In dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, warum Verstehensprozesse in der zwischenmenschlichen Kommunikation so komplex sind und welche Faktoren diese Komplexität bedingen. Komplexität wird hierfür in Anlehnung an Grzywatz (2015) definiert.
Ziel der Arbeit ist es, anhand von Konstrukten, Theorien und Modellen aus den Bereichen der Kommunikations- und Kognitionswissenschaft Gründe für die Komplexität von Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation aufzuzeigen. Die Ausarbeitung stellt damit eine grundlagen- und übersichtsartige Darstellung des Themenkomplexes ‚Verstehen und Verstehensprozesse‘ aus Sicht der Kommunikations- und Kognitionswissenschaft dar.
Gegenseitiges Verstehen bildet das Kernstück erfolgreicher zwischenmenschlicher Kommunikation. Ist dieses in einer Kommunikationssituation nicht gegeben (Nicht(s)verstehen) oder auch nur beeinträchtigt (Missverstehen) wirkt sich das auf den Erfolg dieser Kommunikation aus. Dieser Umstand macht den Themenkomplex Verstehen zu einem für alle Lebens- und Wissensbereiche relevanten Problemfeld.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Grundlegende Konstrukte zu den Bereichen Textverstehen und Verstehensprozesse
2.1 Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation
2.2 Unterscheidung von Verstehensprozessen und deren Relationen
3. Funktionalität des Textverstehens
3.1 Repräsentationaler Aspekt des Textverstehens
3.1.1 Propositionaler Ansatz nach Kintsch (1974)
3.1.2 Drei Ebenen der Textrepräsentation nach van Dijk und Kintsch (1983)
3.2 Prozeduraler Aspekt des Textverstehens
3.2.1 Wortverstehen
3.2.2 Satzverstehen
3.2.3 Textverstehen
4. Begründung der Komplexität von Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
7. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
„Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse.“ (Antoine de Saint Exupéry)
Gegenseitiges Verstehen bildet das Kernstück erfolgreicher zwischenmenschlicher Kommunikation. Ist dieses in einer Kommunikationssituation nicht gegeben (Nicht(s)verstehen) oder auch nur beeinträchtigt (Missverstehen) wirkt sich das auf den Erfolg dieser Kommunikation aus (Braun, 2004). Dieser Umstand macht den Themenkomplex Verstehen zu einem für alle Lebens- und Wissensbereiche relevanten Problemfeld: ein Gespräch zwischen Dozent und Student im Rahmen der wissenschaftlichen Lehre, eine Besprechung zwischen Mitarbeiter und Führungskraft, ein Beratungsgespräch zwischen Arzt und Patient, (die Liste ließe sich beliebig erweitern).
In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, warum Verstehensprozesse in der zwischenmenschlichen Kommunikation so komplex sind und welche Faktoren diese Komplexität bedingen. Komplexität wird hierfür in Anlehnung an Grzywatz (2015) folgendermaßen definiert: „Der Begriff der Komplexität (lat. complexus: zusammengeknüpft, verwoben, vernetzt) beschreibt den Umstand, dass ein System eine hohe Vielzahl und Vielfalt von Zuständen annehmen kann, sei es auf Ebene der Elemente und deren Beziehungen oder aber hinsichtlich der Veränderlichkeit und deren Beziehungen zueinander“ (Grzywatz, 2015, S.44).
Die Untersuchung der Komplexität von Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation aus der Perspektive der Kommunikations- und Kognitionswissenschaft stellt sich als ein sehr umfangreiches Feld dar. Deshalb muss an dieser Stelle der Begriff ‚zwischenmenschliche Kommunikation‘ eingegrenzt werden: In der vorliegenden Ausarbeitung werden Verstehensprozesse in der gesprochenen Face-to-Face-Kommunikation untersucht. Ausgeklammert werden ausdrücklich Verstehensprozesse in der geschriebenen Sprache, sowie solche der non- und paraverbalen Kommunikation.
Zur Beantwortung der oben aufgeführten Fragestellung werden in Kapitel 2 zunächst grundlegende Konstrukte aus der kommunikations- und kognitionswissenschaftlichen Forschung zu den Bereichen Verstehen und Verstehensprozesse definiert und erläutert. Kapitel 3 bildet das Kernstück der Ausarbeitung und liefert die theoretische und modellbasierte Grundlage für die Beantwortung der Fragestellung. In Kapitel 4 werden dann die Erkenntnisse aus Kapitel 2 und Kapitel 3 herangezogen, um die oben genannte Fragestellung zu beantworten.
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, anhand von Konstrukten, Theorien und Modellen aus den Bereichen der Kommunikations- und Kognitionswissenschaft Gründe für die Komplexität von Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation aufzuzeigen. Die Ausarbeitung stellt damit eine grundlagen- und übersichtsartige Darstellung des Themenkomplexes ‚Verstehen und Verstehensprozesse‘ aus Sicht der Kommunikations- und Kognitionswissenschaft dar.
2. Grundlegende Konstrukte zu den Bereichen Textverstehen und Verstehensprozesse
„Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andre, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort.“ (Alexander von Humboldt, 1836)
2.1 Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation
Das Kommunikationsmodell, auf dem die vorliegende Arbeit basiert, orientiert sich am Konstruktivismus (von Glasersfeld, 1997). Ein Kommunikationsmodell (vgl. Abb.1), das am Konstruktivismus orientiert ist, sollte „die drei Komponenten Informationsproduzent [Kommunikator], Informationsrezipient [Rezipient] und Information [Botschaft/Mitteilung] in einer medialen und situationalen Umwelt“ (Strohner, 2006, S.191) enthalten. Von Interesse sind hierbei vor allem besondere Merkmale des Kommunikators, des Rezipienten, der Botschaft, des Mediums/Übertragungskanals, sowie der spezifischen Kommunikationssituation. Im Kontext einer Untersuchung zu den Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation sollte ein Kommunikationsmodell zusätzlich den Referenzbereich der Botschaft, sowie den ‚Common Ground‘[1] (Clark und Brennan, 1991) zwischen Kommunikator und Rezipient enthalten.
In Anlehnung an Strohner (2006) und Kercher (2013) und entlang der Lasswell-Formel des Kommunikationsprozesses (Lasswell, 1964) wurde für diese Arbeit ein Kommunikationsmodell angefertigt, das den oben genannten Bedingungen Genüge leistet (vgl. Abb. 1). Neben der Tatsache, dass die vorliegende Arbeit auf diese Weise kommunikationstheoretisch fundiert wird, bietet das vorliegende Kommunikationsmodell zusätzlich den Vorteil, dass so bereits erste Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Variablen im Verstehensprozess deutlich werden (Kercher, 2013). Diese werden im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit erneut aufgegriffen und argumentativ untermauert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 : Grundstruktur des Kommunikationssystems als Rahmen des Textverstehens
Legende: durchgezogene Pfeile = manifeste Beziehungen; gestrichelte Pfeile = latente Beiziehungen
2.2 Unterscheidung von Verstehensprozessen und deren Relationen
Bei der Definition von Verstehensprozessen unterscheidet die Fachliteratur (Braun, 2004; Kercher, 2013) die Konstrukte ‚Verstehen‘, ‚Nichtverstehen‘/‘Nichtsverstehen‘ und ‚Missverstehen‘. Laut Hörmann (1978) konstituiert sich verbale Kommunikation aus zwei Faktoren: ‚Meinen‘ und ‚Verstehen‘. Der Kommunikator meint etwas mit einer Botschaft/Mitteilung, d.h. die Botschaft enthält die Intention des Kommunikators und der Rezipient empfängt diese Botschaft und erschließt im Idealfall die Intention des Kommunikators, wodurch er die Botschaft versteht. Verstehen „erfolgt nicht automatisch, sondern ist als (inter-)aktiver Prozess dem Risiko ständigen Scheiterns ausgeliefert“ (Braun, 2004, S.8). Die Tatsache, dass Verstehen als interaktiver Prozess beschrieben wird, macht deutlich, dass Verstehen nicht die alleinige Kommunikationsleistung und Pflicht des Rezipienten darstellt, sondern dass sich Verstehen im kommunikativen Austausch zwischen Kommunikator und Rezipient einstellt. Hierbei gilt „das Grice’sche Prinzip der Kooperation [Grice, 1993], das […] die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg einer Kommunikation immer zu einer Sache in beiderseitiger Verantwortung macht“ (Braun, 2004, S.13).
Schnotz (1994) definiert Verstehen als „de[n] aktuelle[n] Aufbau einer konsistenten und kohärenten mentalen Repräsentation eines Sachverhalts“ (Schnotz, 1994, S.35). Schiefele (1996) ergänzt die Definition von Schnotz um den Aspekt der Adäquatheit der mentalen Repräsentation. Verstehen liegt folglich laut Schnotz (1994) und Schiefele (1996) dann vor, wenn die mentale Repräsentation eines Sachverhalts beim Rezipienten konsistent, kohärent und adäquat zu der mentalen Repräsentation des Sachverhalts beim Kommunikator ist.
Im Falle einer Kommunikationsstörung zwischen Kommunikator und Rezipient kann ‚Nichtverstehen‘ (partielles Nichtverstehen) und ‚Nichtsverstehen‘ (komplettes Nichtverstehen) unterschieden werden: Ersteres Konstrukt beschreibt Falkner (1997) sinngemäß folgendermaßen: Nichtverstehen bezeichnet eine Kommunikationsstörung zwischen Kommunikator und Rezipient. Der Rezipient erkennt diese sofort, da er den Äußerungen des Kommunikators nicht folgen kann. Auf Nichtverstehen folgt meist eine sofortige Rückfrage des Rezipienten, um die Kommunikationsstörung zu beheben. Da auf Nichtverstehen meist eine gerichtete Rückfrage des Rezipienten folgt, muss ein gewisses Maß an Verstehen auf Seiten des Rezipienten vorgelegen haben. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Rückfrage des Rezipienten an den Kommunikator gänzlich ungerichtet, und man kann von komplettem Nichtverstehen oder auch Nichtsverstehen sprechen (Falkner, 1997).
Anhand dieser Definitionen – wie auch aufgrund der Tatsache, dass nach den Prämissen des Konstruktivismus Botschaften nicht wie in den Nachrichtentechnisch inspirierten Kommunikationsmodellen (vgl. z.B. Shannon & Weaver, 1949; Maser, 1971) in einer exakten Kopie vom Kommunikator zum Rezipienten übermittelt werden, sondern sich in der Kommunikation beim Rezipienten eine Repräsentation davon entwickelt, was der Kommunikator (vermutlich) intendiert hat und sich diese aufgrund von Vorwissen, Kontext, situationsbedingten Faktoren und vielen weiteren Einflussfaktoren definitiv von derjenigen des Kommunikators unterscheidet (Busse, 1994) – wird deutlich, dass hundertprozentiges Verstehen sehr unwahrscheinlich und empirisch kaum nachweisbar ist (Falkner, 2007). Verstehen und nicht Nicht(s)verstehen sind zudem keine Gegensätze, sondern verschiedene Ausprägungsgrade der Übereinstimmung von Gemeintem und Verstandenem (Braun, 2004). Braun (2004) fasst diese Überlegung wie folgt zusammen: „Der Großteil der Ergebnisse von alltagssprachlicher verbaler Kommunikation bewegt sich m.E. im Bereich des partiellen Verstehens > 0 und < 100 Prozent“ (Braun, 2004, S.20).
Anders als Nicht(s)verstehen, das vom Rezipienten sofort bemerkt wird, kann ‚Missverstehen‘ nur im Nachhinein erkennt werden. Missverstehen spiegelt Verstehen vor, d.h. die Kommunikationspartner gehen so lange davon aus, dass sie sich verstehen, bis einer der beiden ein einzelnes isolierbares Missverständnis erkennt (Falkner, 1997). Anlehnend an Falkner (1997) wird so das Verhältnis zwischen Missverstehen (= unbewusster Prozess) und Missverständnis (= bewusstes punktuelles Ereignis) entscheidend durch den Faktor ‚Zeit‘ bestimmt und kann folgendermaßen grafisch dargestellt werden (in Anlehnung an Braun, 2004):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 : Zeitliche Abfolge des Missverstehensprozesses
Legende: K = Kommunikator; R = Rezipient
Braun hält abschließend fest, dass es sich „anders als beim Verhältnis zwischen Verstehen und Nicht(s)verstehen […] bei Verstehen und Missverstehen […] nicht um verschiedene Ausprägungsgrade der Übereinstimmung von Gemeintem und Verstandenem [handelt], sondern um jeweils zwei eigenständige Interpretationswege, von denen – hinsichtlich der Sprecherintention der betreffenden Äußerung – der eine richtig, d.h. erfolgversprechend, und der andere schlichtweg falsch ist“ (Braun, 2004, S.22/23).
In Anlehnung an Braun (2004) können die verschiedenen Arten von Verstehensprozessen in der zwischenmenschlichen Kommunikation folgendermaßen grafisch dargestellt und zusammengefasst werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3 : Zusammenfassende Darstellung der Relationen zwischen Verstehen, Missverstehen und Nicht(s)verstehen
3. Funktionalität des Textverstehens
„The complete process of understanding is […] [at it’s best] characterized by the joke about two psychoanalysts who meet on the street. One says, ‚Good Morning‘; the other thinks ‚I wonder what he meant by that‘.“ (Steven Pinker, 1994)
Beim Textverstehen kann der ‚Repräsentationale Aspekt‘ vom ‚Prozeduralen Aspekt‘ unterschieden werden. Der ‚Repräsentationale Aspekt‘ steht dabei für das „Produkt des Verstehens“, d.h. für die Struktur der inneren Repräsentationen, die das Ergebnis der Textverarbeitung darstellen. Der ‚Prozedurale Aspekt‘ beschreibt dagegen den „Prozess des Verstehens“ selbst, d.h. die Merkmale der inneren Prozesse, die zur Textverarbeitung notwendig sind (Schnotz, 1987).
[...]
[1] Clark und Brennan (1991) verstehen unter dem Konstrukt des ‚Common Ground‘ das geteilte Wissen, über das beide Kommunikationspartner, Kommunikator und Rezipient, verfügen.