Diese Arbeit versucht sich dem Kriterium der Personenidentität zu nähern, um letztlich zu beantworten, was als ein solches Kriterium denkbar sein kann. Auf der Suche nach der richtigen Antwort wird zunächst mit dem Kriterium der Erinnerung gearbeitet. Dabei wird näher gebracht, warum gerade dieses Kriterium so attraktiv erscheint, um die Identität einer Person auszumachen, und warum John Locke sich für dieses Kriterium aussprach.
Im weiteren Verlauf soll festgestellt werden, an welcher Stelle Erinnerungen als Kriterium an ihre Grenzen kommen. Es entsteht nämlich dann ein Problem, wenn man Personenidentität unterschiedlich definiert. Sieht man diese lediglich als ein Merkmal, welches eine Unterscheidung eines Individuums zu anderen leisten soll, ergibt sich, dass man Erinnerungen ohne größere Probleme benutzen kann, um Identität zu bestimmen. Definiert man Personenidentität, so dass sie darüber hinaus auch in der Lage sein soll, die Kontinuität eines Individuums mit sich selbst im zeitlichen Verlauf zu berücksichtigen, scheinen Erinnerungen als Kriterium an ihre Grenzen zu stoßen.
Letztlich soll zu dem Schluss geleitet werden, dass das Verhältnis zwischen Leib und Seele so aussieht, dass letztlich nur der Körper existent ist und Geistiges lediglich körperlich realisierte Hirnzustände darstellt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitend
2. Leib und Seele: Woraus besteht das Ich?
3. Erinnerung
4. Williams Gegenargumentation
5. Unterscheidung zu Anderen und Kontinuität des Selbst
6. Der Körper ist das Ich
6.1 Materialismus
6.2 Existenz als Kriterium
7. Ausleitend
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitend
Perhaps the greatest mystery in philosophy is what it is to be a human being. Clearly we are animal creatures, with animal bodies and animal desires and appetites. Equally clearly we are beings with interiority, able to think of ourselves as ourselves, to occupy a first-person stance.[1]
Tatsächlich ist die Frage danach wer oder was ich bin, eine der grundlegendsten Fragen der Philosophie. Wie Ganeri anmerkte, bin ich als Einzelperson in der Lage über mich selbst nachzudenken und gerade dies ist der Moment, in dem ich Zugang zu meinem Selbst habe. Sich selbst mit Hilfe der Introspektion wahrzunehmen scheint die einfachste Methode zu sein, um festzustellen, dass Ich-sein etwas besonderes ist. Besonders dahingehend, dass es etwas ist, dass nur mir selbst zugänglich ist. Theoretisch ist zwar jede Einzelperson in der Lage ein Ich-Gefühl zu entwickeln, im Sinne von „[…] to think of ourselves as ourselves […]“[2], allerdings bleibt es anderen verwehrt wahrzunehmen, wie es sich anfühlt, dass eben genau ich mich als ich wahrnehme. Bereits René Descartes näherte sich diesem Sachverhalt an. Er erkannte, dass wenn ich denke und in diesem Fall über mich selbst nachdenke, das Ich definitiv existent sein muss.
So dass, nachdem ich alles mehr als genug durchdacht habe, schließlich festzustellen ist, dass dieser Satz, Ich bin, ich existiere, sooft er von mir ausgesprochen oder vom Geist begriffen wird, notwendigerweise wahr ist[3].
Nach Descartes kann ich als Einzelperson meine eigene Existenz voraussetzen, an allem lässt sich zweifeln, daran aber nicht. Was allerdings bleibt, ist die Frage, worin der Unterschied zwischen„[…] [being] able to think of ourselves as ourselves […]“[4] als allgemeine Fähigkeit jedes Menschen und der essenziellen Erfahrung genau sich selbst als einmaliges Selbst so wahrzunehmen, wie es kein anderer kann, liegt. Letztlich liegt ein qualitativer Unterschied beider Dinge vor. Etliche Philosophen versuchten ein Kriterium für die Personenidentität aufzustellen, welches im Endeffekt die Besonderheit des Selbst und damit auch die Frage nach der eben genannten Unterscheidung beantworten könnte. Gleichzeitig ist Identität eine lebenspraktische Aufgabe, die jeden Menschen beschäftigen sollte.
Die Geschichte […] von Identität reicht weit zurück. Es ist Platon, der Identität […] explizit als ein Problem der Praxis, nämlich des Umgangs des Menschen mit sich eingeführt hat: Es geht für den einzelnen um die Aufgabe, selbst zu sein und stets derselbe zu sein.[5]
Ein Kriterium der Personenidentität sollte demnach in der Lage sein, als Hilfestellung zur Bewältigung der von Platon beschriebenen Aufgabe - Identität als gesellschaftliche Forderung-zu dienen.
Mit dieser Arbeit möchte ich mich dem Kriterium der Personenidentität nähern. Dabei werde ich mich kritisch mit einigen Ideen auseinandersetzen, die teilweise mit Hilfe von Werken anderer Philosophen entstanden sind. Diese werde ich reflektieren, um letztlich aus den gewonnen Erkenntnissen ein Kriterium zu entwickeln und anzubieten, welches den Anforderungen der Personenidentität gerecht werden könnte.
2. Leib und Seele: Woraus besteht das Ich?
Descartes beschrieb bereits eindrucksvoll, dass die eigene Existenz und damit das Ich vorausgesetzt werden kann.[6] In dem Moment, in dem ich meine eigene Existenz anzweifle, so Descartes, bin ich mir ihrer Existenz bewusster denn je. Denn wenn ich zweifle, muss mindestens der Träger des Zweifels existent sein. Letztlich bleibt jedoch die Frage offen, woraus genau sich das Ich zusammensetzt. Hinter dieser Frage verbirgt sich ein fundamentaler Sachverhalt der Philosophie, nämlich das Leib-Seele-Problem. Der Kern dieses Problems beinhaltet die Frage, wie das Verhältnis zwischen Mentalem (Seele oder Geist) und Körperlichem (Leib) aussieht. Dabei sind drei verschiedene Verhältnisse, und damit drei verschiedene Zusammensetzungen des Ichs denkbar. Zum einen könnte es sich bei Leib und Seele um zwei verschiedene Substanzen handeln. Diese können zwar auf eine bestimmte Art und Weise miteinander interagieren, letztlich sind sie aber nicht ein- und derselbe Gegenstand. Das hinduistische Modell der Seelenwanderung kann hier als Veranschaulichung dienen. „Im Hinduismus gibt es […] den Glauben an die persönliche Wiedergeburt des Menschen.“[7] Dabei wird davon ausgegangen, dass die Seele in einem Körper wohnt. Nach dem Tod des Körpers wandert die Seele in einen anderen Körper. Vergleichbar damit ist auch die christliche Denkweise, dass nach dem Tod des Leibes, die Seele in ein himmlisches Paradies gelangt. Diese Denkweisen sehen den Leib und die Seele als zwei verschiedene Gegenstände, die auch voneinander getrennt werden können. Dabei entsteht eine Überbetonung der Seele, was allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein muss, wenn man Leib und Seele als zwei verschiedene Substanzen ansieht. Denkbar wäre auch, dass Leib und Seele gleichwertige Substanzen sind, deren Existenz nur miteinander vorstellbar ist. Stirbt eine Person, so sterben demnach sowohl Seele als auch der Körper. Die genannten Beispiele sollen hier ausreichen um darzulegen, was es bedeuten könnte Seele und Leib als zwei verschiedene Substanzen anzusehen. Das Ich ist auch als rein mentales Phänomen denkbar. Das, was der Mensch als Umwelt wahrnimmt, muss dabei als eine Art Illusion gedacht werden. Das Zufügen bzw. Verspüren von Schmerzen am eigenen Körper wird oft als Nachweis dafür herangetragen, dass der eigene Körper existent sein muss. Doch wird dabei außer Acht gelassen, dass es denkbar ist, dass dieser Schmerz eine Art Einbildung sein könnte. Es ist vorstellbar, dass nur die Seele existiert und in einem mentalen Prozess unsere Wahrnehmung der Umwelt künstlich – im Sinne von nicht real existent – konstruiert. Dabei entsteht zwar zwangsläufig die Frage, was genau die Seele sein soll, wenn es nichts Materielles gibt, allerdings werde ich darauf nicht weiter eingehen und diese Beschreibung des Ichs als erste Annäherung an das Phänomen unkommentiert stehen lassen. Eine weitere denkbare Zusammensetzung des Ichs ist die rein materielle. Dabei wird davon ausgegangen, dass nur der Leib existiert und alle mentalen Vorgänge ein Resultat des Körpers sind. Mentales wird durch die Leistung des Gehirns hervorgerufen und bleibt dadurch ein Phänomen des Körpers. Dazu Nietzsche: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“[8] Das Verhältnis zwischen Leib und Seele ist hierbei so anzusehen, dass letztere nur mit Hilfe des Körpers konstituiert wird und demnach ein körperliches Phänomen bleibt. Eine Seele im christlichen Sinne ist dabei ausgeschlossen. Eine ausführlichere Beschreibung dieser Ansicht erfolgt im Abschnitt 6. Der Körper ist das Ich. Zusammenfassend kann die Frage, woraus das Ich besteht auf drei verschiedene Arten beantwortet werden. Diesen Sachverhalt möchte ich während dieser Untersuchung von Kriterien der Personenidentität nicht außer Acht lassen.
3. Erinnerung
Bevor ich das Thema Erinnerung als Kriterium der Personenidentität behandle, möchte ich kurz auf den eigentlichen Begriff der Personenidentität eingehen. Identität zielt immer auf etwas Besonderes und Einmaliges ab. Wir können sie uns als eine Art Sammelbecken für alle, ein bestimmtes Ding kennzeichnenden Charakteristika, die gleichzeitig eine Unterscheidung zu allen anderen Dingen zulassen, vorstellen. Identität ist für alle Objekte oder Gegenstände denkbar. Selbst wenn ich fünf baugleiche Produkte (beispielsweise Fahrräder) vor mir habe, werde ich bei jedem etwas finden, dass eine Unterscheidung von den anderen vieren ermöglicht. Manchmal sind diese Unterschiede nur sehr minimal und dadurch schwer erkennbar, doch sind sie letztlich vorhanden. Benutzt man diesen Begriff von Identität um eine Person zu charakterisieren, spricht man folglich von Personenidentität. Die Frage, was ein Kriterium der Personenidentität darstellt, befasst sich also damit, was eine bestimmte Person zu eben dieser bestimmten Person macht. Da auch ich selbst eine bestimmte Person bin, liegt es nahe, dass die Betrachtung der eigenen Person gut geeignet ist um auf alle anderen Personen zu schließen. Betrachtet man introspektiv sich selbst, um herauszufinden, was einen selbst ausmacht, liegt die Idee nahe, dass es meine eigenen Erinnerungen sind, die mich zu dem machen, der ich bin. Doch was sind Erinnerungen eigentlich? Ich möchte diese Frage von John Locke beantworten lassen.
1. Die nächste Fähigkeit des Geistes, die ihm zum weiteren Fortschreiten zur Erkenntnis verhilft, ist das, was ich die Erinnerung nenne, das heißt das Festhalten jener einfachen Ideen, die er durch Sensation oder Reflexion gewonnen hat. Das vollzieht sich auf doppelte Weise.
Erstens dadurch, daß [sic] der Geist die ihm zugeführte Idee eine gewisse Zeit hindurch tatsächlich im Auge behält, was wir Betrachtung nennen.
2. Die zweite Art der Erinnerung besteht in der Kraft, im Geiste solche Ideen wieder hervortreten zu lassen, die nach ihrer Einprägung verschwunden oder gleichsam beiseite gelegt und dem Blick entzogen waren.[9]
Was John Locke hier als zweite Art der Erinnerung bezeichnet, wird von ihm im weiteren Verlauf als Gedächtnis betitelt. Interessant ist aber die Art und Weise, wie Erinnerungen entstehen. Dafür muss der Mensch zunächst eine Idee betrachten und gerade diese Betrachtung scheint etwas zu sein, was jeder Mensch auf seine eigene Art und Weise vollzieht. Betrachte ich beispielsweise einen Gegenstand mit meinen Sinnen, so bleibt dies dahingehend besonders, dass verschiedene Faktoren für diese Wahrnehmung sorgen. Somit erscheint es unmöglich, dass jemand anderes diesen Gegenstand auf die selbe Art und Weise betrachtet, wie ich es tue. Die Position meines Körpers im Raum verändert meinen Betrachtungswinkel. So kann diese dafür sorgen, dass ich gewisse Dinge sehe oder eben nicht sehe. Gleichzeitig schenke ich unterschiedlichen Dingen, unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. Einen Gegenstand könnte ich fühlen, schmecken, riechen, hören oder aber auch sehen. Welchem Reiz ich meine Aufmerksamkeit schenke, scheint meine Betrachtung dieses Gegenstands zu beeinflussen. Ähnlich verhält es sich mit Gedanken, die ich mir mache. Abhängig davon, wie ich meine Aufmerksamkeit verteile oder auch anderes, bereits vorhandenes Wissen auf den Gedanken anwenden kann, ergibt sich eine einzigartige Betrachtungsweise. „Die Aufmerksamkeit und die Wiederholung tragen viel dazu bei, gewisse Ideen im Gedächtnis zu fixieren.“[10] Neben unterschiedlicher Aufmerksamkeit, kann es also auch passieren, dass ich durch unterschiedliche Wiederholung eine andere Erinnerung an bestimmte Dinge habe, als ein anderer Mensch. Über die verschiedenartigen Aufmerksamkeitsstufen hinaus, kann auch die Art und Wiederholung der jeweiligen Sinneswahrnehmung Einfluss auf die persönliche Erinnerung haben. Ein alltägliches Beispiel kann hier als Veranschaulichung dienen. Man stelle sich eine Schulklasse vor, die unterrichtet wird. Jeder Mensch folgt dem Unterricht nun mit unterschiedlich viel Aufmerksamkeit. So kann es sein, dass ein Schüler gänzlich abgelenkt ist und überhaupt nicht zuhört oder ein anderer Schüler nur einigen Teilen des Unterrichts folgt. Erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit, so ergibt sich auch die Situation, dass man dem Unterricht aufmerksam folgen möchte, aber an irgendeinem Punkt kurz in Gedanken verfällt – manchmal sogar in Gedanken über das eigentliche Thema des Unterrichts – und für diesen Moment nicht mehr der Lehrkraft folgen kann. Bezogen auf unser Schulklassenbeispiel ergibt sich, dass resultierend aus unterschiedlicher Aufmerksamkeit jeder Schüler eine andere Erinnerung an den Lehrstoff haben wird. Zu Hause in Vorbereitung auf die drohende Klausur wird nun jeder Schüler den Lehrstoff unterschiedlich oft wiederholen. Selbst wenn zwei Schüler dem Unterricht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt haben sollten, werden sie sich resultierend aus unterschiedlicher Wiederholung, letztlich auch auf andere Art und Weise an das Erlernte erinnern können. Interessant bei den Wiederholungen des Erlernten ist auch, dass eine hohe Anzahl der Wiederholungen des Lernstoffes nicht ausreicht um sich alles in Erinnerung zu bringen. Denn die Wiederholungen selbst sind wieder geprägt von unterschiedlicher Aufmerksamkeit während des Wiederholens. Das Resultat ist, dass jeder Schüler die Fragen der Klausur verschieden beantworten wird, da jeder Schüler eine andere Erinnerung an den Lernstoff haben wird. Die Erinnerung an solche Dinge ist also immer geprägt von Subjektivität. Da sie jeder Mensch für sich selbst entwickelt, sind Erinnerungen immer etwas Einmaliges. Dahingehend besonders, dass niemand anderes die Selben haben kann wie ich. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich der Grund dafür, dass Erinnerungen als Kriterium für Personenidentität so attraktiv erscheinen. Da kein anderer Mensch außer mir, genau meine Erinnerungen haben kann, scheint hier etwas vorzuliegen, womit ich mich von anderen abgrenzen und damit unterscheiden kann. Diesem Gedankengang würde auch John Locke zustimmen.
Denn da das Bewußtsein [sic] das Denken stets begleitet und jeden zu dem macht, was er sein Selbst nennt und wodurch er sich von allen anderen denkenden Wesen unterscheidet, so besteht hierin allein die Identität der Person, das heißt das Sich-Selbst-Gleich-Bleiben eines vernünftigen Wesens.[11]
Einigen Menschen geht dies nicht weit genug. Sie vertreten die Auffassung, dass jede geistige Aufnahme von Information einen Menschen nachhaltig prägt. In der abgeschwächten Variante bedeutet dies, dass nicht bloß die Erinnerungen, die ein Menschen wirklich hat, sondern auch die Ereignisse, die ein Mensch längst vergessen hat, ihn prägen und sein Wesen verändern. Diese Veränderung äußert sich dahingehend, dass ein einmaliges, also ein von anderen unterscheidbares, Selbst entsteht. In der stärkeren Variante wird davon ausgegangen, dass jedes gedankliche Ereignis im Menschen dauerhaft verankert bleibt.
Each mental acquisition really leaves its mark […] Nothing of good or evil is ever lost. […] Every event of a man´s mental life is written indelibly in the brain´s archives.[12]
Unabhängig davon, wie groß die Rolle von Erinnerungen für den Menschen letztlich ist, lässt sich sagen, dass sie faktisch persönliche Unikate sind. Die Art und Weise wie man Erinnerungen erhält und sie verarbeitet scheint von keinem zweiten Menschen gleich erlebt werden zu können. Es liegt daher nahe zu behaupten, dass „[…] die Identität der Person […] in der Identität des Bewußtseins [sic]“[13] und damit in den Erinnerungen bestehe. Bezogen auf das Leib-Seele-Problem[14] ist das Kriterium der Erinnerung dahingehend sehr gut geeignet, dass es mit jeder Antwort auf die Frage woraus das Ich besteht, kompatibel ist. Vertritt man die Auffassung, dass das Ich seelisches beinhaltet – das Ich als Seele oder das Ich als Körper + Seele –, so ist das erörterte Kriterium grundsätzlich denkbar, da Erinnerungen als etwas Mentales angesehen werden können. Auch für Materialisten ist ein solches Kriterium grundsätzlich nicht ausgeschlossen, denn das Verarbeiten von Erinnerungen kann durch rein physische Ereignisse erklärt werden:
Unser Gehirn speichert täglich unzählige Informationen. Die Speichereinheiten für diese Informationen finden sich in den Synapsen, also in den feinen Verästelungen, über die sich die Nervenzellen im Gehirn miteinander vernetzen. […] Sobald wir Informationen verarbeiten, verändern sich diese. Wenn bestimmte Informationen nun in das Langzeitgedächtnis überschrieben werden sollen, bedeutet das, dass sich die entsprechenden Synapsen dauerhaft verändern müssen. Im Zellkern setzt sich dazu ein Mechanismus in Gang, der über die dortigen Gene bestimmte Proteine ausschüttet. Diesen Vorgang nennt man Transkription.[15]
Geht man, bezogen auf die Frage woraus das ich besteht, davon aus, dass nur eine Antwort richtig ist, wirkt es irrelevant, ob eines der vorgeschlagenen Kriterien der Personenidentität mit den zwei falschen Antworten kompatibel wäre. Dies ist grundsätzlich auch der Fall, doch die Anerkennung eines vorgeschlagenen Kriteriums kann maximiert werden, wenn dieses mit allen drei Antworten kompatibel ist – nämlich genau dann, wenn noch Uneinigkeit über die richtige Antwort besteht. Ist das Kriterium für jeden Menschen grundsätzlich denkbar, muss man die Zweifler nur noch vom eigentlichen Kriterium und nicht mehr von der Substanz des Ichs überzeugen.
4. Williams Gegenargumentation
Im letzten Abschnitt wurde erörtert, dass ein Kriterium der Erinnerungen geeignet ist, um die Identität von Personen auszumachen. Wie so oft in der Philosophie gibt es dennoch Positionen, die den Versuch einer Gegenargumentation eröffnen. Auch wenn man glaubt eine richtige Antwort gefunden zu haben, lohnt es immer sich mit den Gegenpositionen zu beschäftigen, da man womöglich von ihnen lernen und die eigene Meinung optimieren kann. Ein ernstzunehmender Einwand gegenüber Erinnerungen als Kriterium der Personenidentität stammt von Bernard Williams. Dieser versucht darzulegen, „[…] daß [sic] die Identität des Körpers immer eine notwendige Bedingung der Personenidentität ist […]“[16] und damit Erinnerungen alleine stehend, nicht als geeignetes Kriterium herhalten können. Dazu konstruiert er ein Beispiel bei dem eine Person alle seine Erinnerungen verliert und gleichzeitig über die Erinnerungen eines anderen Menschen verfügt.
[...]
[1] Ganeri, 2012, S. 1
[2] Ebd., S. 1
[3] Descartes, 2004, S. 73
[4] Ganeri, 2012, S. 1
[5] Böhme, 2012, S. 23
[6] vgl. Einleitung
[7] Schädlich-Buter, 2009
[8] Nietzsche, 1955, S. 300
[9] Locke, 1981, S. 167
[10] Locke, 1981, S. 168
[11] Locke, 1981, S. 420
[12] Thorndike, 1905, S. 330 f.
[13] Locke, 1981, S. 429
[14] vgl. 2. Woraus besteht das Ich?
[15] Hoffmann, 2011
[16] Williams, 1978, S. 8