Zugänge der Medienwissenschaften und Cultural Studies zu Fernsehsendungen als historische Quelle. Code, Ideologie und Rezeption im Fernsehfilm „Smog“
Zusammenfassung
Die Annahme, dass das Massenmedium Fernsehen (und jedes andere Massenmedium) einem Spiegel der Gesellschaft gleicht, der relevante Themen und zugrunde liegende Einstellungen abbildet, bedarf einer Operationalisierung der medialen Funktion des Mediums. Dasselbe gilt für die Medienwirkungen, also den Wandel von Geisteshaltungen durch Einflussnahme auf die Zuschauer.
Einen Beitrag, um die „Medienblindheit“ der Geschichtswissenschaft zu erhellen, können die Medien- und Kommunikationswissenschaften liefern. Diese Arbeit soll den Film "Smog" unter Zuhilfenahme medienwissenschaftlicher Theorien analysieren. Dabei soll die Quelle umfassend in ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund verortet werden: Als medialer Ausdruck gesellschaftlicher Wahrnehmungsmuster, aber auch als Ergebnis des künstlerischen Schaffens der Beteiligten.
In der Analyse werden u.a. der narrative (Story und Dramaturgie), visuelle (Symbole, Komposition, Schnitt) und sprachliche Code (Dialoge) sowie Rezeption und Ideologischer Code im Film untersucht.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1 Medientheorien
1.1 Versuch einer Systematisierung und Vorauswahl, Forschungsüberblick
1.2 Medium und Medialität – Einige Grundannahmen
1.3 (Massen)Medien und Gesellschaft: Gesellschaftliche „Realität“ ist Medienrealität
1.4 Cultural Studies als Medienanalyse
1.4.1 Stuart Hall: Das „encoding/decoding“-Modell
1.4.2 John Fiske: Ideologie als Code
1.5 Filme und Fernsehsendungen als Zeichensysteme
1.6 Medientheorien in der geschichtswissenschaftlichen Quellenanalyse: Ein Zwischenfazit
2 Medienproduktanalyse: „Smog“
2.1 Der Film: Künstlerische Codes
2.1.1 Narrativer Code: Story und Dramaturgie
2.1.2 Visueller Code: Symbole, Komposition, Schnitt
2.1.3 Auditiver Code: Geräusche und Musik
2.1.4 Sprachlicher Code: Dialoge
2.2 Rezeptionsmöglichkeiten und Rezeption
2.3 Ideologische Codes und Diskurse im Film
Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Alltag der bundesdeutschen Bevölkerung ist, spätestens mit Beginn der 1970er Jahre, entscheidend durch das Fernsehen geprägt: 1969 verfügten 84 % aller Haushalte über ein Fernsehgerät, 1975 waren es bereits 93%. Im Rahmen einer allgemein wachsenden Mediennutzung übernahm das Fernsehen die Funktion eines Leitmediums im Sinne des am breitesten rezipierten Mediums.[1] Angesichts der zentralen Bedeutung, die audiovisuelle Medien wie – zunächst – der Kinofilm, das Radio und später eben vor allem das Fernsehen für die Alltagskultur des 20. Jahrhunderts innehaben, wurde in den Kulturwissenschaften ein pictorial turn und später ein iconic turn gefordert: Die in den Geisteswissenschaften vorherrschende Fokussierung auf reine Schriftzeugnisse sollte überwunden werden[2]. Auch in der Geschichtswissenschaft setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass bewegte Bilder einen Quellenwert besitzen. Die Befürchtung, dass die Komplexität und Interpretationsoffenheit der filmischen Quelle für Historiker ein Hindernis darstellen könnte[3], hat sich angesichts neuerer Forschungsarbeiten als unbegründet erwiesen. Pragmatische inhaltliche Interpretationsansätze führen zu einer problemlosen Integration audio-visueller Quellen in das jeweilige allgemeine zeithistorische Forschungsdesign.[4]
Eine „Geschichte der Mentalitäten“ aus Filminhalten abzuleiten, bleibt jedoch in anderer Hinsicht ein ungelöstes methodologisches Problem: Wie erhält man Rückschlüsse über die gesellschaftlichen Bedingungen, in der die filmischen Quellen entstanden sind und nicht „nur“ Informationen über die Intentionen ihrer unmittelbaren Urheber? Beschränkt man sich bei der Interpretation von massenmedialen Quellen allgemein auf die Entschlüsselung ihrer unmittelbaren Entstehungsbedingungen, wird das Quellenpotential nicht ausgenutzt, welches ihre gesellschaftliche Bedeutung, Reichweite und Funktionsweise bietet. Daher sind Reflektionen über Medialität für die Zeitgeschichte auch abseits von dezidiert medienhistorischen Fragestellungen produktiv, aber dennoch bislang ausgeblieben oder wenn, dann nur kursorisch erfolgt.[5] Die implizite Annahme, dass das Massenmedium Fernsehen (und jedes andere Massenmedium) einem Spiegel der Gesellschaft gleicht, der relevante Themen und zugrunde liegende Einstellungen abbildet, bedarf einer Operationalisierung der medialen, also Informationen vermittelnden Funktionen eines Mediums. Dasselbe gilt für die Art und Weise medialen Wirkens, will man dem Fernsehen eine Rolle im Wandel der Geisteshaltungen durch seinen Einfluss auf die Zuschauer bescheinigen. Aus den genannten Gründen ist in den Medienwissenschaften daher die Forderung nach einer Reflektion der Bedingungen der medialen Konstruktion sozialer Realität, nach einem medial turn aufgekommen.[6]
Einen Beitrag, um die „Medienblindheit“ der Geschichtswissenschaft zu erhellen, könnten tatsächlich die Medien- und Kommunikationswissenschaften liefern. Diese beiden weitgehend getrennt voneinander operierenden Disziplinen versammeln eine Vielzahl unterschiedlichster Ansätze zur Analyse von Medienaspekten (vgl. Kapitel 1.1).[7] In der Kommunikationswissenschaft wird daher auch die Überzeugung vertreten, man habe „einiges zur Zeitgeschichtsschreibung beizutragen“, so zum Beispiel „Theorien zum Zusammenhang von Massenmedien und Gesellschaft“.[8] Dennoch sind medienwissenschaftliche Ansätze, insbesondere solche, die eine Rückbindung von massenmedialen Quellen an Konstrukte wie beispielsweise Mentalität erlauben würden, in der Geschichtsschreibung bislang nicht systematisch rezipiert worden. Der Verweis auf die kaum zu überblickende Theorievielfalt, fehlende methodologische „Königswege“ und den historiologischen Eklektizismus[9] befreit den Historiker nicht von der Notwendigkeit, die Theorieauswahl seiner Operationalisierung explizit zu begründen. Dies begünstigt die Kanonisierung der historischen Methodologie und macht die so gewonnen Erkenntnisse besser vergleichbar.
Diese Arbeit soll einen Versuch darstellen, eine audiovisuelle Quelle aus einem Massenmedium unter Zuhilfenahme medienwissenschaftlicher Theorien zu analysieren. Dabei soll die Quelle umfassend in ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund verortet werden: Als medialer Ausdruck gesellschaftlicher Wahrnehmungsmuster, aber auch als Ergebnis des künstlerischen Schaffens der Beteiligten, in jeweils zu bestimmenden Anteilen. Und als – möglicherweise –wiederum auf gesellschaftliche Haltungen wirkendes Medium. Das primäre Erkenntnisziel ist also mentalitätsgeschichtlich. Die gewählte Vorgehensweise soll ein vertieftes Verständnis der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Quelle durch die Quelle selbst und ihren medialen Charakter ermöglichen. Vertieft dahingehend, dass die Interpretation über die einfache Verknüpfung von inhaltlicher Auslegung und bereits vorhandenem Geschichtswissen hinausreicht. Gleichzeitig ist ein weiteres Ziel dieser Arbeit, in einem ersten Schritt aus der Vielzahl der angebotenen Theorierichtungen einen für die historische Lektüre von Massenmedien-Inhalten geeigneten medientheoretischen Ansatz auszuwählen und diese Auswahl zu begründen. Hierzu wird die umfangreich vorhandene Einführungsliteratur genutzt. Die Vor- und Nachteile sollen dann bei der Anwendung an der Quelle überprüft werden. Der Anspruch an das Abstraktionsniveau der Theorie leitet sich aus den Erfordernissen der Quellenanalyse ab: Sie muss auf jeden möglichen einzelnen Inhalt des Mediums Fernsehen (und optimalerweise auf weitere audiovisuelle Medien) anwendbar sein. Für die Analyseperspektive sind Theorien in Betracht zu ziehen, die im weitesten Sinn das Verhältnis von Medium und gesellschaftlichen Aspekten zum Thema haben. Weitere Quellen werden ergänzend hinzugezogen, aber nur, sofern sie Auskunft zu Aspekten des Mediencharakters der Originalquelle geben.
Als Quelle wurde der Film „Smog“ (1972) von Regisseur Wolfgang Petersen ausgewählt. Er behandelt das Smog-Phänomen anhand eines fiktiven Ausnahmezustandes im Ruhrgebiet. Die beginnenden 1970er Jahre werden in der Literatur als eine Art Wendemarke im Umweltbewusstsein in Deutschland aufgefasst: …[CS1] Die Frage an die Quelle ist, drückt der Film oder seine Rezeption gemäß der gewählten Vorgehensweise zeitgenössische Mentalitäten, Stimmungen und Meinungen aus und wenn ja, welche?
1 Medientheorien
1.1 Versuch einer Systematisierung und Vorauswahl, Forschungsüberblick
Am Anfang der Suche nach geeigneten Theorien muss der Versuch stehen, eine begründete Vorauswahl zu treffen, die absehbar unproduktive Ansätze ausscheidet. Zu diesem Zweck und zur erleichterten Orientierung im Themengebiet soll zunächst eine problemorientierte Kategorisierung erfolgen. Die Leitfrage ist: Wie bilden audiovisuelle Massenmedien die Gesellschaft ab und wie beeinflussen sie die Gesellschaft ? Die Fragestellung soll – trotz ihres begrifflich offenen Charakters – ein Ausschlusskriterium bilden. Eine erste Vorauswahl ist bereits die rein praktische Beschränkung auf die deutsche Medienforschung, die aber die Mehrheit der englischsprachigen Kommunikationsforschung ebenfalls rezipiert haben dürfte.
Gegenwärtig beschäftigen sich in Deutschland zwei um gegenseitige Abgrenzung bemühte Fachrichtungen dezidiert mit Medien und Medieninhalten. Einmal die Kommunikations- und Publizistikwissenschaft, zum anderen die so genannte „Medienwissenschaft“ (präziser: Medienkulturwissenschaft). Die Medienkulturwissenschaft hat ihre Wurzeln in der Literaturwissenschaft und Ethnologie, ihr Hauptaugenmerk gilt daher inhaltlich-ästhetischen Fragestellungen von Einzelwerken oder Werkkontexten. Dagegen steht die Kommunikationswissenschaft in einer wirtschaftswissenschaftlichen Tradition und nutzt verstärkt sozialwissenschaftlich-quantitative Methoden und eine pragmatische Herangehensweise. Durch die methodologischen Festlegungen liegt der Schwerpunkt der Medienwissenschaft im Bereich fiktionaler Inhalte, die der Publizistikwissenschaft in Bereich non-fiktionaler Information.[10] Für die vorliegende Arbeit ist diese Unterscheidung jedoch nur von nachrangiger Bedeutung: Die beiden Fachrichtungen liefern zwei unterschiedliche, sich ergänzende Zugänge zu einem identischen Topos. Daher sollten sie als integrierte Medienwissenschaft gedacht werden.[11]
In den meisten der in die Medienwissenschaften einführenden Werke wird kaum der Versuch unternommen, die vielfältigen Forschungsansätze zu systematisieren. Wenn, handelt es sich dabei meist um die analytische Dichotomie Empirie – Heuristik, die sich vor allem aus den beiden Forschungsrichtungen ableitet. Aber nicht in erster Linie die Methode ist für die Auswahl im Kontext der Fragestellung entscheidend, sondern Theoriegehalt und –reichweite. Als ergänzende systematisierende Kategorien regt Siegfried J. Schmidt unter anderem folgende an:
- Allgemeine Medientheorien und Einzelmedientheorien, weiter unterschieden nach produkt- oder systemorientierten Theorien;
- „Sozialsystemische Zuordnung“, also spezialisierte Ansätze wie z.B. Medienethik, Medienrecht, Medienökonomie u.a.;
- Handlungsrollen: Produzenten- und / oder Rezipienten-orientierte Ansätze;[12]
Subgesellschaftlich spezialisierte Konzepte zu Einzelaspekten, wie beispielsweise dem spezifischen Einfluss der Organisationsstruktur oder der Produktionsbedingungen[13], oder solche die eher an der Untersuchung und Optimierung der Praxis der Medienproduktion ausgerichtet sind, scheiden schon mangels verallgemeinerbarem theoretischem Überbau aus. Das Gleiche gilt für die quantitative Inhaltsanalyse, eine Methode, die zur inhaltlichen Auswertung großer Quellenmengen inhaltlichen Aspekte standardisiert in Zahlenwerte umwandelt.[14] Die quantifizierende Inhaltsanalyse ist jedoch Methode, nicht Theorie. Sie verfügt über keinen eigenen theoretischen Überbau, der die Beziehung von Medien und ihrem Entstehungshintergrund thematisiert.
Für den Bereich der Medienkulturwissenschaft schlägt Hickethier eine Unterscheidung nach „Sujetumfang“ vor: Sie reicht von „allgemeinen Medientheorien“ über „gesellschaftliche Medientheorien“, „Medientheorien, die die einzelnen Medien übergreifen“, „Einzelmedientheorien“, Theorien von „Mediensparten, -gattungen, -formaten (und anderen) bis hin zur Theorie einer einzelnen Sendung.[15] Verallgemeinerbare Theorien im Sinne der vorliegenden Untersuchung sind dabei nur bis zur Ebene der „Einzelmedientheorien“ zu erwarten.
Auf dieser Ebene operieren Liebrand u.a. wiederum mit einer Unterscheidung zwischen den für mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen ungeeigneten anthropozentrischen Ansätzen von McLuhan und seinen Interpreten und den gesellschaftsorientierten Theorien. Letzteren liegt die Idee zugrunde, das Kommunikation Gesellschaft konstituiert: Walter Benjamin (1934)[16] und Berthold Brecht (1932)[17] formulierten die Hoffnung, die gerade entstehenden Massenmedien könnten demokratisiert werden. Diese Idee wurde unter anderem durch Hans Magnus Enzensbergers „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ (1970)[18] nochmals aufgegriffen. Im Gegensatz zu dieser optimistischen Theorierichtung des „emanzipatorischen Mediengebrauchs“ erdachten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus und im Rahmen ihrer kritischen Theorie den Begriff der „Kulturindustrie“.[19] Ihre Kritik sieht die Medien als einen gleichgeschalteten, industriell produzierenden Verblendungsapparat – das Ende der wahren, hohen Kunst. Diese generalisierende Kritik entbehrte einer differenzierenden Analyse, was Umberto Eco 1964 dazu veranlasst hat, ihr einen neuen Medienbegriff entgegenzusetzen:[20] Massenmedien als kulturelle Vermittlungs- und Verbreitungsinstanzen, die eine vertiefte wissenschaftliche Analyse verdienen.[21] Dieser Anregung folgten mit Stuart Hall, John Fiske und anderen die Vertreter der in den 1970er Jahren in England entstandenen Cultural Studies (siehe Kapitel 1.4).
Sie integrierten zur Untersuchung Ansätze der Kultursemiotik, wie jener von Barthes[22], sowie das Diskurskonzept Foucaults[23]. Des Weiteren setzte sich Hall in seinem „encoding/decoding“-Modell mit den klassischen Ansätzen der Medienwirkungsforschung seiner Zeit auseinander: So lehnt er das Stimulus-Response-Modell und den Uses-and-Gratification-Ansatz[24], sowie die psychoanalytische Screen-Theorie[25] ab. Seine Kritik konzentriert sich dabei vor allem auf das Fehlen soziokultureller Einflussfaktoren und die simplifizierenden Annahmen zur Rezeption: Der reine Wirkungsansatz unterstellt, der Rezipient sei von der Medienbotschaft direkt manipulierbar; der Nutzenansatz hingegen unterstellt, der „Nutzer“ schriebe der Medienbotschaft relativ autonom eine Bedeutung zu.[26] Daher integriert Hall in der Konzeption der Wirkung auch sozialwissenschaftliche Ansätze.[27] Es handelt sich bei seinem Modell aber um mehr als eine kulturwissenschaftliche Wirkungstheorie, nämlich um einen den gesamten medialen Kommunikationsprozess umfassenden Ansatz. Außerdem ist es im Gegensatz zu den individualpsychologisch angelegten Wirkungstheorien so angelegt, dass die Analyseergebnisse gesellschaftlich verallgemeinert werden können.
Wie sich in den Kapiteln 1.3 und 1.4 zeigen wird, ist eine konstruktivistische Medientheorie hinsichtlich ihrer Grundannahmen zur Bedeutungsgenese im Individuum auf der Basis kulturellen Wissens voll und ganz zu den poststrukturalistischen Theorien der cultural studies kompatibel. Überlegungen zu Kognitions- und Erkenntnistheorie aus dem fachübergreifenden konstruktivistischen Forschungsdiskurs haben den Medienwissenschaften seit Mitte der 1980er Jahre neue Impulse geliefert. In der deutschen Medienforschung hat vor allem Siegfried J. Schmidt zur Integration konstruktivistischer Überlegungen in die Medientheorie beigetragen.[28] Daher werden seine Überlegungen darüber, wie Medien gesellschaftliche Realität vermitteln, am Anfang der theoretischen Argumentation dieser Arbeit stehen (siehe Kapitel 1.3). Zuvor werden die Einführungswerke noch auf eine einheitliche Mediendefinition untersucht, die immer noch ein Desiderat der Medienwissenschaftlichen Forschung darstellt.
1.2 Medium und Medialität – Einige Grundannahmen
Was ist ein Medium? Der Begriff in seiner Allgemeinheit kennt naturwissenschaftliche, spiritistische, soziologische und viele andere Bedeutungen. Was heute umgangssprachlich „Medien“ genannt wird, meint eine spezifische Form der Mittlerfunktion, nämlich von Kommunikation, die Information beinhaltet. Die genaue medienwissenschaftliche Definition ist jedoch fachintern höchst umstritten bzw. in der Vergangenheit nur unscharf erfolgt.[29] Eine andere Definition liefert Hickethier. Er geht von einem Medienbegriff aus, der
„die Medien der individuellen und gesellschaftlichen Kommunikation in den Vordergrund stellt. Medien und Kommunikation werden in einem engen Zusammenhang gesehen. Kommunikation bedient sich immer eines Mediums. Die Menschen, die miteinander kommunizieren, verwenden dabei Zeichen, die mit Bedeutungen in Verbindung stehen. Kommunikation ist wiederum Vorraussetzung dafür, dass die Menschen Vorstellungen erzeugen und dass Wissen entsteht“.
Dabei betont er den gesellschaftlich institutionalisierten Charakter von Medienkommunikation, wobei es informelle Konventionen (Sprache, Literatur, Musik) oder formelle Organisationen (Telefon, Fernsehen, Presse, Radio) sein können, die die Existenz des Mediums entscheidend bedingen.[30] Faulstich konzipiert mehrere Dimensionen des wissenschaftlichen Medienbegriffs: Medien sind Vermittler zwischenmenschlicher Kommunikation, sie besitzen (meist technische) Übertragungswege, ihnen ist ein bestimmtes Zeichensystem zugeordnet (z.B. Schrift, Bild und Ton), es handelt sich um Organisationen und sie sind historischen Veränderungen unterworfen.[31] Nimmt man den gemeinsamen Nenner dieser Minimaldefinitionen, wird deutlich, dass die Vermittlung individueller und gesellschaftlicher Kommunikation für den wissenschaftlichen Medienbegriff entscheidend ist. Hinzu kommt als spezifische Eigenschaft des Massen-Mediums, dass eine Multiplikation der übermittelten Botschaft stattfindet, sich also die Zahl der potentiellen Empfänger wesentlich höher liegt, als die der Kommunikatoren. Gleichzeitig sind die Kommunikationswege asymmetrisch: Die beiden denkbaren Richtungen des Kommunikationsvorgangs werden systembedingt (fast) nur einseitig genutzt.
1.3 (Massen)Medien und Gesellschaft: Gesellschaftliche „Realität“ ist Medienrealität
Konstruktivismus ist ein wissenschaftlicher Diskurs vieler Disziplinen und Theorien, der unter anderem einige gemeinsame Überlegungen darüber hervorgebracht hat, wie Menschen die „Realität“ wahrnehmen. Erkenntnisziel ist dabei, die größtenteils unbewussten Prozesse, die Wirklichkeitsentwürfe entstehen lassen, sowie ihre biologischen, kognitiven und sozialen Bedingungen zu entschlüsseln. Folgerichtig stellt sich hier die Frage nach einer objektiven Realität außerhalb von subjektiver Wahrnehmung, intersubjektiver Kommunikation über das Wahrgenommene und somit auch sozial ausgehandelter Wirklichkeitskonstruktion nicht, da außerhalb der vorhandenen Sinne, sowie der Sprach- und anderen Zeichenstrukturen keine für das kognitive System des Individuums zugänglichen Signale existieren. Die vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit „ist subjektabhängig, aber nicht subjektiv im Sinne von willkürlich“, denn es passiert eine sich selbst organisierende „gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit im Individuum“.[32]
Basis dieses Konstruktionsprozesses ist Kommunikation durch intersubjektiv geteilte Symbolsysteme wie Sprache und visuelle Zeichen, also Systeme kollektiven Wissens, die als Kultur definiert werden können. Dieses Wissen wiederum ist Grundlage einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Kommunikationskultur, die auch kollektive Erwartungs- und Interpretationssysteme wie beispielsweise Konnotationen oder Konzeptionen von Rationalität entstehen lässt. Solche Schemata können die soziale Konstellation der Kommunikation, die technischen Vorraussetzungen oder eben inhaltliche Varianten verschiedener Reichweite sein.[33] Kultur wird somit als „Programm zur gesellschaftlich relevanten Produktion und Interpretation von Phänomenen“ gedacht. Das bedeutet, dass Gesellschaft durch Wirklichkeitsmodelle konstituiert wird, die gesellschaftlich verbindlich ausgehandelt werden. Diese „Kultur“ wird gleichzeitig beständig im Individuum mit eigenen Sinnkonstrukten abgeglichen und durch unterschiedliche Vorraussetzungen variierend interpretiert.[34] Der Forschende, der sich mit diesen Sinnkonstrukten beschäftigt, blickt auf die Symptome dieses Vorganges:
„Dieses kulturelle Wissen wird beobachtbar und beschreibbar in Form symbolischer Ordnungen (wie zum Beispiel Schemata, Grammatiken, Erzählmuster, Diskurse, Stilistiken), in geprägten Ereignissen (Riten, Zeremonien), in Objekten (Kunstwerken, Gerätschaften) in Mythen, Religionen, Theorien, usw“.[35]
Medien sind in diesem Produktionsprozess von sinnhafter Wirklichkeit als Vermittler von Kommunikation und somit des Aushandelns intersubjektiver Bedeutungen bedeutsam. Massenmedien besitzen eine asymmetrische Übermittlungsstruktur (vgl. 1.2), die eine gleichzeitige und vielfach potenzierte, dabei aber äquivalent asymmetrische Bedeutungsaushandlung bewirkt. Schmidt schreibt dem Fernsehen ein besonders großes Potential als Instrument der Wirklichkeitskonstruktion zu: Seine visuelle Form knüpft an die Wahrnehmungserfahrung der Authentizität des eigene Sehens an, basiert jedoch seinerseits bereits auf einer sozialen Konstruktionsleistung, so dass eigene Wahrnehmung und soziale Konstruktion von Wirklichkeit nicht mehr zu trennen sind. Vorauszusetzen ist dabei, dass das Medium nichts kommuniziert, das den subjektiv bereits vorhandenen Erfahrungen völlig widerspricht. Seine Hypothese besagt daher, dass„[…] die Medien – alle Medien – als Instrumente kognitiver wie kommunikativer Wirklichkeitskommunikation bereitstehen und genutzt werden“.[36] Dies impliziert jedoch nicht, dass Medien automatisch aktiv manipulieren: Vielmehr werden ihre Kommunikationsangebote zur individuellen und sozialen Wirklichkeitsgenese genutzt. Aus dieser Perspektive gibt es keinen Unterschied mehr zwischen medial erzeugter Realität und einer Realität des „echten“ Lebens: „Wirklichkeit ist in einer von Massenmedien geprägten Gesellschaft also zunehmend das, was wir über Mediengebrauch als Wirklichkeit konstruieren, dann daran glauben und entsprechend handeln und kommunizieren“.[37]
[...]
[1] Vgl. Knut Hickethier: Geschichte des deutschen Fernsehens, Weimar 1998, S. 200-202.
[2] Vgl. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart / Weimar 2003, S. 12f.
[3] Günter Riederer: Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung, in: Gerhard Paul: Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 96-113, hier S. 101f.
[4] So zum Beispiel in Thomas Lindenberger (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln / u.a. 2006.
[5] Vgl. für eine kursorische Reflektion zum Beispiel: Irmgard Wilhelm: Filme mit Botschaft und kollektive Mentalitäten, in: Dies.: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006, S. 149-170, hier S. 151f.
[6] Vgl. Reinhard Margreiter: Realität und Medialität. Zur Philosophie des ‚Medial Turn’, in: Medienjournal 23 (1999), Heft 1, S. 9-18.
[7] Hier wird im Folgenden trotz der disziplinären Trennung von einem allgemeinen „medienwissenschaftlichen“ Zugang gesprochen werden, dessen gemeinsamer Nenner in der Beschäftigung mit massenmedialen Inhalten und Funktionsweisen liegt. Vgl. hierzu Werner Faulstich: Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme – Methoden – Domänen, München 2002 (=UTB 2407), S. 52-55.
[8] Jügen Wilke: Massenmedien und Zeitgeschichte aus der Sicht der Publizistikwissenschaft, in: Ders. (Hrsg.): Massenmedien und Zeitgeschichte, Konstanz 1999 (=Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 26), S.19-31, hier S. 28.
[9] Vgl. z.B. Thomas Lindenberger: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Massenmedien im Kalten Krieg. Akteure, Bilder, Resonanzen, Köln / u.a. 2006 (=Zeithistorische Studien, Bd. 33), S. 9-24, hier S. 18.
[10] Vgl. Hickethier: Einführung, S. 6-8; sowie Faulstich: Einführung, S. 52-57, sowie S. 74-76.
[11] Vgl. Gebhardt Rusch: Medienwissenschaft als transdisziplinäres Programm, in: Ders. (Hrsg.): Einführung in die Medienwissenschaft. Konzeptionen, Theorien, Methoden, Anwedungen, Wiesbaden 2002, S. 69-83, hier S. 75-79.
[12] Vgl. Siegfried J. Schmidt: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist 2000, S. 72-75.
[13] Vgl. Faulstich: Einführung, S. 247-260, sowie S. 280-298.
[14] Zur genaueren Methodik siehe Patrick Rössler: Inhaltsanalyse, Konstanz 2005.
[15] Vgl. Hickethier: Einführung, S. 374f.
[16] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002 (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1601), S. 351-383.
[17] Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktionen des Rundfunks, in: Werner Hecht / Marianne Conrad (Hrsg.): Werke. Schriften 1914-1933, Frankfurt a.M. / Berlin 1992 (= Bertolt Brecht: Werke, Bd. 21), S. 552-557.
[18] Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Ders.: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München 1997, S. 97-132.
[19] Theodor W. Adorno / Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Hamburg / u.a. 1947.
[20] Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M. 1984.
[21] Vgl. den Überblick aller genannten Theorien bei Lorenz Engell / Lisa Gotto: Gesellschaftsorientierte Medientheorien, in: Claudia Liebrand, / u.a. (Hrsg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster 2005 (=Einführungen: Kulturwissenschaft, Bd. 1), S. 99-114.
[22] Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a.M. 1979.
[23] Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, München 1974.
[24] Vgl. Karsten Renckstorf: Alternative Ansätze der Massenkommunikationsforschung: Wirkungs- vs. Nutzenansatz, in: Rundfunk und Fernsehen 21 (1973), S. 183-197.
[25] Zur Screen-Theorie vgl. Jaques Lacan: Schriften, Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70, zit. nach Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen / Wiesbaden 1999, S.292.
[26] Vgl. Renckstorf: Massenkommunikationsforschung, S. 183-197.
[27] Vgl. Hepp: Medienanalyse, S.110f.
[28] Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 4., akt. u. erw. Aufl., Stuttgart 2007, S. 10f.
[29] Vgl. Faulstich. Einführung: S. 19-21. Insbesondere an den begrifflichen Unschärfen McLuhans übt Faulstich heftige Kritik.
[30] Vgl. Hickethier: Einführung, S. 20, Zit. ebd.
[31] Vgl. Faulstich. Einführung: S. 23f.
[32] Vgl. Schmidt: Faszination, S.13-21, sowie S. 23; sowie Ders.: Die Wirklichkeit des Beobachters, in: Klaus Merten / Siegfried J. Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 3-19, hier S. 3-10, Zit. beide S. 10.
[33] Vgl. Schmidt: Faszination, S. 24-32.
[34] Vgl. ebd., S. 39-41, Zit. S. 34.
[35] Siegfried J. Schmidt: Konstruktivismus in der Medienforschung, in: Klaus Merten / Siegfried J. Schmidt / Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S.592-623, hier S. 600.
[36] Vgl. Schmidt: Wirklichkeit, S. 14-19, Zit. S. 17.
[37] Vgl. Schmidt: Faszination, S. 44f., Zit. S. 41.