Brasilien als das Land der Zukunft. Ein Beispiel für ein geopolitisch ambitioniertes Streben nach regionaler Hegemonie?
Zusammenfassung
Die Arbeit befasst sich im Hauptteil mit drei Aspekten. Zuerst soll der Begriff der Hegemonialmacht definiert und mit eindeutigen Indikatoren genauer bestimmt werden. Anschließend werden verschiedene Typen von Hegemonialmächten und Weltordnungsmodellen vorgestellt. Zum Abschluss des politiktheoretischen Teils werden drei Großtheorien der internationalen Beziehungen - der (Neo-)Realismus, der Liberalismus und der Konstruktivismus - samt ihrer Erklärungsvariablen abgehandelt, anhand derer das politische Handeln Brasiliens auf regionaler und globaler Ebene jeweils zum Ende der darauffolgenden Teilkapitel erklärt werden soll. Um die Arbeit nicht zu umfangreich werden zu lassen und eine zielgerichtete, politikwissenschaftliche Analyse zu erreichen, werden neben diesen drei keine anderen politischen Theorien als Erklärungsansätze verwendet.
Der praktische Teil zur Beantwortung der Ausgangsfrage der Arbeit ist in drei Bereiche untergliedert. Zunächst wird das politische Gewicht Brasiliens auf regionaler und globaler Ebene untersucht, wobei ein besonderes Augenmerk auf das Engagement Brasiliens in internationalen Organisationen gelegt wird. Zweitens soll die wirtschaftliche Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs analysiert werden, wofür unterschiedliche innen- und außenwirtschaftliche Faktoren berücksichtigt werden. Die militärische Komponente, d.h. sowohl die derzeitige Stärke Brasiliens in diesem Bereich als auch Pläne zum Ausbau seiner Streitkräfte und insbesondere seiner Flotte bildet den dritten zu untersuchenden Teilbereich. In einem Gesamtfazit soll dann anhand der genannten Indikatoren zusammenfassend erörtert werden, inwieweit Brasilien mittlerweile eine Regionalmacht mit geopolitisch ambitionierten Bestrebungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär ist.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Gegenstand und Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit
2. Hegemonialmacht, Weltordnung und Theorien der Internationalen Beziehungen
2.1 Definition des Hegemonialmachtbegriffs und Indikatoren einer Hegemonialmacht
2.2 Typen von Weltordnung und Hegemonialmächten
2.3 Drei Großtheorien der Internationalen Beziehungen und ihre Erklärungsvariablen
3. Brasilien - der Riese Südamerikas und seine globale Rolle
3.1 Die politische Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs
3.1.1 Regionales Engagement
3.1.2 Globales Engagement
3.2 Die wirtschaftliche Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs
3.3 Die militärische Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs .
4. Fazit
5. Literaturverzeichnis
6. Internetquellen
1. Einleitung
1.1 Gegenstand und Fragestellung
„Zum ersten Mal begann ich die unfassbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit (...) einem unermesslichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist. (...) Ich wusste, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt getan.“'
So schildert Stefan Zweig in seinem Buch „Brasilien - Ein Land der Zukunft“ seine Eindrücke auf seiner ersten Reise durch das Land im Jahre 1936. Heute, nicht einmal 80 Jahre später ist Brasilien tatsächlich die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt[1] [2]. Und der fünftgrößte Flächenstaat der Erde[3] schickt sich an, mit hohen Wachstumsraten sein ökonomisches und politisches Gewicht weiter zu steigern. Dabei kann sich Brasilien auf mehrere positive Basisfaktoren stützen. Es ist mittlerweile eine stabile Demokratie, verfügt über eine solide Marktwirtschaft mit einer aktiven Staatspolitik und sieht sich keinerlei militärischen Bedrohung aus dem Ausland gegenüber. Zudem verfügt Brasilien über einen enormen
Ressourcenreichtum sowie riesige landwirtschaftliche Flächen und stieg in den letzten Jahren auch zum Modellland auf, was die Bekämpfung von sozialer Ungleichheit anbelangt[4].
Mit seinen 8,5 Millionen Quadratkilometern ist Brasilien der fünftgrößte Staat der Erde und nimmt 47% der Gesamtfläche Südamerikas ein[5] (siehe auch Abb.1). Bei der Bevölkerungszahl steht Brasilien mit Schätzungen zwischen 194 Millionen[6] und 201 Millionen[7] Menschen auf Platz sechs weltweit und stellt mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung Südamerikas. Wirtschaftlich nimmt Brasilien heute mit einem Bruttoinlandsprodukt von geschätzt 2,3 Billionen US- Dollar im weltweiten Vergleich Rang sieben ein[8].
In dieser Arbeit soll nun der Frage nachgegangen werden, inwieweit sich Brasiliens enorme Größe und seine wirtschaftliche Kraft mittlerweile auf seine politische Machtstellung in der Region sowie weltweit auswirken. Hierfür sollen verschiedene Indikatoren untersucht werden, um festzustellen, ob und inwiefern Brasilien eine Position als regionale Hegemonialmacht innehat bzw. einen globalen Machtstatus[9] anstrebt.
1.2 Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit befasst sich im Hauptteil mit drei Aspekten. Zuerst soll der Begriff der Hegemonialmacht definiert und mit eindeutigen Indikatoren genauer bestimmt werden (2.1). Anschließend werden verschiedene Typen von Hegemonialmächten und Weltordnungsmodellen vorgestellt (2.2). Zum Abschluss des politiktheoretischen Teils werden drei Großtheorien der Internationalen Beziehungen - der (Neo-)Realismus, der Liberalismus und der Konstruktivismus - samt ihrer Erklärungsvariablen abgehandelt, anhand derer das politische Handeln Brasiliens auf regionaler und globaler Ebene jeweils zum Ende der darauffolgenden Teilkapitel erklärt werden soll (2.3). Um die Arbeit nicht zu umfangreich werden zu lassen und eine zielgerichtete, politikwissenschaftliche Analyse zu erreichen, werden neben diesen drei keine anderen politischen Theorien als Erklärungsansätze verwendet.
Der praktische Teil zur Beantwortung der Ausgangsfrage der Arbeit ist in drei Bereiche untergliedert. Zunächst wird das politische Gewicht Brasiliens auf regionaler und globaler Ebene untersucht, wobei ein besonderes Augenmerk auf das Engagement Brasiliens in internationalen Organisationen gelegt wird (3.1). Zweitens soll die wirtschaftliche Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs analysiert werden, wofür unterschiedliche innen- und außenwirtschaftliche Faktoren berücksichtigt werden (3.2). Die militärische Komponente, d.h. sowohl die derzeitige Stärke Brasiliens in diesem Bereich als auch Pläne zum Ausbau seiner Streitkräfte und insbesondere seiner Flotte bildet den dritten zu untersuchenden Teilbereich (3.3).
In einem Gesamtfazit soll dann anhand der in 2.1 genannten Indikatoren zusammenfassend erörtert werden, inwieweit Brasilien mittlerweile eine Regionalmacht mit geopolitisch ambitionierten Bestrebungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär ist (4.).
2. Hegemonialmacht, Weltordnung und Theorien der Internationalen Beziehungen
2.1 Definition des Hegemonialmachtbegriffs und Indikatoren einer Hegemonialmacht
Bevor die Frage erörtert wird, ob Brasilien mittlerweile eine regionale Hegemonialmacht mit geopolitischem Anspruch ist, soll zunächst geklärt werden, worum es sich bei dem Begriff der Hegemonialmacht handelt und welche Kriterien im Allgemeinen eine Hegemonialmacht ausmachen.
Dem politikwissenschaftlichen Konzept von einer Anarchie zwischen den Staaten, die sich in Unruhen und Kriegen zwischen ebendiesen übersetzt, steht das sogenannte hegemonietheoretische Paradigma gegenüber[10]. Dieses besagt, dass durch eine Abfolge sich verändernder Hegemonialmächte eine gewisse Grundordnung in den Einflusssphären dieser Mächte hergestellt wird, was sich bis zur Errichtung einer neuen Weltordnung erstrecken kann[11]. Eine Hegemonie (griechisches Wort für „Führung“) liegt vor, wenn ein bestimmter Staat gegenüber einem Staat oder mehreren anderen Staaten in militärischer, wirtschaftlicher, kultureller Hinsicht oder in anderen Bereichen vorherrschend ist[12]. Oft akzeptieren die dominierten Staaten die Hegemonialmacht und bekämpfen ihre Stellung nicht gewaltsam. Als Grund dafür könnte man aufführen, dass die Hegemonialmacht in ihrem Einflussgebiet sowohl Sicherheit in Form von Frieden, als auch Stabilität, die ein freies Wirtschaften ermöglicht garantiert[13].
Zwei Grundbedingungen müssen für das Entstehen einer hegemonialen Ordnung erfüllt sein: ein Staat muss erstens über die notwendigen Ressourcen verfügen, um Macht ausüben zu können und zweitens auch den Willen zur Hegemonie haben[14]. Der Wille eines Staates, eine Führungsposition innerhalb eines bestimmten Gebiets zu übernehmen hängt dabei immer auch vom Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen dieser Vormachtstellung für den Hegemonialstaat ab[15].
Es gibt zahlreiche und teils sehr unterschiedliche Indikatoren, anhand derer die Bedeutung einer Hegemonialmacht bestimmt wird. Vor allem militärisches Gewicht, wirtschaftliche Stärke und der Anteil am Welthandel sind hierbei von Bedeutung, aber auch zum Beispiel der kulturelle Einfluss[16]. Andere Beobachter nennen das Potential an physischen und administrativen Ressourcen, den Umfang an Führungsaktivität, die Akzeptanz bzw. die Vorbildfunktion in einer bestimmten Region sowie den Einfluss auf die Ergebnisse der internationalen Politik als Maßstab für die Bedeutung eines Staates mit Hegemonialanspruch[17]. Von sehr großer Bedeutung ist zudem die Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft, auf technologischer und institutioneller Ebene[18]. Entscheidend ist dabei allerdings weniger die absolute Quantität dieser Indikatoren, sondern vielmehr das relative Aufkommen verglichen mit eventuellen Mitbewerbern[19].
Beobachten lässt sich zudem, dass jede Hegemonialmacht einen Zyklus mit fünf Phasen durchlebt: Anlauf, Aufstieg, Reife, Niedergang und Auslauf[20]. Ging man früher davon aus, dass jede dieser Phasen ca. 100 Jahre dauert, ist heute eher die Meinung verbreitet, dass sich deren Dauer im Zuge der technologischen Modernisierung und der Beschleunigung von Innovationen aller Art mittlerweile deutlich verkürzt hat[21]. Das Ende einer Hegemonialmacht wird dadurch besiegelt, dass sie einen hegemonialen Ausscheidungskampf gegen einen aufsteigenden Konkurrenten verliert, der seinerseits anstrebt, die aktuelle Weltordnung, auch mit militärischen Mitteln, zu seinen Gunsten zu verändern[22]. In diesem Fall spricht man auch von umstrittener Hegemonie, hegemonialer Rivalität oder Konkurrenz23. Bisher konnte empirisch nicht nachgewiesen werden, dass die Herrschaft eines Hegemons mit einer Zeit des Friedens einhergeht24. Es scheint gar so, als ob Hegemonie, und daraus resultierende Hegemonialkonflikte wegen ihrer impliziten Zwanghaftigkeit ein starkes Gewaltpotential mit sich bringen25.
2.2 Typen von Weltordnung und Hegemonialmächten
Der Begriff Weltordnung ist als Ordnung zu verstehen, die das Zusammenspiel verschiedener Akteure auf unterschiedlichen Ebenen durch völkerrechtlich bindende Verträge sowie durch globale Institutionen, etwa die UNO, regelt. Dabei ist Weltordnung nicht nur als eine Ordnung der Staatenwelt zu verstehen, sondern auch als eine Ordnung der Wirtschaftswelt und der weltweiten Zivilgesellschaft. Mit einer Weltordnung ergeben sich auch stets Werte, Regeln und Verhaltensmuster für alle an dieser Weltordnung beteiligten Akteure26. Wenn man die Welt als wissenschaftliche Analyseeinheit betrachtet, so unterscheidet man in der politischen Theorie vier Arten von Weltordnung. Zwei davon sind lediglich als theoretische Modelle zu betrachten, die in der Geschichte der Geopolitik nie Realität waren27: die Anarchie (alle Akteure sind auf einem vergleichbaren Machtniveau keinerlei oder nur sehr geringen Regeln unterworfen) und der Weltstaat (alle Akteure organisieren im allseitigen Einvernehmen die Weltpolitik)28. Das dritte Modell ist die Multipolarität, das besagt, dass mehrere Akteure der Weltpolitik ähnlich mächtig sind, andere dagegen sind deutlich weniger mächtig29. Viertens und für diese Arbeit das bedeutendste Weltordnungsmodell ist die Hegemonie. Danach hat, wie oben schon weiter ausgeführt, ein Akteur die Vorherrschaft oder Führung über alle anderen inne, wobei Abstufungen möglich sind30.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es lassen sich in Bezug auf den Begriff der hegemonialen Ordnung vier Eigenschaften unterteilen, um verschiedene Arten von Hegemonialmächten zu unterscheiden. Erstens kann man den Blick auf die beteiligten Akteure (in erster Linie Staaten) richten, um festzustellen, ob eine hegemoniale Ordnung, eine Vorherrschaft (also eine erzwungene Unterordnung der anderen Beteiligten unter die Macht des Hegemons) oder eine Führung (Unterordnung auf freiwilliger Basis) ist[23]. Zweitens kann man das Gebiet, auf das sich eine hegemoniale Ordnung erstreckt heranziehen. Dies kann die ganze Welt umfassen (Globalhegemonie), sich aber auch lediglich auf Großregionen (Regionalhegemonie) beziehen[24]. Drittens kann sich eine Hegemonie auf bestimmte Dimensionen beschränken bzw. ausweiten. Politische, militärische, kulturelle und wissenschaftliche Dimensionen werden hierbei unterschieden[25]. Viertens sollte man das Ausmaß einer hegemonialen Ordnung beachten. Hierbei gibt es die zwei Typen der absoluten Hegemonie (eine Supermacht hat die totale Dominanz inne) und der relativen Hegemonie (ein Staat verfügt lediglich über einen gewissen Vorsprung im Vergleich zu einer bestimmten Gruppe von Staaten). Das Ausmaß bezieht sich allerdings auch darauf, ob es nur eine Hegemonialmacht gibt („eindimensionale Hegemonie“) oder mehrere Staaten um die Führung in einer bestimmten Region streiten („multidimensionale Hegemonie“)[26]. Eine hegemoniale Ordnung kann darüber hinaus darin unterschieden werden, ob der Hegemon eine herausgehobene Machtposition bewusst anstrebt (Gestaltung von Ordnung) oder ob diese einfach Ausdruck der vorherrschenden Ordnung ist[27].
2.3 DreiGroßtheorien der Internationalen Beziehungen und ihre Erklärungsvariablen
Um den außenpolitischen Anspruch Brasiliens politikwissenschaftlich zu erklären, werden in dieser Arbeit drei Großtheorien[28] der Internationalen Beziehungen herangezogen, deren Erklärungsvariablen das Handeln Brasiliens auf regionaler und globaler Ebene erläutern sollen. Diese drei Großtheorien sind der (Neo-)Realismus, der Liberalismus und der Konstruktivismus.
Das wesentliche Merkmal des Realismus ist „Macht“, d.h. in den internationalen Beziehungen streben die Akteure in erster Linie den Ausbau ihrer Macht an[29]. Der Grund für das Streben nach Macht in den internationalen Beziehungen sieht der klassische oder anthropologische Realismus in der menschlichen Natur, der ein Machttrieb immanent ist, d.h. der Wille über andere zu herrschen[30]. Der Neorealismus sieht den Machtrieb nicht in der Natur des Menschen begründet, sondern in der sozialen Konstellation des internationalen Systems, die der Realismus mangels über allem stehender Ordnungsmacht als Anarchie bezeichnet. In dieser Struktur sind die Staaten quasi gezwungen, sich selbst um ihre Sicherheit zu kümmern. Eine Garantie für Sicherheit ist jedoch nur durch den Erwerb von Machtmitteln zu erreichen. Allen Staaten ist damit gemein, ihr Überleben in der Anarchie zu sichern. Dies prägt und stabilisiert gleichzeitig die internationalen Beziehungen. Staaten unterscheiden sich vor allem durch ihre jeweiligen Machtpotentiale[31]. Die Innenpolitik ist für den Realismus irrelevant[32]. Die Außenpolitik erfolgt nach dieser Theorie einzig auf Grundlage der Machtstrukturen in den internationalen Beziehungen[33].
Der Liberalismus verlagert im Gegensatz dazu den Schwerpunkt weg von der Staatenwelt und ihrer Machtstruktur hin zu den Präferenzbildungsprozessen einzelner Interessengruppen innerhalb eines Staates. Außenpolitisches Handeln gründet sich demnach auf gesellschaftliche Gegebenheiten eines Staates. Da diese jedoch heterogen sind, kann ein Staat keine einheitlichen Ziele und Interessen verfolgen. Vielmehr konkurrieren die unterschiedlichen Interessengruppen eines Staates um die Richtung von außenpolitischem Handeln. Zwischenstaatliche Konflikte entstehen demnach nicht wegen der internationalen Machstruktur, sondern wegen unterschiedlicher gesellschaftlicher Präferenzen innerhalb der Staaten[34]. Ähnlich wie im (Neo-)Realismus sind Staaten in erster Linie darauf bedacht, rational ihren Nutzen zu maximieren. Dies allerdings nicht mit dem Ziel, politische Macht auszubauen, sondern, um wirtschaftliche Stärke zu erreichen. Materielle Gründe sind also nach diesem Ansatz die Antriebsfeder der Außenpolitik[35].
Der Konstruktivismus bezieht in seine Theorie die Wechselseitigkeit zwischen kollektivem sozialen Handeln und sozialen Strukturen ein. Die Realität, z.B. die Anarchie im internationalen System ist demnach vor allem vom Menschen selber gemacht und wird durch Interaktion und Kommunikation verstärkt und reproduziert, kann aber durchaus vom Menschen selbst wieder verändert werden. Zudem spielen im Konstruktivismus Ideen eine viel wichtigere Rolle, als in den „rationalistischen“ Großtheorien Realismus und Liberalismus. So sind es nach dieser Theorie Ideen, die neben Interessen das politische Handeln des Staats steuern. Was das Interesse und die Identität eines Staates ist, ist untrennbar verbunden mit einer gemeinsamen Idee von Staatenbeziehungen. Drittens sieht der Konstruktivismus kulturelle Faktoren, vor allem Normen, als bedeutend für das politische Handeln an. Interessen und Strukturen sind also nicht allgemein und ewig gültig, sondern können sich in einem sich verändernden Umfeld wandeln oder relativiert werden. Demnach werden auch nationale Interessen sozial konstruiert und wieder verändert. Ein Beispiel ist der Ost-West- Gegensatz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, wo es erst nach Jahrzehnten zu einer Annäherung kam[36]. Für den Konstruktivismus ist also außenpolitisches Handeln nicht immer geprägt durch rationale Nutzenmaximierung auf wirtschaftlicher oder politischer Ebene. Über lange Zeit gewachsene Normen einer Gesellschaft entscheiden dagegen maßgeblich über die Ausgestaltung der Außenpolitik[37].
3. Brasilien - der Riese Südamerikas und seine globale Rolle
3.1 Die politische Dimension des brasilianischen Hegemonialanspruchs
3.1.1 Regionales Engagement
Jahrzehntelang bis zum Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er Jahre zeichnete sich die Außenpolitik Brasiliens in der Region durch Passivität und Selbstisolation aus[38]. Im Bewusstsein seiner eigenen Größe und seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit strebt Brasilien aber seit der Festigung der Demokratie unter Präsident Cardoso (1995-2002), spätestens aber seit der Amtszeit Lulas (20032010) nach regionaler Führung. Dieser Anspruch ergibt sich schon alleine durch seine geographische Größe und die Zahl seiner Einwohner[39]. Gestärkt wurde dieser Ehrgeiz noch durch den jahrzehntelangen Niedergang Argentiniens, das als zweitgrößtes Land in Südamerika auf regionaler Ebene kein ernsthafter Konkurrent mehr für Brasilien ist[40]. Zum anderen wurden in Südamerika in den letzten Jahren eine Vielzahl an Initiativen zur regionalen Integration und Kooperation angestoßen, zu Lasten der Bindung an die USA, die zuvor traditionell der Fixpunkt brasilianischer Außenpolitik gewesen waren[41].
Zentrales Projekt ist dabei die 1991 gegründete Wirtschaftsgemeinschaft MERCOSUR[42], da sie für Brasilien als ein gutes Instrument zur Verstärkung der Süd-Süd-Kooperation und als Abgrenzung zu einer von den USA beherrschten gesamtamerikanischen Freihandelszone dient.
[...]
[1] Zweig (1941): 9.
[2] https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/br.html (letzter Zugriff am 19.01.2014).
[3] Ebd. (letzter Zugriff am 19.01.2014).
[4] Stöllger (2013): 21f.
[5] http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01- Nodes Uebersichtsseiten/Brasilien node.html (letzter Zugriff am 20.01.2014).
[6] Ebd. (letzter Zugriff am 20.01.2014).
[7] https://www.cia.aov/library/publications/the-world-factbook/geos/br.html (letzter Zugriff am 20.01.2014).
[8] https://www.cia.gov/library/publications/the-world- factbook/rankorder/2001rank.html?countryname=Brazil&countrycode=br®ionCode=soa&ran k=8#br (letzter Zugriff am 20.01.2014).
[9] Auf diverse Machtbegriffe wird im Laufe dieser Arbeit in Punkt 2 eingegangen.
[10] Vgl. Menzel 2004: 12.
[11] Vgl. Ebd.: 12
[12] Vgl. Klein / Schubert 2011.
[13] Vgl. Menzel 2004: 13.
[14] Vgl. Ebd.: 13
[15] Vgl. Menzel 2004: 13.
[16] Vgl. ebd.: 14.
[17] Vgl. Schirm 2005: 32 f.
[18] Vgl. Menzel 2004: 17.
[19] Vgl. ebd.: 14.
[20] Vgl. ebd.: 15f.
[21] Vgl. ebd.: 18.
[22] Vgl. ebd.: 20.
[23] Vgl. Exenberger 2004: 3.
[24] Vgl. ebd.: 3.
[25] Vgl. ebd.: 3.
[26] Vgl. ebd.: 3.
[27] Vgl. ebd.: 3.
[28] Hierbei wird dem Modell des Politikwissenschaftlers und Südamerikaexperten Stefan Schirm gefolgt, der in seinem Essay „Führungsindikatoren und Erklärungsvariablen für die neue internationale Rolle Brasiliens“ (Vgl. Schirm 2005) den (Neo-)Realismus, den Liberalismus und den Konstruktivismus als Erklärungstheorien für die brasilianische Außenpolitik verwendet.
[29] Vgl. Krell 2010: 6.
[30] Vgl. ebd.: 7.
[31] Vgl. ebd.: 7.
[32] Vgl. Schirm 2005: 33.
[33] Vgl. ebd.: 33.
[34] Vgl. Krell 2010: 10 ff.
[35] Vgl. Schirm 2005: 33.
[36] Vgl. Krell 2010: 36 ff.
[37] Vgl. Schirm 2005: 33.
[38] Vgl. Lohbauer 2002: 148ff.
[39] Vgl. Gratius 2004: 6.
[40] Vgl. Zilla 2011: 7.
[41] Vgl. Gratius 2004: 8.
[42] Abkürzung des Mercado Común del Cono Sur (in Brasilien portugiesisch Mercado Comum do Sul genannt, in dieser Arbeit soll jedoch die in Deutschland weitestgehende spanische Bezeichnung MERCOSUR verwendet werden), zu Deutsch etwa Gemeinsamer Markt im südlichen Lateinamerika. Es handelt sich um eine regionale Wirtschaftsgemeinschaft in Lateinamerika, die 1991 gegründet wurde. Gründungsmitglieder waren Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay; Venezuela trat 2006 bei. Assoziierte Mitglieder sind Chile, Bolivien, Peru, Kolumbien und Ecuador. Die zentralen Anliegen der Gemeinschaft sind stufenweiser Abbau von Zöllen und Handelshemmnissen, Handelsliberalisierung mit Drittstaaten sowie die Schaffung eines gemeinsamen Außenzollsystems und Koordinierung der Wirtschaftspolitik (vgl. Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag (2013), Mannheim)