebenden Menschen auszuüben. Mythen verleihen Identität und stiften so Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, für das Individuum wie für sozio-politische Kollektive; aber sie nehmen diese auch in die Pflicht.“[3]
Bundespräsident Joachim Gauck konnte in seiner Europarede vom 22. Februar 2013 keinen für Europa identitätsstiftenden Gründungsmythos ausmachen. Nach ihm fehlt die eine große Erzählung, die 500 Millionen europäische Staatsbürger miteinander in einer Geschichte vereint. Diese Arbeit möchte einen Mythos vorschlagen und literatur- und kulturwissenschaftlich untersuchen: Eine antike Erzählung in der eine Figur auftaucht, die denselben Namen trägt wie der Kontinent: Der Mythos um Jupiter und Europa aus Ovids' Metamorphosen. Hierbei geht es nicht darum, ob und wie weit dieser Mythos namensgebend für den Kontinent Europa war und ob hierin die eine Identitätsstiftung zu finden ist, viel mehr trägt die Erzählung um die Entführung Europas durch Zeus dazu bei, die Frage nach der Identität Europas selbst zu befragen. Die Analyse des Textes wird dann aber Antworten liefern, die für weitere Prozesse der europäischen Identitätssuche herangezogen werden können. In diesem Sinne könnte der Mythos als Gründungsmythos für Europa gelesen werden. Die Antworten, die aus dem Text herausgearbeitet werden, formulieren ein andere Denkweise über Identität, die nicht von festen Grenzen und einer Europäischen Identität spricht, die Europa aus sich selbst heraus entwickelt, sondern Europa als Transit-Raum der Kulturen erkennt, ein Europa formuliert, das mit sich selbst bewusst im Widerspruch steht und es zu seinem Programm macht, eine Pluralität von Identitäten kontinuierlich zu erzeugen.
Unter dem Ereignis der aktuellen Fluchtbewegungen nach Europa wird immer wieder von Grenzen gesprochen. Grenzen umschließen den Identitätsraum. So eruiert Dr. phil. Sylke Nissen in ihrem Artikel Europäische Identität und die Zukunft Europas, dass „sich Menschen in Europa kognitiv und emotional mit Europa als einem abgrenzbaren Raum verbunden fühlen.“[4] Hier will diese Arbeit etwas völlig Anderes denken. Die Frage nach Identität selbst zu befragen, eröffnet eine Perspektive, Europa nicht als Ordnung zu begreifen, die sich über ihre Grenzen und ihre Abgrenzung definiert, sondern als transistorischen Raum, der sich bewusst kulturell nicht abgrenzt, und dennoch und gerade deshalb seine Identität gewinnt.
Die Arbeit geht wie folgt vor. Zunächst werden Gedanken zur Identitätsfrage auf theoretischer Grundlage aus Texten von Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida exzerpiert. Nach einem Zwischenfazit widmet sich die Arbeit dann dem Mythos Jupiter und Europa, untersucht diesen literaturwissenschaftlich in seiner Struktur und Funktionsweise, und entwickelt mit der Analyse von Ovids' Erzählung die exzerpierten Gedanken weiter. Ein Fazit fasst alle Ergebnisse zusammen und formuliert abschließende Überlegungen.
2. Die Frage nach Identität
Im Folgenden geht die Arbeit der Frage nach, was es bedeuten kann, nach (kultureller) Identität zu fragen auf der Grundlage theoretischer Texte. Dabei beginne ich mit dem Zeichenmodell nach Ferdinand de Saussure, der zu einer differenzlogischen Bestimmung von Bedeutung führt. Diese Differenzlogik wende ich analog an auf die Bestimmung von Identität. Anschließend folgt ein Exzerpt zu Jacques Derridas' Das andere Kap. Ein Text der explizit der Frage nach Europäischer Identität nachgeht. Dem folgend stelle ich Überlegungen an, was 'Nicht-Kultur' bedeutet und wie diese manifestiert wird.
2.1 Identität durch Differenz
Wenn über die Identität Europas gesprochen werden soll, dann stellt sich mitunter die Frage, wie Identität überhaupt zustande kommt. Ich möchte hier keinen philosophischen Diskurs eröffnen, was Identität sei, und keine vollständige Nachzeichnung des historisch-philosophischen Diskurses präsentieren, sondern ich möchte eine Logik aufgreifen, die auf Ferdinand de Saussure zurückgeht. Diese eröffnet eine Perspektive, die verdeutlicht, welcher Prozess ganz automatisch entsteht, wenn man nach (kultureller) Identität fragt.
Saussure entwirft in seiner Zeichentheorie ein dyadisches, rein innersprachliches Zeichenmodell, welches die Entstehung von Bedeutung beschreiben soll.[5] Nach ihm besteht ein Zeichen aus einem Signifikanten (Signifiant, Bezeichnendes, äußere Zeichenform) und dem zugehörigen Signifikat (Signifié, Bezeichnetes, Zeicheninhalt). Dieses meint die Vorstellung dessen, das mental aufgerufen wird, wenn ein Zeichen wahrgenommen wird, und jenes meint den Zeichenkörper selbst in seiner Form als Lautbild, Schriftzeichen oder Schriftbild. Beide Elemente des Zeichens stehen zueinander im Verhältnis einer reziproken Evokation. Das bedeutet, dass die Zeichenkette 'Baum' (Signifikant) in mir mental die Vorstellung eines Baumes (Signifikat) hervorruft und umgekehrt die Vorstellung eines Baumes den Zeichenkörper hervorruft, sich beides also gegenseitig ins Gedächtnis ruft. Die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant ist nach Saussure arbiträr und konventionell. Konventionell heißt, dass der Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat sich in der deutschen Sprachgemeinschaft so entwickelt hat und innerhalb dieser Sprachgemeinschaft eine aus dieser heraus entstandene Vereinbarung (Konvention) ist. Dass es aber ausgerechnet die Zeichenkette 'Baum' ist, die die mentale Vorstellung hervorruft, folgt eher einer Beliebigkeit, denn andere Sprachen verwenden andere Zeichenkörper für dasselbe Signifikat (wie bspw. im Englishen 'tree'). Das meint, es könnte für die Vorstellung eines Baumes auch ein völlig anderen Zeichenkörper geben (Arbitrarität).
Dies ist nun eine Dimension der Entstehung von Bedeutung bei Saussure. Zudem kommt Folgendes hinzu. Die Bedeutung eines Zeichens entsteht weiterhin durch den Unterschied, seine Differenz zu anderen Zeichen. Hier tritt nun eine differenzlogische Bestimmung von Bedeutung zutage. Sprachzeichen sind Teil eines Sprachsystems. Die Bedeutung eines Zeichens entsteht nicht aus dem Zeichen selbst heraus, sondern dadurch, dass das Zeichen von allen anderen Zeichen des Systems unterscheidbar ist. Ein Sprachzeichen wird in seiner Bedeutung nicht aus sich heraus, d.h. positiv, sondern durch seine Differenz zu anderen Zeichen bestimmt. Diesen Gedanken der differenzlogischen Entstehung von Bedeutung, kann man nun auf den Prozess der Identifikation übertragen. Das bedeutet konkret, dass wenn man bspw. nach der Identität einer Kultur fragt, man sich in einen Prozess begibt, der die zu identifizierende Kultur differenzlogisch bestimmt. Die Frage nach der Identität selbst evoziert eine Abgrenzungsbewegung, denn die Kultur gewinnt nur Identität, in dem sie sich von allen anderen Kulturen unterscheidet. Das heißt natürlich nicht, dass zwei Kulturen nicht die selben Werte vertreten können, aber es bleibt immer ein Unterschied zwischen beide bestehen und es ist diese Differenz, die jede Kultur zu ihrer Identität verhilft. Man kann in diesem Sinne auch das 1. Axiom der Logik anführen, das sogenannte principium identitatis, das besagt, dass „jeder Gegenstand mit sich selbst identisch ist“ und verschieden von anderem.[6] Dieser differenzlogische Ansatz findet sich bei Derrida wieder u.a. in einem Text über die Identität Europas und erfährt darin eine gedankliche Weiterführung.
2.2 Das andere Kap
Mit der Identitätsfrage Europas beschäftigt sich auch Derrida: „Etwas Einzigartiges nimmt in Europa seinen Lauf, geht dort vor sich, wo man noch von Europa redet, mag man auch nicht mehr genau wissen, was oder wer so heißt. Denn welchen Begriff, welches reale Individuum, welche besondere Wesenheit, welches besondere Gebilde können heute mit diesem Namen versehen werden? Wer sollte die Grenzen dessen, was den Namen Europa trägt, umreißen?“[7] Diese Fragen sprechen etwas aus, das immer unbeantwortet bleiben muss, um zu einer Identität Europas zu gelangen. Und damit sind es genau diese Fragen selbst, die als Frage eine Antwort sind auf die gesuchte Identität. Man betrachte auch diese Formulierungen:
„Wir Europäer sind jünger denn je, da es ein bestimmtes Europa noch nicht gibt. Hat es dieses Europa jemals gegeben? Wir gehören jedoch zu jenen jungen Menschen, die sich im Morgengrauen schon alt und müde von ihrem Lager erheben. Wir sind bereits erschöpft. Dieses Axiom der Endlichkeit enthält einen Schwarm an Fragen, es stellt einen Ansturm dar, mit dem uns Fragen überfallen. Von welcher Erschöpfung müssen wir uns – müssen sich die jungen Alteuropäer erholen, um erneut aufzubrechen? Sollen sie von neuem beginnen? Oder sollen sie sich – Verabschiedung Europas – vom alten Europa trennen? Sollen sie zu eine Europa aufbrechen, das es noch nicht gibt? Oder sollen sie aufbrechen, um zu einem ursprünglichen Europa zurückzukehren, das es wiederherzustellen, wiederzufinden, wiederzugestalten gilt, mitten in einer großen Feier der >>Wiederbegegnung<<, des >>Sichwiederfindens<<?“[8]
Die Suche nach der Identität Europas eröffnet bei Derrida zunächst ein Spektrum an Fragen. Was soll mit dem Begriff 'Europa' überhaupt umrissen werden und wer bestimmt und wie bestimmt sich diese Grenzlinie? Wohin richtet sich die Perspektive: Sollen die Europäer zurück blicken zu einem Ursprungseuropa, was immer das heißen mag, oder sollen sie nach vorne auf ein Europa schauen, das es noch nicht gibt. Derrida beantwortet diese Fragen nicht, sondern entwirft auf der Grundlage der Differenzlogik ein andere mögliche Denkweise, sich europäischer Identität zu nähern. Darin wird sich unter anderem nach Derrida die Identität Europas finden: In einem Unterwegssein zwischen einem Europa, das es noch nicht gibt und einem, das es bisher nicht gegeben hat. In einem Prozess zwischen dem Aufbruch zu Neuem und der Verabschiedung von Altem, der dauerhaft und unabschließbar ist, entwickelt sich und ist die Identität Europas. Der Ansturm an Fragen, so wird sich dieser Prozess hier vorstellen, soll nicht enden. Er muss ausgehalten, sogar gefeiert werden. Um diesen Prozess näher zu beleuchten, möchte ich weiter Derridas Essay folgen.
Das andere Kap, so lautet der Titel des Essays, in dem Jacques Derrida sich mit der Identität Europas auseinandersetzt.[9] Das Wort 'Kap' wird hier in für Derrida typischer Manier für Doppeldeutigkeiten gebraucht. Eine Bedeutung liegt darin, dass Europa insofern ein Kap ist, dass es geographisch gesehen ein winziger Auswuchs Asiens darstellt. Betrachtet man den asiatischen und europäischen Kontinent auf einem Globus, dann wird die geographische Winzigkeit Europas ersichtlich. Eine solche Perspektive lässt Europa in Bedeutungslosigkeit versinken. Derrida nennt allerdings eine weitere Bedeutung für das Wort 'Kap'. Kap meint auch das Ziel einer Sache, „das Telos einer gerichteten, berechneten gewollten, beschlossenen, ausgemachten, angeordneten Bewegung.“[10] Als Metapher dient die Schiff- oder Luftfahrt: Ein Schiff hat stets einen bestimmten Kurs auf ein Kap. Das Kap kann, immer noch innerhalb der Metapher gesprochen, der Bug oder der Kapitän sein. Das Kap meint hier also das Vorgeschobene, das Steuernde und Kurs gebende, das auf ein bestimmtes Ziel hinsteuert. Und so zeigt sich Europa, als der winzige geographisch bedeutungslose Auswuchs Asiens, als politisches Kap, das die Geschicke der Weltpolitik lenken will.
Doch der Titel des Essays lautet Das andere Kap. Derrida stellt in seinem Text verschiedene Axiome auf. Sein zweite Axiom lautet: „ Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist. “[11] Und so hängt das Kap Europas immer auch am Kap des anderen. „Vielleicht ist das Kap des anderen die wichtigste Bedingung für eine Identität oder für eine Identifikation.“[12] Jede Kultur gewinnt ihre Identität nicht aus sich selbst heraus sondern dadurch, dass sie sich mit sich selbst differiert. Eine Identität differiert insofern mit sich selbst, als das sie sich in Differenz zu einer anderen Kultur setzt, d.h. von etwas anderem abgrenzt, das es selbst nicht ist. Dadurch aber holt die durch Differenzsetzung bestimmte Identität das Ausgeschlossene wiederum in die eigene Identität hinein, denn ohne das Ausgeschlossene wäre das Eingeschlossene nicht. Kommt dieser Gedanke über Identität durch Differenz zu Bewusstsein, eröffnen sich für alle Kulturen (überhaupt jeder Identifikation), vor allem aber für Europa eine völlig neue Perspektive. „Man soll oder muß zu Hütern einer bestimmten Vorstellung von Europa werden, einer Differenz Europas, doch eines Europas, das gerade darin besteht, daß es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und daß es sich beispielhaft auf jenes zubewegt, was nicht es selber ist, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps – vielleicht ist das andere des Kaps etwas ganz anderes, das Jenseits der modernen Tradition, eine andere Struktur des Randes, ein anderes Ufer.“[13] Europa kann mit diesem Bewusstsein zu einer Kultur werden, die nicht bloß in der Abgrenzung zu anderen Kulturen die eigene kulturelle Identität gewinnt, sondern das Ausgeschlossene bewusst in die eigene Identität immer wieder mit einholt, um Europa zu sein. „[D]ie Gegenwart dieses Europas ist die eines Europas ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen.“[14] Doch was bedeutet solch eine Identifikation im konkret politischen Verfahren und für die politische Institution? Handelt es sich dann um eine weiter entwickelte und neue Form von Demokratie? Kulturelle Identität wird bei Derrida als eine Reise, ein Prozess und eine Bewegung beschrieben[15], die das Aushalten von nicht festen Strukturen fordert. Die Identität Europas ist nicht festschreibbar, sondern sie ist eine Bewegung, die ausgehalten werden muss, die immer die Offenheit dafür beinhaltet, dass die Reise nie zu Ende geht, sondern dass immer das Unvorhergesehene und Unbekannte, das Außenstehende einen Schwerpunkt und Mittelpunkt bei der Identitätssuche bildet und dass auf Grund dessen, natürlich auch Unsicherheit auslöst.
Identität kann immer nur aus Abgrenzung zu einem Anderen und durch eine Abgrenzung zu sich selbst gewonnen werden. Nochmals das bereits oben zitierte: „Es ist einer Kultur eigen, dass sie nicht mit sich selbst identisch ist.“
2.3 Die Nicht-Kultur des Anderen
Was bedeutet es allerdings, wenn eine Kultur sich abgrenzt zu einer anderen? Heißt das nicht, dass mit der Abgrenzung die Nicht-Kulutur des Anderen behauptet wird? Die Frage nach der eigenen kulturellen Identität gerät hier in eine Problemsituation. Indem eine Kultur sich selbst als Identität behauptet und indem sie durch ihre identifikatorische Bestimmung eine Aussage darüber trifft, was 'Kultur' ist, was es heißt, Kultur zu besitzen, behauptet sie damit gleichzeitig, dass alle anderen Identitäten, von der sie sich sich selbst abgrenzt, eben Unkulturen bzw. Nicht-Kulturen sind. Um eine Kultur zu identifizieren, grenzt man all das aus, was nicht Kultur ist. Eine Kultur zu haben, bedeutet, dass man sich abhebt von anderen in dem Sinne, dass man selbst die einzige Kultur besitzt. Nimmt man diesen Gedanken für wahr, gerät eine politische Ordnung wie Europa in die Spannung einer ambivalenten Situation. Denn einerseits steht Europa für Pluralität von Kulturen, andererseits bedeutet dies gleichzeitig, Identitäten zusammenzuführen, die nach der beschriebenen differenzlogischen Identifikation sich von einander abgrenzen und jeweils für sich beanspruchen 'Kultur zu sein', während es alle anderen nicht sind. Die Auflösung dieser Situation bzw. die Entspannung dieser ambivalenten Spannungssituation kann hier mit Hilfe des Gedankens des 'Mit sich selbst Differierens' sein. Ist sich eine Kultur über die differenzlogsiche Identifikation bewusst und erkennt, dass das Abgrenzen zum Anderen erst die eigene Identität stiftet und damit das Andere, also die Nicht-Kultur, in die eigene Identität wesentlich gehört, also die Bewusstwerdung darüber, dass die eigene Kultur mit sich selbst differieren muss, um überhaupt erst Kultur sein zu können, dann wird die Pluralität von Kulturen, die sich in einer politischen Ordnung wie Europa vereinen, zur gewollten Notwendigkeit, damit die Identitäten überhaupt bestehen können. Pluralität von Kulturen und Abgrenzung der einen Identität zur anderen wird zur Notwendigkeit und wird zu einem Prozess, der gefordert werden muss. Kulturen existieren nebeneinander und sie hängen notwendig miteinander zusammen, denn Kulturen werden hervorgebracht und produziert in der Auseinandersetzung mit dem Anderen, in der Differenzsetzung mit dem Anderen, und damit sind alle Kulturen auf das Ausgeschlossene verwiesen und angewiesen. Und wer für sich das Zivilisatorische behauptet, trägt damit in sich automatisch auch das Primitive. Der Unterschied zwischen der Abgrenzung zum anderen, der ohnehin abläuft, und der Abgrenzung im Bewusstsein über den Prozess und der genannten Notwendigkeit und den Konsequenzen liegt darin, dass es sich in jenem Fall um eine Abgrenzungsbewegung handelt, die sich gegen den anderen richtet, und es in diesem Fall um eine Abgrenzungsbewegung geht, die füreinander einsteht, weil sie die Notwendigkeit des Anderen und die Primitivität des Eigenen erkennt. Dies löst freilich nicht die Spannungen, die kulturelle Identitäten miteinander haben und aufbauen, das bedeutet nicht, dass ohne Konfliktsituationen in den Interessen, Werten und Zielen nebeneinander gelebt werden kann, aber es bedeutet, dass der Umgang mit Interessenskonflikten ein anderer werden kann.
Man könnte eine weitere Sichtweise formulieren. Die Abgrenzung der eigenen Kultur zu einer anderen muss nicht automatisch die Behauptung der Nicht-Kultur der anderen mit sich bringen. Man könnte es so formulieren: Man selbst identifiziert sich als eine Kultur und wovon man sich differenzlogisch abgrenzt, ist eine andere Art von Kultur. Dies scheint mir zwar optimistisch und friedvoll gedacht, doch ist dies nicht denkbar, denn die Werte und Normen, die die eigene Identität stiften, sind andere, die von den anderen 'Kulturen' getragen und gelebt werden. Formuliert man für die eigene Identität gewisse Werte und Normen, geht die Kultur davon aus, dass diese richtig sind, so behauptet man indirekt bereits wiederum die Falschheit eines anderen Gedankengutes.
2.4 Zwischenfazit
Die Befragung der Frage nach Identität erhält somit eine erste Antwort: Nach Identität zu fragen, bedeutet ein In-Differenz-Setzen zu dem, das nicht in den Identitätsraum gehören soll. Wer nach Identität fragt und sie zu erschließen sucht, macht notwendigerweise eine Abgrenzungsbewegung. Doch gerade weil das Abzugrenzende notwendig ist, um die Frage nach Identität beantworten zu können, gehört das Ausgeschlossene in dieser Weise zur formulierten Identität. Was bedeutet es nach Identität zu fragen? Es bedeutet sich abzugrenzen und das Ausgeschlossene in der Identität mitzutragen als Notwendigkeit für die eigene Identitätsfindung. In dieser Weise ist die Identität bzw. Kultur nicht mit sich selbst identisch. Zudem wurde mit Derrida deutlich, dass die Behauptung einer Kultur 'Kultur-zu-sein' gleichzeitig auch aussagt, dass die anderen Kulturen, von denen man sich abgrenzt, 'Nicht-Kulturen' sind.
Im Folgenden möchte ich, wie angekündigt, den Mythos um den Raub der Europa durch Zeus untersuchen. Die bisherigen formulierten Gedanken von Derrida werden bei dieser Untersuchung weitergehend betrachtet werden. Ich werde den Text nach Identitäten befragen und es wird sich zeigen, dass hier ein anderer Umgang mit Differenz und Identität zu finden ist, der als Mythos für das politische Europa gelesen werden könnte.
3. Der Raub der Europa
Ein Grund die Erzählung von der Entführung der Europa als Textgrundlage zu wählen, um durch literaturwissenschaftliche Analyse Aussagen über die Identität des Kontinents Europa zu treffen, liegt offensichtlich im selben Namen, den der Kontinent bzw. das politische System und die phönizische Königstochter miteinander teilen. Doch eben dies soll aus zwei Gründen nicht das Motiv sein. Erstens scheint die Behauptung, dass es sich hier um einen Namensableitung handelt historisch schwer begründbar und bleibt reine Spekulation. Zweitens ist diese Behauptung überflüssig, denn zwischen beiden Referenten von 'Europa' gibt es zahlreiche Berührungspunkte, die Renger in ihrer Sammlung über literarische Rezeptionen des Mythos[16] im Vorwort artikuliert und die für sich sprechen: „Der Raub ist nur eine von vielen Episoden in einer >>Familiensaga<<, die mehrere Generationen umfaßt. Ihre einzelnen Episoden bilden eine große Erzählung, die, in Hinsicht auf die gegenwärtige Europapolitik, einer gewissen Aktualität nicht entbehrt. In ihr werden verschiedene Völker, die sich ums Mittelmeer gruppieren und […] miteinander vernetzt sind, als Einheit gesehen, wie wir sie heute – freilich unter veränderten ethnographischen und politischen Verhältnissen – mit dem Europagedanken anstreben.“[17] In diesem Berührungspunkt liegt ein Motiv, Ovids Mythos heranzuziehen. Zudem finden sich politische Entwicklungen des Altertums, die europäischen als auch die 'östliche Seite' betreffend, tradiert in den Reisegeschichten der Europafamilie. „Sie lassen erkennen: Mag auch die – heute politisch handlungsleitende – Europaidee von der Einheit einer Vielzahl souveräner Nationalstaaten im Altertum nicht existiert haben: Eines Europas im Sinne eines distinktiven Kulturraums war man sich bewußt.“[18] Schlussendlich handelt es sich bei den zahlreichen Geschichten um Europa um eine Familiengeschichte, die „einen Raum beschreibt, in dem sich Reisende zwischen den Polen Orient und Okzident, Norden und Süden hin- und herbewegen und auf mannigfache Weise äußere und innere Grenzen ziehen, überschreiten und verlagern.“[19] Die entführte Europa steht also im Kontext einer großen Erzählung, in der politische Konflikte literarisch verarbeitet wurden, welche sowohl den Kontinent Europa als auch den Orient betreffen.
[...]
[1] 41. Ordentlicher Kongress der Europa-Union Deutschland: http://www.europa-union.de/fileadmin/files_eud/PDF-Dateien_EUD/CHARTA_DER_EUROP_ISCHEN_IDENTIT_T.pdf; zuletzt aufgerufen: 2.11.2016, 10 Uhr.
[2] Ebd.
[3] Herfried Münkler: Geschichtsmythen und Nationenbildung, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39792/geschichtsmythen?p=all; zuletzt aufgerufen am: 3.11.2016; 15:04 Uhr.
[4] Sylke Nissen: Europäische Identität und die Zukunft Europas, http://www.bpb.de/apuz/28109/europaeische-identitaet-und-die-zukunft-europas?p=all, zuletzt aufgerufen am: 4.11.2016; 9:34 Uhr.
[5] Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: De Gruyter 1967.
[6] Arnim Regenbogen(Hg.) u.a.: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg: Felix Meiner Verlag 2013, S. 523.
[7] Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, S. 9.
[8] Jacques Derrida: Das andere Kap, S. 11f.
[9] Ebd., S. 9-80.
[10] Ebd., S. 15.
[11] Jacques Derrida: Das andere Kap, S. 12.
[12] Ebd., S. 16.
[13] Ebd., S. 25f.
[14] Ebd., S. 26.
[15] Jacques Derrida: Das andere Kap, S. 25ff.
[16] Vgl. Almut-Barbara Renger[Hg.]: Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller, Leipzig: Reclam 2003, S. 12ff.
[17] Ebd., S. 14.
[18] Ebd., S. 15.
[19] Ebd.