Soziale Ungleichheiten und Bildung in Deutschland. Bildungsungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft und ihre Bedeutung für die Schulsozialarbeit
©2014
Hausarbeit
28 Seiten
Zusammenfassung
Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts und nimmt einen immer größeren Stellenwert ein. Sie ist Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und setzt die Weichenstellung für fast alle anderen Bereiche wie Arbeit, Einkommen Wohnen, Sozialstatus, politische Partizipation und private Lebensqualität der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Das Recht auf Bildung ist daher nicht nur ein autonomes Menschenrecht, sondern auch ein Instrument, um anderen Menschenrechten zu deren Einfluss zu verhelfen. Im Bereich Bildung zeigt sich soziale Gerechtigkeit folglich darin, dass Bildung in einer Gesellschaft für alle Menschen frei von Diskriminierung garantiert wird und Armut, Geschlecht, Migrationshintergrund und soziale Herkunft keine Rolle beim Zugang zu Bildung spielen dürfen. Dieses Ziel hat Deutschland aber noch nicht erreicht.
Das Bildungssystem in Deutschland weist, das zeigen mehrere Studien auf, in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit größere Mängel auf. Hier wird ersichtlich, dass ein großer Zusammenhang zwischen Leistungskompetenz und sozialer Herkunft besteht und Deutschland noch weit davon entfernt ist, sich mit Chancengleichheit in Bezug auf Bildung zu rühmen, obwohl soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit Werte sind, die in Deutschland durchaus von Bedeutung sein sollten.
Doch welche Ungerechtigkeiten bestehen im Hinblick auf soziale Herkunft tatsächlich im deutschen Schulsystem und wie kann Soziale Arbeit, bzw. hier konkreter Schulsozialarbeit, dies versuchen auszugleichen? Diese Arbeit befasst sich mit dieser Problematik. Dazu werden zunächst einige relevante Begriffe definiert, um darauffolgend die bestehenden Ursachen sozialer Bildungsungleichheiten aufzuzeigen. Die theoretischen Ansätze zur Erklärung der herkunftsspezifischen Ungleichheiten werden anhand der Ansätze von Pierre Bourdieu und Raymond Boudon dargestellt, um die bereits erläuterten Aussagen zu den Ursachen der Bildungsbenachteiligung zu erklären. Darauffolgend geht es dann um die Folgerungen der Schulsozialarbeit auf die vorhergehenden Erkenntnisse und was Schulsozialarbeit zur Minderung der herkunftsspezifischen Benachteiligung im Bereich Bildung tun kann.
Das Bildungssystem in Deutschland weist, das zeigen mehrere Studien auf, in Bezug auf Bildungsgerechtigkeit größere Mängel auf. Hier wird ersichtlich, dass ein großer Zusammenhang zwischen Leistungskompetenz und sozialer Herkunft besteht und Deutschland noch weit davon entfernt ist, sich mit Chancengleichheit in Bezug auf Bildung zu rühmen, obwohl soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit Werte sind, die in Deutschland durchaus von Bedeutung sein sollten.
Doch welche Ungerechtigkeiten bestehen im Hinblick auf soziale Herkunft tatsächlich im deutschen Schulsystem und wie kann Soziale Arbeit, bzw. hier konkreter Schulsozialarbeit, dies versuchen auszugleichen? Diese Arbeit befasst sich mit dieser Problematik. Dazu werden zunächst einige relevante Begriffe definiert, um darauffolgend die bestehenden Ursachen sozialer Bildungsungleichheiten aufzuzeigen. Die theoretischen Ansätze zur Erklärung der herkunftsspezifischen Ungleichheiten werden anhand der Ansätze von Pierre Bourdieu und Raymond Boudon dargestellt, um die bereits erläuterten Aussagen zu den Ursachen der Bildungsbenachteiligung zu erklären. Darauffolgend geht es dann um die Folgerungen der Schulsozialarbeit auf die vorhergehenden Erkenntnisse und was Schulsozialarbeit zur Minderung der herkunftsspezifischen Benachteiligung im Bereich Bildung tun kann.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
... 1
2. Begriffserklärungen
... 2
2.1 Soziale Ungleichheit
... 2
2.2. Bildungsungleichheit
... 3
2.3. Soziale Herkunft
... 3
3. Ursachen der Bildungsbenachteiligung
... 4
3.1 Die Bildungsexpansion
... 4
3.2. Institutionelle Bildungsungleichheit
... 6
4. Erklärungsmodelle der Bildungsungleichheiten
... 7
4.1 Die Reproduktion ungleicher Bildungschancen nach Bourdieu
... 7
4.2 Primäre und sekundäre Herkunftseffekte nach Boudon Abbildung?
... 10
4.2.1 primäre Herkunftseffekte
... 10
4.2.2 sekundäre Herkunftseffekte
... 11
5. Folgerungen für die Schulsozialarbeit
... 13
5.1 Übergang Grundschule an die weiterführenden Schulen (2.Schwelle)
... 13
5.2 Übergang in Ausbildung oder Studium (3. Schwelle)
... 14
5.3. Schulsozialarbeit an Gymnasien
... 14
5.4. Unterstützung in der Schulentwicklung
... 15
6. Fazit
... 16
Literatur- und Quellenverzeichnis:
... 18
Abbildungsverzeichnis
... 21
1
Bildung und soziale Gerechtigkeit
Soziale
Ungleichheiten
und
Bildung
in
Deutschland
-
Bildungsungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft und ihre
Bedeutung für die Schulsozialarbeit
1 Einleitung
,,1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht
und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach und Berufsschulunterricht
müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen
entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.
2. Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der
Achtung von den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz
und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und
der
Tätigkeit
der
Vereinten
Nationen
für
die
Wahrung
des
Friedens
förderlich
sein."
(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte § 26, Abs. 1 u.2 1948)
Bildung ist eine der wichtigsten sozialen Fragen des 21. Jahrhunderts und nimmt einen
immer größeren Stellenwert ein. Sie ist Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und setzt die
Weichenstellung für fast alle anderen Bereiche wie Arbeit, Einkommen Wohnen,
Sozialstatus,
politische
Partizipation
und
private
Lebensqualität
der
einzelnen
Gesellschaftsmitglieder. Das Recht auf Bildung ist daher nicht nur ein autonomes
Menschenrecht, sondern auch ein Instrument, um anderen Menschenrechten zu deren
Einfluss zu verhelfen (vgl. Höblin 2012, S.23). Im Bereich Bildung zeigt sich soziale
Gerechtigkeit folglich darin, dass Bildung in einer Gesellschaft für alle Menschen frei von
Diskriminierung garantiert wird und Armut, Geschlecht, Migrationshintergrund und soziale
Herkunft keine Rolle beim Zugang zu Bildung spielen dürfen.
Dieses Ziel hat Deutschland aber noch nicht erreicht. Durch die Ergebnisse der Pisa Studien
(vgl. Baumert u.a. 2001; Prenzel 2007; OECD 2010) und vertiefende Analysen dazu (vgl.
Prenzel/Baumert 2008 für Pisa 2006), wurde das Thema Bildung wieder verstärkt ins
Interesse der Öffentlichkeit und der Politik gerückt, denn hier wurde festgestellt, dass
Deutschland im internationalen Vergleich eine große Spanne zwischen obersten und
untersten sozialen Bildungsschichten aufweist. Auch andere Studien, wie der
,,internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung" (IGLU; vgl. Bos u.a. 2007) oder der
,,Trends in international Mathematics and Science Study" (TIMSS; vgl. Bos u.a. 2008), zeigen
auf, dass das Bildungssystem im Bezug auf Bildungsgerechtigkeit in Deutschland größere
Mängel aufweist. Hier wurde ersichtlich, dass ein großer Zusammenhang zwischen
Leistungskompetenz und sozialer Herkunft besteht und Deutschland noch weit davon
entfernt ist, sich mit Chancengleichheit in Bezug auf Bildung zu rühmen, obwohl soziale
Gerechtigkeit und Chancengleichheit Werte sind, die in Deutschland durchaus von
2
Bedeutung sein sollten. Allerdings muss auch aufgezeigt werden, dass sich Deutschland im
Verlauf der Pisa Studien (Vgl. Klieme u.a. 2010) kontinuierlich verbessern konnte und eine
deutliche Leistungssteigerung unübersehbar ist (vgl. Ahrbeck 2014, S.95). Aber Problem-
bereiche bleiben durchaus bestehen, denn deutsche und aus privilegierten Sozialschichten
stammende Kinder haben bessere Aussichten, einen höheren Bildungsabschluss zu
erreichen (vgl. ebd., S.96). ,,Die Ungleichheiten reduzieren sich unter Kontrolle der erzielten
schulischen Leistung zwar deutlich, bleiben aber selbst dann in einem noch bedeutsamen
Ausmaß bestehen." (Ditton 2010, S.58)
Doch welche Ungerechtigkeiten bestehen im Hinblick auf soziale Herkunft tatsächlich im
deutschen Schulsystem und wie kann Soziale Arbeit, bzw. hier konkreter Schulsozialarbeit,
dies versuchen auszugleichen?
In dieser Arbeit möchte ich mich mit dieser Problematik befassen. Im ersten Teil (Kap.2)
werden einige relevante Begriffe definiert, während in Kapitel 3 die bestehenden Ursachen
sozialer Bildungsungleichheiten aufgezeigt werden. Die theoretischen Ansätze zur Erklärung
der herkunftsspezifischen Ungleichheiten werden anhand der Ansätze von Pierre Bourdieu
und Raymond Boudon in Kapitel 4 dargestellt, um die bereits in dem vorangegangen Kapitel
erläuterten Aussagen zu den Ursachen der Bildungsbenachteiligung zu erklären. Im darauf
folgenden Kapitel geht es dann um die Folgerungen der Schulsozialarbeit auf die
vorhergehenden
Erkenntnisse
und
was
Schulsozialarbeit
zur
Minderung
der
herkunftsspezifischen Benachteiligung im Bereich Bildung tun kann.
2. Begriffserklärungen
2.1 Soziale Ungleichheit
Der Begriff der sozialen Ungleichheit charakterisiert die ungleichen Möglichkeiten der
Teilhabe an gesellschaftlich wichtigen Ressourcen, welche die Lebensbedingungen der
Menschen weitreichend bestimmen. Je nach besseren oder schlechteren Teilhabechancen
nehmen die Mitglieder einer Gesellschaft eine soziale Position innerhalb der Sozialstruktur
dieser Gesellschaft ein. Ablesen lässt sich soziale Ungleichheit an Faktoren wie
Beschäftigung,
Familiensituation,
Gesundheitsbedingungen
oder
Arbeits-
und
Wohnbedingungen. Die Merkmale wie Alter, Geschlecht und Ethnie können dabei Einfluss
nehmen, inwieweit ein Mensch von sozialer Ungleichheit bedroht oder betroffen ist (vgl.
Büchner 2003, S.10).
Im Allgemeinen spricht man von sozialer Ungleichheit, wenn innerhalb einer Gesellschaft
bestimme Bevölkerungsteile bessere Lebensbedingungen als andere haben. Der Soziologe
Stefan Hradil erläutert den Begriff der sozialen Ungleichheit am Beispiel des Besitzes der
3
,,wertvollen" Güter. ,,Je mehr die einzelnen von diesen ,,Gütern" besitzen, desto günstiger
sind ihre Lebensbedingungen." (Hadril 1999, S.24) Soziale Ungleichheit stellt sich aber als
ein veränderbares Konstrukt dar, da die wertvollen Güter, wie sie Hadril nennt, einem
gesellschaftlichen und historischen Wandel unterliegen. Beispielsweise ist ein hoher
Bildungsabschluss heutzutage viel wertvoller als er es noch im Mittelalter war.
Eine sozial ungleiche Verteilung der ,,wertvollen Güter" in einer Gesellschaft liegt vor, wenn
ein Gesellschaftsmitglied von diesen Gütern stets mehr als andere erhält. ,,In der
soziologischen Terminologie wird immer dann von Ungleichheit gesprochen, wenn als
,,wertvoll" geltende Güter nicht absolut gleich verteilt sind." (ebd. S, 28)
Da Bildung über Zugänge zu verschiedenen Positionen, Schichten und Privilegien
entscheidet, also damit über zentrale Lebens- und Zukunftschancen bestimmt, kommt dem
Bildungssystem in der Frage der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten eine wichtige Rolle
zu. Gleichzeitig ist das Bildungssystem als gesellschaftliche Institution aber auch ein Produkt
sozialer Ungleichheit (vgl. Berger/Kahlert 2005, S.7).
2.2. Bildungsungleichheit
Durch diese große Bedeutung der Bildung für die Entwicklung des Einzelnen und der
Gesellschaft rückt die soziale Bildungsungleichheit ins Zentrum wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Debatten. Im deutschen Bildungssystem bestehen Bildungsungleichheiten
vor allem wegen der sozialer Herkunft, des Geschlechts und der Nationalität. Bildungs-
ungleichheit bedeutet die ungleichen - und damit ungerechten - Teilhabechancen am
Bildungssystem (vgl. Krüger u.a. 2011, S.7). Bildungsungleichheit in Abhängigkeit von der
sozialen Herkunft definieren Müller und Haun als ,,Unterschiede im Bildungsverhalten und in
erzielten Bildungsabschlüssen (beziehungsweise Bildungsgänge) von Kindern, die in unter-
schiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen." (Müller/Haun
1994, S.3)
Somit bedeutet soziale Bildungsungleichheit, dass nicht die Fähigkeiten einer Person für ihr
schulisches
Fortkommen
entscheidend
sind,
sondern
die
Herkunft.
Soziale
Bildungsungleichheit beschreibt daher ein Konstrukt, welches die Abhängigkeit des
persönlichen Bildungserfolgs von der persönlichen sozialen Herkunft beschreibt (vgl. Schlicht
2011, S. 48).
2.3. Soziale Herkunft
Unter sozialer Herkunft soll hier ein System soziokultureller Werte und Normen verstanden
werden, in welches jedes Individuum hineingeboren wird. Hierbei haben Schichten oder
Milieus einer Gesellschaft jeweils ihre eigenen Werte und Normen, die innerhalb der
4
Sozialisation verinnerlicht werden. Auf diesem Gebiet hat maßgeblich Pierre Bourdieu
gearbeitet und herausgestellt, dass die soziale Herkunft entscheidend für die Verinnerlichung
der Möglichkeiten innerhalb der einzelnen Milieus ist. Jede Schicht oder jedes Milieu hat
seine eigenen Chancen zur Partizipation am gesellschaftlichen Leben und hat seine eigenen
spezifischen Vorlieben und Abneigungen, was Bourdieu als den Habitus bezeichnet (vgl.
Bourdieu 1983). Dies bedeutet, dass Personen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft auch
unterschiedlichen Zugang zu den verschiedenen Ressourcen einer Gesellschaft haben.
Bezüglich der sozialen Herkunft lassen sich Unterscheidungen beispielweise aufgrund
erreichter Bildungsabschlüsse oder Ausbildungen (Arbeiter, Beamter, Akademiker) und nach
Einkommen vornehmen.
Obwohl formal alle Bürger der Bundesrepublik Deutschland den gleichen Zugang zu Bildung
haben, belegen viele Studien den Zusammenhang von sozialer Herkunft und
Bildungsungleichheit. Was aber sind die Ursachen für die Entstehung und die Beständigkeit
von Bildungsungleichheiten? Dies soll im nächsten Kapitel erläutert werden.
3. Ursachen der Bildungsbenachteiligung
Für die Entstehung und Beständigkeit von Bildungsungleichheit gibt es eine Vielzahl von
Ursachen. Es sollen hier die Ursachen ungleicher Bildungschancen in Anlehnung an ein
Modell von Becker und Lauterbach dargelegt werden (siehe Abb. 1).
3.1 Die Bildungsexpansion
Soziale Maßnahmen und Programme sind Kennzeichen eines Wohlfahrtsstaates, genauso
wie die Meinung, dass Bildung sich im Wirtschaftswachstum niederschlägt. Eine der
wichtigsten gesellschaftlichen Maßnahmen in Deutschland im 20.Jahrhundert war die
Bildungsexpansion in den 1970er Jahren. Aufgrund des ,,Sputnik-Schocks", im Vorfeld dieser
Entwicklung, kam es zu wirtschaftlichen und politischen Diskussionen, inwieweit die
westlichen Industrienationen durch mangelnde Bildung und Qualifizierung ihrer Arbeitskräfte
wirtschaftlich und technisch mithalten könnten (vgl. Brake/Bücher 2012, S.31). Die Ziele der
ersten Bildungsreform waren der Abbau von Bildungsungleichheiten durch den Ausbau und
die Umstrukturierung des Schulwesens, wie die Abschaffung des Schulgelds, obligatorische
Aufnahmeprüfungen an Gymnasien, die Anhebung der Vollzeitschulpflicht auf neun Jahre,
die flächendeckende Einführung von weiterführenden Schulen und die Einrichtung von
Förder- und Orientierungsstufen sowie von Gesamtschulen (vgl. Vester 2005, S.43). Auch
die Einführung von Stipendien und des Bafögs sowie der Ausbau der Berufsausbildung und
der vereinfachte Zugang zum Hochschulbereich durch das Erlangen der allgemeinen
Hochschulreife über den zweiten Bildungsweg ermöglichten eine weitreichende soziale
5
Öffnung (vgl. Becker/Lauterbach 2010, S. 30). Diese Veränderungen kamen vor allem
denjenigen Schichten zugute, denen der Zugang zu einer höheren Schulbildung bis dahin
verwehrt war. Dies betraf im Besonderen Schüler der ,,Volksschule", Mädchen,
Arbeiterkinder und Kinder, die in ländlichen Regionen aufwuchsen. Waren es 1965 noch
66%, der unter 13 Jährigen Schulkinder, die nur die Hauptschule besuchten, so waren es
1990 lediglich noch 34%. Die Schülerzahl der Realschule (8.Jahrgangsstufe) stieg seit 1965
von 15% bis 1990 auf 29%. Während 1965 nur 19% der Schüler die höchste Bildungsstufe
erreichten, waren es im Jahr 1990 schon 30%, die den Übergang auf das Gymnasium
schafften. Die Zahl der Hauptschüler nimmt bis heute stetig ab (16%), was aber an den
steigenden Schülerzahlen der integrierten Gesamtschulen liegen kann (vgl. Statistisches
Bundesamt 2012, siehe Abb. 2). Auch die Studentenzahlen, gemessen an der
Gesamtbevölkerung, stiegen enorm an. Waren es im Jahr 1970 noch 5% der 20-30
Jährigen, stieg der Wert auf rund 10% im Jahr 1990 und sogar auf 15% im Jahr 2003 (vgl.
Statistisches Bundesamt/Datenreport 2011, S.59ff.). Im Zuge der Bildungsexpansion
verbesserte sich das Bildungsniveau der Gesellschaft insgesamt erheblich, doch
unsinnigerweise war mit einer Aufwertung von formalen Bildungsabschlüssen für die
Zulassung zu beruflichen Ausbildungsgängen eine Entwertung derselben durch eine
Titelinflation gekoppelt, d.h., dass mit Zertifikaten desselben Niveaus heutzutage nur noch
Positionen mit weniger Statuschancen als früher erworben werden können (vgl. Geißler
2005). Für Becker und Lauterbach kam es im Zuge der Bildungsexpansion verstärkt zu einer
intergenerationalen Reproduktion von ungleichen Bildungschancen, da die oberen Schichten
vermehrt in Bildungsabschlüsse und höhere Bildung investieren, um ihre soziale Position
innerhalb der Klassenstruktur zu erhalten (vgl. Becker/Lauterbach 2010, S.26). Für
Quenzel/Hurrelmann ist es sogar absehbar, dass sich der Abstand zwischen Hochgebildeten
und den Geringqualifizierten weiter vergrößert, da der Anteil der Bevölkerung ohne
abgeschlossene Berufsausbildung relativ konstant ist, bei den Jüngeren sogar leicht
ansteigt. ,,Zugespitzt könnte man sagen, dass die gesellschaftliche Gruppe der formal
Niedrigqualifizierten von der gesellschaftlichen Mitte an den gesellschaftlichen Rand
geschoben
wurde."
(Quenzel/Hurrelmann
2010,
S.13f.)
Zum
Abbau
von
Bildungsbenachteiligung ist es demnach nur auf der mittleren Ebene, der Realschule,
gekommen, denn die Chancen und Möglichkeiten auf eine höhere Bildung sind immer noch
ungleich zwischen ,,Oben und Unten" verteilt (siehe Abb. 3 und 4).
Eine weitere Ursache für die Bildungsbenachteiligung im Bezug auf soziale Herkunft soll
anhand der Institution Schule im folgenden Kapitel charakterisiert werden.
6
3.2. Institutionelle Bildungsungleichheit
Seit dem Pisa-Schock im Jahr 2001 konzentrierte sich die Bildungsforschung genauso wie
die Bildungspolitik stärker auf die Strukturen und Regelungen des deutschen
Bildungssystems. Neben der Familie stellt die Schule den wichtigsten Faktor für Bildung und
Kompetenzerwerb dar. Im deutschen Schulsystem findet aufgrund der institutionellen
Aufteilung der Schüler in unterschiedliche Schultypen, eine soziale Segregation statt (vgl.
Baumert u.a. 2006, S.95ff.). Somit ist entscheidend, zu welchem Zeitpunkt man welche
Schule wählt. Auch findet eine ,,Etikettierung" von Schüler/innen bezüglich ihres
Leistungspotenzials statt. Dies geschieht einerseits durch Barrieren innerhalb des Systems
und andererseits durch die Bildungsaspiration von Eltern und Kindern. So besuchen Kinder
aus unteren sozialen Schichten deutlich häufiger als Kinder aus höheren sozialen Schichten
Haupt- und Förderschulen und schaffen es seltener auf ein Gymnasium. Hinsichtlich der
Barrieren innerhalb des Schulsystems beginnt dies schon mit dem Übergang von der
Grundschule in das Gymnasium. Studien belegen, dass Schüler/innen aus einem niedrigen
soziökonomischen Umfeld, bei gleichem Notenstand, weitaus weniger häufig auf ein
Gymnasium wechseln, als Schüler/innen aus einem hohen soziökonomischen Umfeld (vgl.
Solga/Dombrowski 2009, S.13ff.). Gut zu erkennen ist dies in Abbildung 5. Kinder aus
oberen Klassen haben eine 2,6 mal größere Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium
zu erhalten, als Kinder aus Facharbeiterfamilien. Die Differenz bei Kindern aus ungelernten
Arbeiterfamilien ist sogar 4,5 mal so hoch, obwohl sie gleiche Fähigkeiten und Kompetenzen
besitzen. Die Bewertungen bzw. Empfehlungen der Lehrer/innen werden nicht nur nach dem
Leistungspotenzial der Schüler/innen ausgestellt, sondern es fließen auch Faktoren wie
Verhaltensmerkmal, Sprachbeherrschung, Motivation und Gewohnheiten mit ein. Somit
kommt es vor, dass Kinder aus unteren Schichten, um eine Gymnasialempfehlung zu
bekommen, deutlich bessere schulische Leistungen erbringen müssen, als Kinder aus
oberen Schichten (vgl. ebd., S.14).
Je früher Schüler/innen innerhalb des Schulsystems getrennt werden, umso größer sind
auch die schichttypischen Leistungsunterschiede. Ein erkennbares Resultat der Gliederung
eines Systems in Schulformen, auf die sich Schüler/innen nach Leistungsgesichtspunkten
verteilen, ist die Homogenisierung von Schülergruppen. Diese Wirkung ist hinsichtlich der
Leistung nicht nur erwünscht, sondern letztlich Sinn dieser Maßnahme. Mit einer frühen
Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge ist aber als unerwünschter Nebeneffekt
die soziale Trennung von Schüler/innen verbunden (vgl. Wenzel 2011, S.60). ,,Soziale
Segregation
ist
die
Kehrseite
institutioneller
Leistungsdifferenzierung." (Baumert/
Trautwein/Artelt 2003, S.267)