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Die Relevanz des Theoriekonzeptes der Lebensweltorientierung für die heutige Soziale Arbeit im Praxisfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe

©2014 Hausarbeit 22 Seiten

Zusammenfassung

Es ist das Ziel dieser Arbeit, auf der Basis der theoretischen Grundlegung der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Thiersch eine Verknüpfung mit dem Praxisfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe vorzunehmen. Es soll auf dem Hintergrund der besonderen Herausforderungen in diesem Praxisfeld die Bedeutung des Theoriekonzeptes konkretisiert und für die sozialpädagogische Praxis in der Sozialpädagogischen Familienhilfe herausgestellt werden. Dabei werden die für die Praxis der Sozialpädagogischen Familienhilfe relevanten Prinzipien der Alltagsorientierung, Partizipation und Selbsthilfeorientierung, sowie der Vernetzung und Ganzheitlichkeit exemplarisch dargestellt. Zudem wird das spannungsreiche Verhältnis von Kontrolle und Hilfe auf dem Hintergrund einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit behandelt.

Es werden daher zunächst allgemeine theoretische Grundlagen des Theoriekonzeptes der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Thiersch in ihren historischen und theoretischen Bezügen sowie im Kontext aktueller gesellschaftlicher Veränderungen dargestellt. Im Folgenden wird sich auf die besonderen Aufgaben und Herausforderungen der AdressatInnen der Sozialpädagogischen Familienhilfe bezogen, sowie dem Auftrag und den Aufgaben Sozialer Arbeit in diesem speziellen Praxisfeld. Daraufhin wird der Lebensweltorientierte Ansatz für die Soziale Arbeit durch die Anwendung auf das Praxisfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe konkretisiert. Dabei werden die Möglichkeiten des Ansatz für eine zeitgemäße Soziale Arbeit in diesem komplexen und herausfordernden Praxisfeld herausgearbeitet. Den Abschluss bildet eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Umsetzung einer fachlichen und professionellen Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit in der heutigen Sozialpädagogischen Familienhilfe.

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Inhaltsverzeichnis


Inhaltsverzeichnis
Einleitung...
1
1. Das Theoriekonzept der Lebensweltorierten Sozialen Arbeit nach
Thiersch...
..
2
1.1 Die Theorie der Lebensweltorientierung... 2
1.2 Gegenstand und Funktion einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im
Kontext gesellschaftlicher Veränderungen...3
1.3 Entwicklung des Theoriekonzeptes der Lebensweltorientierung unter dem
Aspekt historischer und theoretischer Bezüge...5
2. Soziale Arbeit mit Familien im Praxisfeld der Sozialpädagogischen
Familienhilfe...
.
7
2.1 Soziale Arbeit mit Familien im Kontext gesellschaftlicher
Veränderungen...7
2.2 Bewältigungsaufgaben und soziale Risiken von AdressatInnen der
Sozialpädagogischen Familienhilfe...
.
8
2.3 Auftrag und Aufgaben der Sozialpädagogischen Familienhilfe...
.
9
3. Die Bedeutung einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für das
heutige Praxisfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe...
.
10
3.1 Handlungsmaxime einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit für das
Praxisfeld der Sozialpädagogischen Familienhilfe...
.
10
3.1.1 Alltagsnähe und Lebensweltorientierung als Bezugspunkt des
professionellen Handelns... 10
3.1.2 Vernetzung, Kooperation und Ganzheitlichkeit... 12
3.1.3 Kontrolle und Hilfe im Kontext der Lebensweltorientierung...13
3.1.4 Partizipation und Selbsthilfeorientierung... 14
3.2 Kritische Bilanz... 15
Schluss... 16
Literaturverzeichnis... 18

1
Einleitung
Die Aufgaben, Funktionen und Formen von Familien haben sich in den letzten Jahrzehnten
gravierend verändert. Lebenswelten von Familien sind in unserer heutigen Gesellschaft geprägt
von Entwicklungen der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse.
Traditionelle Formen von Familien sind brüchig geworden und damit hat auch die Familie als
soziales Netz an Stabilität eingebüßt. Mit den Entwicklungen der heutigen modernen
Gesellschaft verbinden sich neue Möglichkeiten aber auch neue Risiken für Familien. So fühlen
sich viele Familien angesichts der Offenheit und Komplexität, die sich mit den
Gestaltungsaufgaben des Familienlebens verbindet, überfordert und verunsichert.
Mit der Gründung einer Familie verbindet sich in unserer heutigen Gesellschaft zudem das
Risiko der Armut (vgl. Wolf: 2012, S. 99). Armut ist dabei auch durch mangelnde Möglichkeiten
der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bestimmt (vgl. Thiersch: 2012, S. 22). Im
Zusammenhang mit sozioökonomischen Prozessen wird die Kluft zwischen Arm und Reich
immer größer. Die Folgen sozialer Ungleichheit betreffen Kinder und ihre Familien in
erheblichem Maße. So heißt es im aktuellen Kinder- und Jugendbericht: ,,Zahlreiche Studien und
Erhebungen haben wiederholt gezeigt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Kinder und
Jugendlichen zeitweilig oder dauerhaft in der Gefahr steht, von der sozialen Teilhabe und der
Perspektive eines durchschnittlichen Lebensentwurfs abgehängt zu werden" (BMJFFG: 2013, S.
53). Als Folge der veränderten Lebenslagen und Bedingungen von Familien lässt sich eine
deutliche Ausweitung und Zunahme beratender und sozialpädagogischer Hilfen und Leistungen,
im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, verzeichnen (vgl. Rauschenbach: 2013, S. 4-6). Im
Hinblick auf diese Entwicklungen wächst auch die Verantwortung für die Soziale Arbeit, die sich
auf diese Veränderungen einstellen und Theorien und Konzepte bereitstellen muss, die den
immer komplexer werdenden Lebenswirklichkeiten, ihrer AdressatInnen in prekären
Lebenslagen, gerecht werden muss.
Dem Theoriekonzept der Lebensweltorientierung, dass sich im Kontext einer zunehmenden
politischen und fachlichen Orientierung an der Lebenswelt der AdressatInnen Sozialer Arbeit
durchsetzte, kommt bei der Entstehung erzieherischer Hilfen, wie der SPFH, eine besondere
Rolle zu. Sie ist im Zusammenhang mit den Entwicklungen gesellschaftlicher
Modernisierungsprozesse entstanden. Die Maxime einer Lebensweltorientierung nach Thiersch,
wie zum Beispiel das Prinzip Prävention, der Sozialraumorientierung oder der Partizipation sind
im Achten Sozialgesetzbuch festgelegt und mittlerweile fester Bestandteil der Hilfen im Rahmen
der SPFH (vgl. Nielsen: 2004, S. 161). Hans Thiersch hat sich in seiner Theorie der
Lebensweltorientierung mit dem Wandel der Gesellschaft und den damit verbundenen
veränderten Aufgaben und Herausforderungen für die Soziale Arbeit beschäftigt. ,,Theorie der
Sozialen Arbeit beschäftigt sich mit der Frage nach der Bestimmung der AdressatInnen als
Frage nach sozialen Problemen, nach Lebenslagen und Lebensweisen, nach Bestimmungen
von Norm und Abweichung, nach der Definition von Notlagen und Hilfsbedürftigkeit im
gesellschaftlichen Kontext" (Füssenhäuser/ Thiersch: 2005, S. 1883).

2
Es ist das Ziel dieser Arbeit auf der Basis der theoretischen Grundlegung der
Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Thiersch, eine Verknüpfung mit dem Praxisfeld der
SPFH vorzunehmen. Es soll auf dem Hintergrund der besonderen Herausforderungen in diesem
Praxisfeld, die Bedeutung des Theoriekonzeptes konkretisiert und für die sozialpädagogische
Praxis in der SPFH herausgestellt werden. Dabei werden die für die Praxis der SPFH relevanten
Prinzipien der Alltagsorientierung, Partizipation und Selbsthilfeorientierung, sowie der
Vernetzung und Ganzheitlichkeit exemplarisch dargestellt. Zudem wird das spannungsreiche
Verhältnis von Kontrolle und Hilfe, auf dem Hintergrund einer Lebensweltorientierten Sozialen
Arbeit, behandelt. Die weiteren Prinzipien einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach
Thiersch, wie Prävention, Integration und Dezentralisierung/ Regionalisierung sind ebenfalls
bedeutsam für das Praxisfeld der SPFH. Sie werden aber aufgrund des begrenzten Rahmens
dieser Arbeit nicht vertieft ausgeführt.
Im ersten Kapitel werden zunächst allgemeine theoretische Grundlagen des Theoriekonzeptes
der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Thiersch, in ihren historischen und
theoretischen Bezügen, sowie im Kontext aktueller gesellschaftlicher Veränderungen dargestellt.
Das zweite Kapitel bezieht sich auf die besonderen Aufgaben und Herausforderungen der
AdressatInnen der SPFH, sowie dem Auftrag und den Aufgaben Sozialer Arbeit in diesem
speziellen Praxisfeld. Im dritten Kapitel wird der Lebensweltorientierte Ansatz für die Soziale
Arbeit, durch die Anwendung auf das Praxisfeld der SPFH konkretisiert. Dabei werden die
Möglichkeiten des Ansatz für eine zeitgemäße Soziale Arbeit in diesem komplexen und
herausfordernden Praxisfeld herausgearbeitet. Den Abschluss des letzten Teils bildet eine
kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Umsetzung einer fachlichen und
professionellen Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit in der heutigen SPFH.
1. Das Theoriekonzept der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit nach Thiersch
1.1 Die Theorie der Lebensweltorientierung
,,Lebensweltorientierung bezeichnet sowohl ein Rahmenkonzept sozialpädagogischer
Theorieentwicklung als auch eine grundlegende Orientierung sozialpädagogischer Praxis, die
sich in sozialpolitischen und rechtlichen Rahmenbedingungen [...], in institutionellen
Programmen und Modellentwicklungen [...] sowie in Konzepten sozialpädagogischen Handelns
konkretisieren" (Grunwald/ Thiersch: 2005, S. 1136).
Mit seiner Theorie einer alltags- und lebensweltorientierten Sozialpädagogik hat Thiersch in der
Sozialen Arbeit einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Eine Theorie der Sozialen Arbeit muss
nach Thiersch neben einem politischen und gesellschaftlichen Auftrag zudem einen Beitrag zu
einem gelingenderen Alltag der Menschen leisten (vgl. Schilling: 2012, S. 162-168). Thiersch
weist darauf hin, das seine Theorie der Lebensweltorientierung für die Jugendhilfe nur ein
Aspekt einer Theoriebildung in der Sozialen Arbeit darstellt (vgl. Thiersch: 2012, S. 24).

3
Die Theorie einer Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit unterscheidet zwischen verschiedenen
Zugängen. In der Rekonstruktion von Lebenswelt lassen sich die folgenden beiden Zugänge
unterscheiden:
·
Lebenswelt als Selbstverständlichkeit: Hier drunter fasst Thiersch Lebenswelt als
Wirklichkeit in der wir uns selbstverständlich vorfinden. Menschen versuchen sich die
Bewältigung der vielfältigen Aufgaben des Alltags durch Routinen und Typisierungen zu
vereinfachen
·
Lebenswelt als Aufgabe: Hiermit meint Thiersch eine Wirklichkeit, die gekennzeichnet ist
vom Sozialen Wandel, von Pluralität der Lebenswelten und Individualisierung der
Lebensführung. Traditionelle Lebensformen werden brüchig, wodurch sich jedoch auch
Möglichkeiten der Selbstbestimmung für den Einzelnen ergeben. Auf der anderen Seite
sind die Menschen zur eigenen Alltagorganisation aufgefordert und oft überfordert.
Lebenswelt in diesem Sinne ist schwierig, unübersichtlich und riskant für den Menschen
geworden, sie ist heute zunehmend von Desorientierung und Ratlosigkeit geprägt (vgl.
Thiersch: 1993, S. 144).
Lebensweltorientierung hebt bei der Auseinandersetzung mit den heutigen Lebenswelten ihrer
AdressatInnen die ,,Eigensinnigkeit von Deutungs- und Handlungsmustern in den gegebenen
Verhältnissen" (Thiersch: 1995, S. 221) hervor. Menschen werden in ihren Möglichkeiten der
Lebensbewältigung gesehen und Soziale Arbeit soll nach dem Prinzip der Selbsthilfe in diesem
Sinne zu einem gelingerenden Alltag der AdressatInnen beitragen. Eine Lebensweltorientierte
Soziale Arbeit zielt deshalb auf Empowerment und Selbsttätigkeit ab. Für Thiersch bedeutet
Lebensweltorientierte Arbeit zunächst die Normalität des Alltags und erst danach die
Schwierigkeiten der AdressatInnen in den Fokus zu rücken (vgl. Thiersch: 2012, S. 20/
Schilling: 2013,163).
Lebenswelt muss immer im Kontext der sie prägenden gesellschaftlichen Strukturen betrachtet
und bewertet werden. Gesellschaftliche Strukturen sind der Rahmen für die Möglichkeiten
individueller Alltagsbewältigung, innerhalb deren sich Menschen entweder bewähren oder ihr
Scheitern erleben müssen (vgl. Thiersch: 1995, S. 222).
1.2 Gegenstand und Funktion einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit im Kontext
gesellschaftlicher Veränderungen
Gegenstandsbereich der Sozialen Arbeit als Profession sind die sozialen Problemlagen von
Individuen und der Gesellschaft als Ganzes. Ihr Arbeitsauftrag bezieht sich auf die
Unterstützung für Menschen in schwierigen Lebenslagen und die Erweiterung ihrer
Bewältigungsmöglichkeiten im Rahmen förderlicher Strukturen (vgl. ebd., S. 218). Daraus lassen
sich spezielle Aufgaben und Ziele für die Soziale Arbeit als Profession ableiten. Thiersch stellt
mit seinem Theorieansatz ein Erklärungsmodell für soziale Problemlagen zur Verfügung und
leitet aus seinem gesellschaftskritischen Ansatz Lösungen für die sich daraus ergebenden
individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen ab (vgl. Schilling/ Zeller: 2012, S. 140).

4
Lebenswelt und Alltag stellt sich in der heutigen Zeit widersprüchlich und schwer fassbar dar.
Thiersch bezeichnet den Alltag der Menschen in der modernen Gesellschaft als ,,pseudokonkret"
(Thiersch: 2006). Menschen nehmen den Alltag dabei unterschiedlich wahr und gestalten ihn
individuell. Sozialer Arbeit kommt dabei die Aufgabe zu den pseudokonkreten Alltag des
Einzelnen zunächst einmal zu verstehen. Der Prozess des Verstehens und Wahrnehmens geht
nicht einseitig von Professionellen aus, sondern fordert einen Dialog mit allen Beteiligten, der
schließlich zu neuem Wissen und Handlungsmöglichkeiten führt. ,,Dieses Wissen kann aber -
und das meint Lebensweltorientierung - immer nur an der individuell unterschiedlichen
Alltagsbewältigung orientiert gewonnen werden" (Lambers: 2013, S. 105).
Lebensweltorientierte Arbeit soll zur Veränderung der gegebenen Lebensverhältnisse bei
gleichzeitiger Wertschätzung der individuellen Lebensformen und praktischen
Bewältigungsversuche beitragen, mit dem Ziel eines gelingenderen Alltags für seine
AdressatInnen (vgl. Thiersch/ Grundwald/ Köngeter: 2002, S. 164). Soziale Arbeit bezieht sich
dabei auf konkrete Lebenswirklichkeiten auf dem Hintergrund alltäglicher Erfahrungen.
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit in diesem Sinne orientiert sich an den Bedürfnissen und
Lebenswirklichkeiten von Hilfesuchenden. Sie leistet mit den Prinzipien Empowerment und Hilfe
zur Selbsthilfe Identitätsarbeit, wobei sie sich zuerst an den subjektiven Lebensentwürfen der
AdressatInnen orientiert. In dem sie sich auf die individuellen Lebensentwürfe und
Bewältigungsversuche von Hilfesuchenden einlässt soll sie Mut machen und Orientierung
bieten, um sich in den heutigen oft widersprüchlichen Verhältnissen zurecht zu finden (vgl. ebd.,
S. 172).
Lebenswelt ist nach Thiersch untrennbar mit den Bedingungen in der Gesellschaft verknüpft. In
diesem Sinne soll Soziale Arbeit auch immer einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten
und die Lebenssituationen des Einzelnen verbessern. Soziale Arbeit soll sich im Dienste ihrer
Adressatinnen auf sozialpolitischer und gesellschaftlicher Ebene einmischen und damit auf
gesellschaftliche Ungleichheiten Einfluss nehmen. Sie bezieht sich damit auch auf
gesellschaftliche Veränderungen. ,,In der Praxis ist das Konzept deshalb verwiesen auf
Kooperation und Koalitionen mit anderen Politik- und Gesellschaftsbereichen" [...] (Grunwald/
Thiersch: 2005, S. 1141).
Im Fokus des Ansatzes steht dabei einerseits die Kritik an den vorhandenen gesellschaftlichen
Strukturen und sozialen Ungerechtigkeiten, sowie institutionelle und professionelle
Bedingungen, die den Alltag der AdressatInnen erschwerend beeinflussen. ,,Der Selbstanspruch
einer lebensweltorientierten Sozialen Arbeit hat seine radikale Brisanz darin, daß sie sich auf die
Realität heutiger Lebensverhältnisse bezieht. [...] Bezieht man diese Aussage [...] auf Probleme,
die strukturell im Arbeitsauftrag der Sozialen Arbeit und in den fachlichen Interpretationsmustern
[...] liegen, dann erweist sie sich als hochbrisant" (Thiersch: 1995, S. 218).
Lebensweltorientierung ist in diesem Sinne auch Kritik und Antwort auf Expertendominanz, d.h.
Tendenzen in der Sozialen Arbeit ihre AdressatInnen unter dem Deckmantel von Hilfen zu
verbesserten Lebensverhältnissen zu kolonialisieren. Der Begriff der Kolonialisierung beschreibt
nach Rauschenbach die staatlich übertragende soziale Kontrolle der Sozialen Arbeit, die
eigensinnige Lebensentwürfe von AdressatInnen wenig beachtet und akzeptiert.

5
Normen und Werte der hierarchischen Klassengesellschaft und Entwicklungen im Rahmen der
heutigen Leistungsgesellschaft dürfen nicht dazu führen, dass die Lebenserfahrungen und -
wirklichkeiten der AdressatInnen unbeachtet bleiben und entwertet werden (vgl. ebd., S. 219).
1.3 Entwicklung des Theoriekonzeptes der Lebensweltorientierung unter dem Aspekt
historischer und theoretischer Bezüge
Unter den wissenschaftlichen Theorieentwürfen der 70er Jahre stellt das Konzept der
lebensweltorientierten Sozialpädagogik nach Thiersch einen der bekanntesten Theorieansätze
dar, der die Soziale Arbeit in Theorie und Praxis nachhaltig geprägt hat. Hans Thiersch wurde
1935 in Recklinghausen geboren (vgl. Lambers: 2013, S. 108). Er beschäftigte sich nach
seinem Pädagogikstudium zunächst mit wissenschaftlichen Fragen der Pädagogik und
interessierte sich allmählich immer stärker für die vielen ungeklärten Fragen der praktischen und
theoretischen Sozialpädagogik (vgl. Füssenhäuser: 2005, S. 135).
Das Konzept der Lebensweltorientierung entstand als Reaktion auf die charakteristischen
gesellschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklungen der 70er Jahre. In einer Zeit, die durch
soziales Aufbegehren gegen einengende gesellschaftliche Strukturen, wie beispielweise in Form
der Studenten- oder Frauenbewegung, bestimmt war (vgl. ebd., S. 138). Thiersch kritisierte mit
seinem Ansatz die konventionellen Strukturen in der Sozialen Arbeit, sowie die kritisch-radikale
Diskussion der 60er Jahre mit ihrer abstrakten, politischen Analyse der Funktion von Sozialer
Arbeit. In dieser wurden Fragen bezüglich des sozialpädagogischen Handelns, die sich an den
konkreten Lebenswirklichkeiten und dem Alltag der AdressatInnen orientierten, vernachlässigt.
Gleichzeitig entwickelte sich Soziale Arbeit hin zu einer zunehmenden Spezialisierung und einer
Ausweitung des Erziehungswesen. Die damit in Verbindung stehenden Tendenzen, in das
Leben der AdressatInnen, unter dem Deckmantel zunehmender Expertenschaft kontrollierend
einzugreifen, führte zum Begriff der Alltagsorientierung und später zur Lebensweltorientierung
(vgl. ebd., S. 139).
,,Das bewusste Reden vom Alltag, die Diskussion des Alltagskonzepts, ist geistesgeschichtlich
gesehen relativ jung. Alltag gab es aber er wurde nicht besonders thematisiert. [...]. In den 60er
Jahren [...] wurde die Alltagsfrage neu und brisant angesichts der expandierenden institutionellen
und effektiven Technologie und Rationalisierung und der zunehmenden Abstraktheit unserer
Lebensverhältnisse. Kritik und Abwehr dieser Entwicklungen gingen einher mit einer neuen
Betonung der unmittelbar erfahrenen Lebensräume, der sozialen Beziehungen und der in ihnen
verfügbaren Ressourcen." (Thiersch: 2012, S. 44).
Mit dem Begriff verband sich in diesem Zusammenhang eine Gegenorientierung zur
zunehmenden Institutionalisierung und Professionalisierung in der Sozialen Arbeit, die eine
ganzheitliche Orientierung am Alltag der AdressatInnen forderte (vgl. ebd., S. 24). Thiersch
implizierte damit aber keineswegs den Verzicht auf Spezialisierungen generell, sondern wollte
mit seinem Konzept zu einem veränderten Selbstbild der Sozialen Arbeit führen.

Details

Seiten
Jahr
2014
ISBN (eBook)
9783668533462
ISBN (Paperback)
9783668533479
Dateigröße
515 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Hochschule Koblenz (ehem. FH Koblenz)
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Note
1,0
Schlagworte
Thiersch Lebensweltorientierung Sozialpädagogische Familienhilfe Familien in prekären Lebenslagen
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