In der Geschichtswissenschaft werden die 1970er-Jahre momentan vor allem als Jahrzehnt der Krisen verstanden.
Die Wahrnehmung einer – wie auch immer gearteten – Krise der Politik hat sich auch im politikwissenschaftlichen Diskurs in der Diagnose der „Unregierbarkeit“ niedergeschlagen. Die Debatte hatte ihren zeitlichen Schwerpunkt zwischen 1970 und 1980. Die Frage, ob westliche Demokratien dabei sind, ihre „Regierbarkeit“ einzubüßen, sei nicht nur in der deutschen Politikwissenschaft, sondern auch unter Fachvertretern in Westeuropa und den USA diskutiert worden. Gleichzeitig stünden hinter dem Begriff verschiedenste Definitionen und Interpretationen, die grob nach politischen Lagern – kapitalismuskritische Linke und Konservative – eingeteilt werden könnten. Die Bedrohung staatlicher Autorität, vor allem in Fragen der sittlichen Normen, durch gesellschaftlichen Widerstand sei der zentrale Topos der konservativen Autoren wie Wilhelm Hennis gewesen.
Um ein differenziertes Bild der Debatte zeichnen zu können, soll in der vorliegenden Arbeit ein Ausschnitt des konservativen Diskurses betrachtet werden, nämlich einige Beiträge aus den zentralen Sammelbänden, herausgegeben von Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmannsegg und Ulrich Matz. Die Autoren beziehen sich außerdem auf westliche Demokratien allgemein.
Die Auswahl und Vorgehensweise soll einen Vergleich zwischen den Positionen der Akteure ermöglichen. Die Schwerpunkte der inhaltlichen Analyse sollen jeweils auf der Definition von (Un-)Regierbarkeit liegen, weiterhin auf den durch die Autoren wahrgenommenen Indizien und ihrer Interpretation, der Diagnose und ihrer zeitlichen Verortung in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sowie den vermuteten Ursachen.
Sehen die betrachteten Autoren als Ursachen der diagnostizierten (drohenden) Unregierbarkeit kurzfristige Krisensymptome politischer und sozioökonomischer Art beziehungsweise mittelfristige gesellschaftliche Wandlungen an, oder längerfristigere Tendenzen, die sich nicht im Sinne einer reinen Gegenwartsdiagnose der krisenhaften 1970er interpretieren lassen?
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
1 Der deutsche Unregierbarkeitsdiskurs – ein Überblick
2 Die konservative Unregierbarkeitsdiagnose
2.1 Wilhelm Hennis: Der Verlust staatlicher Transzendenz
2.2 Ulrich Matz: Der Staat und säkularisierter Heilsansprüche
2.3 Kurt Eichenberger: Der bedingt machbare Ausbau der Staatsaufgaben
2.4 Peter Graf Kielmansegg: Demokratieprinzip und Einstellungswandel
Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
In der Geschichtswissenschaft werden die 1970er-Jahre momentan vor allem als Jahrzehnt der Krisen verstanden: Gleich ob es sich um die ökonomischen Kennzahlen der Volkswirtschaft handelt, das Ende des optimistischen Blicks in die Zukunft auf mentalitäts- und geistesgeschichtlicher Ebene, oder das Auftreten des linken Terrorismus als Herausforderung für das staatliche Gewaltmonopol – „Krise“ und „Zäsur“ sind die bevorzugten Interpretamente, nicht nur für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in europäischer Perspektive. Der inflationäre Gebrauch mag begründet sein, dennoch droht er den Blick für die Unterschiede, für die Zusammenhänge, aber auch für ihr Fehlen zu verschleiern. Die Rede von der Krise bedarf einer Differenzierung, die nur durch eng begrenzte Fallstudien möglich ist. Eine Unterscheidung zwischen strukturellen und von den Zeitgenossen wahrgenommenen Krisensymptomen ist daher grundlegend. Wie Konrad Jarausch dargelegt hat, geben auch die noch spärlichen Erkenntnisse über die Geschichte der Bundesrepublik in den 1970ern Anlass zu der Annahme, dass sowohl den ökonomisch-strukturellen, als auch den intellektuellen Krisensymptomen gleichzeitig neue Entwicklungen gegenüberstanden. Die Krisenwahrnehmung habe vor allem den Bereich der Problemlösungskompetenz der Politik betroffen.[1]
Die Wahrnehmung einer – wie auch immer gearteten – Krise der Politik hat sich auch im politikwissenschaftlichen Diskurs in der Diagnose der „Unregierbarkeit“ niedergeschlagen. Die Debatte hatte ihren zeitlichen Schwerpunkt zwischen 1970 und 1980 . Bislang wurde dieser Diskurs nur von Gabriele Metzler detailliert untersucht, sowie in den Kontext der allgemeinen Vorstellungen von politischem Handeln und seiner Reichweite gesetzt. Die Frage, ob westliche Demokratien dabei sind, ihre „Regierbarkeit“ einzubüßen, sei nicht nur in der deutschen Politikwissenschaft, sondern auch unter Fachvertretern in Westeuropa und den USA diskutiert worden. Gleichzeitig stünden hinter dem Begriff verschiedenste Definitionen und Interpretationen, die grob nach politischen Lagern – kapitalismuskritische Linke und Konservative – eingeteilt werden könnten. Die Bedrohung staatlicher Autorität, vor allem in Fragen der sittlichen Normen, durch gesellschaftlichen Widerstand sei der zentrale Topos der konservativen Autoren wie Wilhelm Hennis gewesen.[2]
Metzler interpretiert diese Unregierbarkeitsdebatte als zeitgenössische Deutung eines breiten Spektrums von als einschneidend wahrgenommenen ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen. Die implizite Annahme, die Funktionsfähigkeit der westlichen Demokratien sei eng mit ihrem ökonomischen Erfolg verknüpft (und umgekehrt),so Metzler, habe angesichts der zu Beginn der 1970er erstmals deutlich gesunkenen Wachstumsraten etablierte Orientierungsmuster wie Keynesianismus (international) und ähnliche politische Steuerungshoffnungen (in der BRD) diskreditiert. Dies habe ein Bedürfnis nach einer gemeinsamen Positionsbestimmung der westlichen Gesellschaften sowohl gegenüber dem kommunistischen Modell, als auch dem der Form nach neuartigen offenen sozialen Protest von links geweckt. Daneben seien eine Reihe weiterer neuer Erfahrungen, wie internationale Interdependenzen, Terrorismus, Pluralisierung der Wertvorstellungen und – vor allem in der Bundesrepublik – ein Wandel des gesellschaftlichen Staatsverständnisses von einer idealen zu einer rein funktionalen Perspektive zu verarbeiten gewesen.[3]
Die Betrachtung der „Konzeptionen politischen Handelns“ in der Bundesrepublik zwischen 1957 und ca. 1973 setzt diese Analyse des politikwissenschaftlichen Diskurses in Perspektive: Im Wechselspiel zwischen politischem, sozialwissenschaftlichen und öffentlichem Diskurs ausgehend von der keynesianischen Wirtschaftssteuerung sei im Verlauf der 1960er Jahre ein System wissenschaftlicher Politikplanung entstanden, das sozioökonomische Krisen verhindern und gleichzeitig gesellschaftliche Teilhabe sicherstellen sollte. Im Zuge dieser versuchten Rationalisierung habe sich auch das Staatsverständnis gewandelt: Staat und Gesellschaft seien nicht länger als getrennt angesehen worden, der Staat habe damit gleichzeitig seine übergeordnete Stellung verloren.[4] In dieser Perspektive erscheint die Unregierbarkeitsdebatte nur als Ausdruck der an der Realität zerbrochenen allgemeinen Planungseuphorie und damit eines spezifischen Mentalitätswechsels in der politischen Öffentlichkeit. Allerdings bleibt Metzler letztlich den Beweis für die breite öffentliche Rezeption dieser eigentlich genuin politikwissenschaftlichen Debatte letztlich schuldig.[5]
Die zeitgenössischen Diskurse stellt sie in allen Arbeiten als durch eine spezifische Wahrnehmung von strukturellen Gegebenheiten beeinflusst dar. Diese strukturellen Gegebenheiten, wie Wirtschaftsdaten, Ereignisse der Zeitgeschichte, Strukturwandel und ähnliches in dieser Form als „historische Wahrheiten“ zu behandeln, ist jedoch eine zumindest fragwürdige Vorgehensweise, da sie ebenfalls nur durch Quellen vermittelt zugänglich sind und der wechselhaften intersubjektiven Interpretation der Historiker unterliegen. Interpretamente wie der auch bei Metzler zitierte „Wertewandel“ sind keine „handfesten Tatsachen“, die die Autoren wahrgenommen haben, sondern zunächst einmal zeitgenössische Deutungsversuche, die noch dazu ebenfalls der sozialwissenschaftlichen Debatte entstammen, wenngleich sie in der aktuellen historischen Forschung ebenfalls akzeptiert werden. Gleichzeitig zeichnet sie durch das abstrakte diskursanalytische Vorgehen ein undifferenziertes Bild der Unregierbarkeits-Debatte, das letztlich über eine grobe Dichotomie Links-Konservativ nicht hinausreicht.
Ein politikwissenschaftlicher Diskurs kann jedoch nicht nur hinsichtlich seines gesellschaftlichen Bezugs untersucht werden, sondern auch in bestimmte Denktraditionen des Faches eingeordnet werden. Während eine – selektiv betriebene, auf wenige Klassiker beschränkte – Ideengeschichte des politischen Denkens fester Bestandteil der Fachtradition ist, habe die Politikwissenschaft in Deutschland erst 1985 begonnen, sich der Nachkriegsgeschichte des eigenen Faches bewusst zu werden.[6] Vor allem biographische, institutionengeschichtliche und allgemein wissenssoziologische Ansätze seien hier auszumachen.[7] Eine über Institutionen- und Gelehrtengeschichte hinausweisenden inhaltlichen Ansatz bieten nur Jörg Ernst und Jürgen Hartmann. Mit seiner Untersuchung politikwissenschaftlicher Einführungswerke dokumentiert Ernst den Wandel des methodologischen und thematischen Fachkonsenses. Er schlägt eine empirisch durch ihn validierte Unterscheidung in „normativ-ontologische“, „empirisch-analytische“ und „kritisch-dialektische“ Ansätze vor, die sich an den jeweiligen wissenstheoretischen und methodologischen Prämissen der Autoren bzw. ihrer geistigen „Schulen“ orientieren.[8] [Hartmann][9] Generell fehlt es im Bereich der Geschichte der Politikwissenschaft an Arbeiten, die auch konkrete Debatteninhalte berücksichtigen. Eine konkrete Erwähnung des Unregierbarkeitsdiskurses findet sich in keinem der Werke, sieht man von einer kurzen biographischen Skizze über Wilhelm Hennis ab.[10]
Um ein differenziertes Bild der Debatte zeichnen zu können, soll in der vorliegenden Arbeit nur ein Ausschnitt des konservativen Parts dieses Diskurses betrachtet werden, nämlich einige Beiträge aus den zentralen Sammelbänden, herausgegeben von Wilhelm Hennis, Peter Graf Kielmannsegg und Ulrich Matz. Dabei wird dem ersten, 1977 erschienenen Band der Vorzug gegeben, da er sich der allgemeinen Fragestellung der Regierbarkeit der westlichen Demokratien widmet, wohingegen Band 2 vor allem historische Beispiele, einzelne Länder und spezifischen Politikfelder untersucht. Einen umfassenden Ansatz haben vor allem der einleitende Beitrag von Wilhelm Hennis, die beiden Beiträge von Ulrich Matz und Kurt Eichenberger über Staatsziele und –aufgaben, sowie der Beitrag von Peter Graf Kielmansegg über das Demokratieprinzip. Die Autoren beziehen sich außerdem auf westliche Demokratien allgemein. Die Auswahl und Vorgehensweise soll auch einen Vergleich innerhalb der Debatte zwischen den Positionen ihrer Akteure ermöglichen. Die Schwerpunkte der inhaltlichen Analyse sollen jeweils auf der – keineswegs innerhalb der politischen Lager einheitlichen – Definition von (Un-)Regierbarkeit liegen, weiterhin auf den durch die Autoren wahrgenommenen Indizien und ihrer Interpretation, der Diagnose und ihrer zeitlichen Verortung in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sowie den vermuteten Ursachen.
Dies ergibt erstens Aufschluss darüber, ob sich der betrachtete Ausschnitt des konservativen Diskurses einheitlich darstellt, oder aber die Wahrnehmungen und Interpretationen sich deutlich unterscheiden und eine generalisierende Perspektive, wie Metzler sie wählt, schlimmstenfalls diskreditieren, weil die Autoren nicht von den selben Vorraussetzungen ausgehen. Weiterhin können Aussagen darüber getroffen werden, welche gesellschaftlichen Entwicklungen und Ereignisse wie wahrgenommen wurden. Es ist – wie oben dargelegt – nicht ausreichend, die Debattenbeiträge als Reaktion auf Ereignisse, als reinen reaktiven Deutungsversuch zu konzipieren: Nicht zuletzt die Auswahl der Indizien wird durch bereits vorhandene Deutungskonzepte bestimmt, was gegebenenfalls durch einen kursorischen Verweis auf die vorangegangene Forschungsarbeiten des jeweiligen Autors oder durch Sekundärliteratur belegt werden kann. Deshalb sollen die Wahrnehmungen und ihre Deutungen vor allem hinsichtlich ihrer argumentativen Binnenlogik untersucht werden. Die Leitfrage lautet, in idealisierten Kategorien formuliert: Sehen die betrachteten Autoren als Ursachen der diagnostizierten (drohenden) Unregierbarkeit kurzfristige Krisensymptome politischer und sozioökonomischer Art beziehungsweise mittelfristige gesellschaftliche Wandlungen an, oder längerfristigere Tendenzen, die sich nicht im Sinne einer reinen Gegenwartsdiagnose der krisenhaften 1970er interpretieren lassen?
1 Der deutsche Unregierbarkeitsdiskurs – ein Überblick
Die Frage, ob westliche Demokratien dabei sind, ihre „Regierbarkeit“ einzubüßen, sei nicht nur in der deutschen Politikwissenschaft, sondern auch unter Fachvertretern in Westeuropa und den USA diskutiert worden, so Gabriele Metzler. Gleichzeitig stünden hinter dem Begriff verschiedenste Definitionen und Interpretationen, die grob nach politischen Lagern – kapitalismuskritische Linke und Konservative – eingeteilt werden könnten. Die linke Debatte in der BRD um Claus Offe und Jürgen Habermas habe den spätkapitalistischen Staat durch seinen Grundkonflikt zwischen Arbeit und Kapital in einer dauerhaften, systembedingten Legitimationskrise gesehen, die er durch Ausweitung der Kompensationsleistungen und damit der staatlichen Einmischung in die Gesellschaft zu kontrollieren suchte, was wiederum neue Legitimationsprobleme erzeugt habe. Der Versuch der Legitimierung seines Handelns müsse den Staat also schlussendlich überfordern und konnte ihm nur in der Prosperitätsphase der Nachkriegszeit ansatzweise befriedigend gelingen. Die US-Amerikanische linke Debatte habe bei grundsätzlich gleicher Argumentation noch stärker die einhergehende fiskalische Selbst-Überforderung des Staates betont.[11]
Die von Metzler als liberal bzw. neo-konservativ beschriebene Denkrichtung in den USA habe in erster Linie den schwindenden gesellschaftlichen Konsens und die damit einhergehende Diversifizierung der Interessen als Ursache für die Überforderung des Staates ausgemacht: Die wachsende Anzahl von Akteuren und ihre immer stärker divergierenden Ansprüche an den Staat würden sein Leistungspotential übersteigen, da es immer schwerer werde, gemeinsame Ziele zu formulieren. Diese Diagnose sei von der konservativen Strömung der deutschen Politikwissenschaft geteilt worden, aber mit deutlich anderer Schwerpunktsetzung. Die Bedrohung staatlicher Autorität, vor allem in Fragen der sittlichen Normen, durch gesellschaftlichen Widerstand sei der zentrale Topos der konservativen Autoren gewesen, die unter Federführung Wilhelm Hennis’ die beiden in der vorliegenden Arbeit in Auszügen untersuchten Sammelbänder verfassten. Fritz Scharpf hingegen habe den diagnostizierten Verlust der Handlungsfähigkeit als Folge des gescheiterten Versuchs interpretiert, Politikergebnisse zu planen und zu steuern.[12] Dabei blendet Metzler in ihrer Analyse bei beiden politischen Richtungen aus, ob sich eine Richtung der Einflussnahme im Sinne eines Vorbildcharakters zwischen den verschiedenen nationalen Forschungsdiskursen in Westdeutschland, den USA und den anderen Ländern Westeuropas feststellen lässt. Die Erscheinungszeitpunkte der jeweiligen Studien lassen darauf schließen, dass die Diskurse in allen Ländern nahezu gleichzeitig geführt wurden.
Wie haben sich die beiden „Schulen“ des Unregierbarkeitsdiskurses in Deutschland zueinander verhalten? Die linke Debatte hat auf ihren konservativen Widerpart mit einer gewissen Irritation reagiert, während in umgekehrter Richtung im hier behandelten Sammelband keine entsprechende Rezeption der linken Debatte zu verzeichnen ist. Claus Offe zeigte sich erstaunt darüber, dass der politische Widerpart trotz ideologischer Gegensätze eine hinsichtlich Symptomen und Verlaufsmustern übereinstimmende Krisenwahrnehmung aufweisen würde. Insbesondere in Auseinandersetzung mit den Thesen aus Hennis’ einleitenden Bemerkungen in Band 1 von „Regierbarkeit“ versucht er, die Unterschiede zu verdeutlichen: Im Gegensatz zu den „konservativen“ Fachvertretern sähen die linken Theorien in der Krise nicht nur einen „Störfall“, bedingt durch gesellschaftliche Modernisierungstendenzen und lösbar durch ihre teilweise Rücknahme. Vielmehr solle man den „Störfall“ als Hinweis auf grundlegende Fehler des gesamten Gesellschaftssystems ansehen, die es letztlich zu korrigieren gelte.[13] Offe grenzt sich also vor allem über die Vorschläge zur Überwindung der Krise von der konservativen Debatte ab, indem er wiederum betont, die Ordnung von Politik und Wirtschaft (Kapitalismus), nicht aber Werte und Ansprüche der Gesellschaft seien hierzu zu modifizieren.
2 Die konservative Unregierbarkeitsdiagnose
2.1 Wilhelm Hennis: Der Verlust staatlicher Transzendenz
Hennis benennt im Verlauf seiner Argumentation mehrmals Aspekte der (Un-)Regierbarkeit, ohne eine konsistente Definition anzubieten. Regierbarkeit in negativer Bestimmung bedeute keinesfalls, Entscheidungen reibungslos implementieren zu können, da „Regieren“ immer problembehaftet sei: „Politik, Regieren ist das Bohren harter, dicker Bretter“.[14] Regierbarkeit, so formuliert er an anderer Stelle, heiße, die Bedingungen des Regierens bestimmen zu können. Unregierbarkeit im Sinne der Nicht-Regierbarkeit sei nichts anderes als „Anarchie“ – ein Tatbestand, dessen Dramatik sich für Hennis nur unzureichend in den gängigen Termini sozialwissenschaftlicher und vor allem systemtheoretischer Schriften widerspiegelt. Er bietet keine Vorschläge an, wie Regierbarkeit empirisch zu messen ist, nicht zuletzt, weil er die Kategorie für als internationales Vergleichskriterium ungeeignet hält. Anwendbar sei der Begriff nur auf westliche Demokratien: Postkoloniale Staaten kämpften mit anders gelagerten Problemen der Staatswerdung, kommunistische Staaten verfügten über völlig andere Instrumente des Regierens.[15]
Hennis’ grundsätzliche Diagnose ist, dass das Regieren in den westlichen Demokratien tatsächlich schwieriger geworden sei (von unmöglich ist im Bezug auf die aktuelle Situation nicht die Rede), da in der Gesellschaft „fast alles mit allem zusammenhängt“, denn fast überall seien politische Instanzen mitverantwortlich. Die unter dem Signum des Wohlfahrtsstaates durch die Parteienkonkurrenz erweiterten Aufgaben würden zwar mit einem historisch einmalig ausgefeilten „Instrumentarium“ ausgeübt, es bleibe dennoch der Eindruck eines „tönernen Riesen“, der vor Kraft nicht Laufen könne: „Wie schwer fällt es ihm immer wieder, das Notwendige, das von allen als notwendig Erkannte, möglich zu machen“.[16] Weitere, konkretere Indizien, um die Diagnose eines „schwerregierbaren“ Staates zu rechtfertigen, nennt Hennis nicht. Hennis nennt verschiedene Ursachen, die sich als einerseits zwischenstaatliche, andererseits als anthropologische bezeichnen lassen. Die Rahmenbedingungen des Regierens, deren Kontrollierbarkeit Bedingung für Regierbarkeit sei, hätten sich jedoch in mehrfacher Hinsicht geändert: Erstens könne der Staat angesichts der Bedrohung der ganzen menschlichen Gattung durch einen atomaren Krieg seine klassische Schutzfunktion nicht mehr erfüllen. Zweitens falle, nicht nur was die äußere Sicherheit angeht, die territoriale Grenze des Handelns weg, verschiedenartige Probleme könnten importiert werden. Als Beispiele nennt Hennis ökologische Probleme, Terror und Stellvertreterkriege. Damit würden klassische Staatsprinzipien wie Autarkie und Souveränität obsolet. Ebenso beweise die Ölkrise, dass die ökonomische Vernetzung das Ende der ökonomischen Kalkulierbarkeit bedeute. Der wichtigste Faktor dieser supranationalen Rahmenbedingungen sei der Verlust des jeweils eigentümlichen Staatsgedankens der einzelnen Länder, der früher Aufgabe und Anspruch der Politik gewesen sei. Nun aber, mit dem schlussendlichen Wegfall jeglicher Zensur habe man Freiheit aller Meinungen erreicht.[17]
Die folgenreichste Veränderung der Rahmenbedingungen sei jedoch die des Menschen selbst: Mit dem Wegfall der Religion habe man die Transzendenz und die Vorstellung des unbeeinflussbaren Schicksals verloren. Die Klassiker der politischen Philosophie seien tatsächlich immer auch politisch-theologische Schriften gewesen, die keine staatliche Ordnung ohne „religion civile“ denken konnten. Worin sieht Hennis die Bedeutung der Religion? Sie habe eine das Zusammenleben „gesichert und reproduziert“. Die religiösen Vorstellungen implizieren sowohl sittliche Normen, als auch ein spezifisches Bild des menschlichen Wertes, von dem die Schutzfunktion des Staates abhänge: Ohne es drohe das Regieren in Gewalt umzuschlagen, das „spezifisch abendländische“ Regieren, dass auf Wort, Gespräch, Rat und Überzeugung freier Menschen setzt, sei dadurch bedroht.[18] Offenbar versucht Hennis über die Betonung eines abendländischen Konsenses einen Gegensatz zu den totalitären Staaten des Ostens, zu konstruieren. Diesen Schluss legen sowohl die dem spezifisch abendländischen Regieren zugeschriebenen Attribute nahe, als auch ihre Verknüpfung mit dem gewalttätigen Regieren als rhetorischem Widerpart. Aus dieser Bedeutung der Religion für eine funktionierende Gesellschaft leitet Hennis ab, dass der Staat deren Werte sichern sollte. Obgleich er zunächst einen überindividuellen Säkularisierungsprozess konstatiert, wird er nun konkreter: Dem Staat werde in der Gegenwart erstmals „von jedem, der glaubt, auf der Seite des Fortschritts zu stehen“ abgesprochen, für die sittlichen Normen zuständig zu sein. Diese transzendenten Kategorien fielen weg, übrig bleibe der Staat als reiner Dienstleister, der nur absolut konsensfähige Themen entscheiden könne. Wenn aber dieser so profan wahrgenommene Staat etwas von seinen Bürgern fordern müsse, oder auch nur die Leistungen nicht wie erwartet bereitstellen könne, drohe sofort die Krise – darin liege die Gefährdung der Regierbarkeit. Denn die Demokratie an sich, befreit von den assoziierten Staatsvorstellungen, die Hennis als „transzendent“ bezeichnet, legitimiere zwar den Willen des Volkes, aber gebe ihm kein Ziel oder Inhalt. Gleichzeitig werde die Psyche ohne Religion oder Werte des Menschen formbar und bedürfte erst recht bestimmender Faktoren von außen.[19]
Hennis äußert sich pessimistisch, ob die nötige Einsicht in die Zusammenhänge und Sachzwänge bei Regierungen und Regierten rechtzeitig einsetzt. Gleichzeitig sieht er die Situation prinzipiell durch menschliches Handeln bestimmt, wo somit auch ein Ansatzpunkt zur Änderung durch Einsicht oder Zwang liege. Damit setzt er sich gleichzeitig von den so genannten „Utopien“ des neuzeitlichen politischen Denkens ab und von jenen, die Unregierbarkeit als sozialtechnischen Defekt verstehen: Nicht von gesellschaftlichen Strukturen und Interaktionen hänge die Regierbarkeit ab, sondern von den Bürgern, genauer von den Rechten und Grenzen, die sie dem Staat zugestehen: „Freiheitliche Politik gewährt in den Formen des Rechts die Kompetenz zur Erzwingung des Gehorsams“.[20] Und um die nahenden Herausforderungen zu meistern bedürfe es, wie Hennis ohne weiteren Beweis für diese These postuliert, „ein ganz ungewöhnliches Maß an Disziplinierung, Energie und Zucht“.[21]
[...]
[1] Vgl. Konrad H. Jarausch: Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9-26, hier S. 12-18.
[2] Vgl. Gabriele Metzler: Staatsversagen und Unregierbarkeit in den siebziger Jahren?, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 243-260, hier S. 244-248.
[3] Vgl. Metzler: Unregierbarkeit, S. 248-252
[4] Vgl. Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u.a. 2005, S. 419-424.
[5] Vgl. ebd., S. 404-411.
[6] Vgl. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 416.
[7] Vgl. Wilhelm Bleek: Aspekte der Wissenschaftsgeschichte, in: Hans J. Lietzmann / Wilhelm Bleek (Hrsg.): Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa, München / Wien 1996, S. 21-37., hier S. 25-33.
[8] Vgl. Jörg Ernst: Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung ihres Selbstverständnisses im Spiegel der Einführungswerke, Münster 1994, S. 13.
[9] Vgl. Jürgen Hartmann: Geschichte der Politikwissenschaft. Grundzüge der Fachentwicklung in den USA und in Europa, Opladen 2003 (=UTB 2403), S. .
[10] Vgl. Thomas Noetzel: Wilhelm Hennis: Politikwissenschaft als Tugendlehre, in: Hans Karl Rupp / Thomas Noetzel (Hrsg.): Macht, Freiheit, Demokratie. Band 2: Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft, Marburg 1994, S.65-80, hier S. 65f.
[11] Vgl. Metzler: Unregierbarkeit, S. 244f.
[12] Vgl. ebd., S. 245-247.
[13] Vgl. Claus Offe: „Unregierbarkeit“. Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, in: Jürgen Habermas (Hrsg.): Stichworte zur ‚geistigen Situation der Zeit’, 1. Band: Nation und Republik, Frankfurt a.M. 1979, S. 294-318, hier S. 310-316.
[14] Wilhelm Hennis: Zur Begründung der Fragestellung, in: Wilhelm Hennis / Peter Graf Kielmansegg / Ulrich Matz (Hrsg.): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung Band 1, Stuttgart 1977, S. 9-21, hier S. 12.
[15] Vgl.ebd., S. 11-13.
[16] Vgl. Hennis: Fragestellung, S. 12f., Zitat ebd.
[17] Vgl. ebd., S. 13-15.
[18] Vgl. ebd., S. 18f.
[19] Vgl. Hennis: Fragestellung, S. 18-20.
[20] Vgl. ebd., S. 21.
[21] Vgl. ebd., S. 16f., sowie S. 20f., Zitat S. 16.