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Der Einfluss Walter Kempowskis auf formaler und semantischer Ebene in "Abgesang'45"

©2015 Seminararbeit 15 Seiten

Zusammenfassung

"Abgesang ’45" von Walter Kempowski ist das letzte Werk der vierteiligen, aus zehn Einzelbänden bestehenden Buchreihe "Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch". Das letzte Werk unterscheidet sich vor allem dadurch von den übrigen, dass nur vier Tage zum Ende des Krieges hin betrachtet werden. In dieser Arbeit wird von diesen Tagen nur der Mittwoch, 25. April behandelt, da der Umfang des ganzen Werkes den Rahmen dieser zwölf Seiten sprengen würde. Ich habe mich für dieses Datum entschieden, weil der 20. April als Hitlers Geburtstag, der 30. April als Hitlers Todestag und das Kriegsende zu sehr von einem Schwerpunkt geprägt sind. Dass Walter Kempowski nicht nur Herausgeber, sondern auch Arrangeur ist, wird in zahlreichen Quellen von ihm selbst bestätigt. Deshalb bezieht sich meine Fragestellung nicht auf das ob, sondern wie Kempowski als unsichtbarer Autor in den Aufbau eingreift. Anhand von Primär- und Sekundärliteratur werden die bisherigen Erkenntnisse zum Echolot kritisch hinterfragt. In einem ersten Teil wird das Gesamtprojekt Kempowskis eingeführt, sowie die Technik der Collage als Form, aber auch als Stilmittel untersucht. Im weiteren Teil der Arbeit wird anhand des formalen Aufbaus und der semantischen Ordnung die Beantwortung der Fragestellung in einzelnen Abschnitten erarbeitet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Gesamtprojekt Kempowskis

3. Die Technik der Collage

4. Der formale Aufbau der Collage
4.1 Abschnitte
4.2 Paratexte
4.2.1 Zitat des Herrnhut Kalenders (S. 109)
4.2.2 Stars and Stripes - Daily German Lesson (S. 109)
4.2.3 Der Frühling - Friedrich Hölderlin (S.217)
4.2.4 Fotografien

5. Die semantische Ordnung
5.1 Grausamkeit und Alltag - Abschnittsübergreifend
5.2 Perspektivenwechsel - Abschnittsintern

6. Konklusion

Bibliographie

1. Einleitung

Abgesang ’45 von Walter Kempowski ist das letzte Werk der vierteiligen, aus zehn Einzelbänden bestehenden Buchreihe Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Das letzte Werk unterscheidet sich vor allem dadurch von den übrigen, dass nur vier Tage zum Ende des Krieges hin betrachtet werden. in dieser Arbeit wird von diesen Tagen nur der Mittwoch, 25. April behandelt, da der Umfang des ganzen Werkes den Rahmen dieser zwölf Seiten sprengen würde. Ich habe mich für dieses Datum entschieden, weil der 20. April als Hitlers Geburtstag, der 30. April als Hitlers Todestag und das Kriegsende zu sehr von einem Schwerpunkt geprägt sind. Dass Walter Kempowski nicht nur Herausgeber, sondern auch Arrangeur ist, wird in zahlreichen Quellen von ihm selbst bestätigt. Deshalb bezieht sich meine Fragestellung nicht auf das ob, sondern wie Kempowski als unsichtbarer Autor in den Aufbau eingreift.

Anhand von Primär- und Sekundärliteratur werden die bisherigen Erkenntnisse zum Echolot kritisch hinterfragt. in einem ersten Teil wird das Gesamtprojekt Kempowskis eingeführt, sowie die Technik der Collage als Form, aber auch als Stilmittel untersucht. Im weiteren Teil der Arbeit wird anhand des formalen Aufbaus und der semantischen Ordnung die Beantwortung der Fragestellung in einzelnen Abschnitten erarbeitet.

2. Das Gesamtprojekt Kempowskis

Der Titel Echolot ist als eine Metapher zu verstehen. Walter Kempowski interessiert sich für den Grund, die Tiefe, und will diesen minutiös und genau abtasten, wie ein Echolot. Dabei ist nicht nur das Abtasten des Grundes ein Teil der Metapher, sondern auch die Tatsache, dass es sich um ein akustisches Signal[1] handelt, dessen Sicherheit und Wahrheit man nicht abschliessend bestätigen kann. Man muss dem Echolot vertrauen, weil es keine andere Möglichkeit der Erforschung gibt. Eben dieses Vertrauen macht sich Kempowski im Echolot zu Nutze und vermittelt dem Leser unkommentierte Quellen als direktes Zeitgeschehen.

Die insgesamt zehn Bände des Projektes umfassen über 7Ό00 Seiten. Kempowski behandelt in der Reihe nur einzelne Monate. Von diesem Konzept unterscheidet sich bloss der Band Barbarossa ’41, welcher den Einmarsch in die Sowjetunion im Jahre 1941 von Juni bis Dezember betrachtet.

Aufgrund des immensen Umfangs des Materials musste sich Kempowski für diese Einschränkung entscheiden.

Ich merkte bald, daß mein ursprünglicher Plan, die Zelt vom 1. Januar 1943 bis zur Gründung der DDR und der Bundesrepublik day by day aus diesem Material zu dokumentieren, nicht zu realisieren war. Der Umfang hätte jede vernünftige Arbeit unmöglich gemacht, erstickt.[2]

Die Erscheinung der einzelnen Bände ist nicht chronologisch zu den in ihnen behandelten Jahren. So erschien im Jahr 1993 der erste, in vier Bände aufgeteilte Teil des gigantischen Projekts und umfasst die Monate Januar und Februar 1943. Als ersten Komplex wählte Kempowski diesen Zeitraum, weil „das Dritte Reich [damals] nach innen und nach aussen den Höhepunkt seiner Macht erreicht [hatte] und [war] im Begriff [war], ihn zu überschreiten.“ (HV, 101) Der eigentliche Beginn der Buchreihe wurde dagegen erst 2002 veröffentlicht: Der Einzelband Barbarossa ’41. Der letzte Band und der inhaltliche Abschluss des Gesamtwerks folgte 2005 mit Abgesang ’45. Oft als Epilog der Reihe betitelt, behandelt dieser Band fünf Tage, zusammengefasst in vier. Hitlers 56. Geburtstag am 20. April, den 25. April, welcher den sogenannten Elbe Day bezeichnet (das erste Zusammentreffen sowjetischer und amerikanischer Truppen in deutschem Gebiet), den 30. April, der Tag, an dem Hitler seinen Selbstmord beging und als vollkommener und vielstimmiger Abschluss des Krieges der 8. und 9. Mai, welche Kempowski auf 150 Seiten zusammenfasst. Der Tag 0 nach 2077 Tagen Krieg.

Walter Kempowski nimmt sich bewusst zurück und meinte zu seinem Projekt: „Ich habe die anderen zu Wort kommen lassen.“ (HV, 147) Mit den anderen meint Kempowski all jene, die während des Krieges nicht gehört wurden und deren stimmen untergingen. Ein prägendes Erlebnis, welches im Vorwort des ersten erschienen Bandes vom Autor selbst zitiert wird, liefert eine Erklärung für dieses Einfangen aller anderen die eine stimme haben.

An einem Winterabend des Jahres 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: „Das sind ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.“ Ich begriff in diesem Augenblick, daß aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne daß ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewusst, daß ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling und zwar für knappe zwei Minuten.[3] Mit der untergeordneten Beschreibung „ein kollektives Tagebuch“ zeigt Kempowski, dass die vielen stimmen zu einem Strang gebündelt werden. Ein Tagebuch, dessen Begriff mit Privatsphäre, Intimität und vor allem Unmittelbarkeit verbunden wird, vermittelt eine greifbare Nähe zum Geschehen. „Das alles wird zu einem Chor komponiert, der der Wirklichkeit, der damals erlebten Wirklichkeit nahekommt.“ (HV, 119) Hiermit bin ich wieder beim Gegenstand dieser Arbeit, wobei ich herausfinden will, wie Kempowski am 25. April 1945 als Komponist eingreift.

3. Die Technik der Collage

Die Collage ist im Duden als eine „literarische Komposition aus verschiedenartigem sprachlichem Material“ definiert. Composito aus dem Lateinischen bedeutet etwas zusammenzustellen. Es ist also nicht bloss eine lineare, neutrale Form der Ordnung, sondern eine bewusst zusammengestellte Form. Kempowski selbst tituliert seine Auswahl als „tendenziös“ (HV, 31) und fügt hinzu: „Ich präsentiere keine Rezepte, das muss jeder selber machen - und doch richte ich an.“ (HV, 31) Diese beiden Zitate beziehen sich auf Kempowskis Werk Tadellöser& Wolf, können jedoch ebenfalls für das Projekt Echolot gelten und sind für meine Fragestellung von zentraler Bedeutung. Im Echolot verfeinert Kempowski seinen collagenartigen Stil, den er bereits im vierten Teil der deutschen Chronik verwendet. Zahlreiche, zumeist sehr kurze Episoden werden im Tadelloser ohne Übergänge aneinandergereiht, sodass sich zwar eine Geschichte bildet, der Leser jedoch die Brücken selber schlagen muss.

Im Echolot flicht sich keine Geschichte mehr durch die Collage. Mit der optisch völligen Enthaltung des Autors wird eine Neutralität suggeriert. Die Frage, die sich dabei stellt, ist jedoch, ob es in einem literarischen Werk überhaupt Neutralität geben kann. Diese Frage beantworte ich mit Nein. Ein Autor hat den Anspruch an seinen Text, dass er gelesen wird. Er muss also seine Handschrift tragen. Wenn Kempowski den Anspruch völliger Neutralität und Objektivität an sein Werk gehabt hätte, hätte er eine lineare, alphabetische Form gewählt und wäre damit blosser Sammler und kein Arrangeur auf semantischer Ebene gewesen. Die Tatsache, dass Kempowski also in den Aufbau eingreift, bestätigt, dass es sich bei dem Werk um Literatur handelt. Kempowski selbst legte Wert darauf, sein Werk nicht als blosse Dokumentation zu betrachten: „Ich rekonstruiere aus Fotos, Tagebüchern und Briefen einen grossen Dialog, der meine «Chronik» wispernd begleitet.[...] Das ist die Arbeit eines Autors, nicht eines Herausgebers.“ (HV, 100) Die Form der Collage funktioniert in einem Werk vom Umfang des Echolots deshalb, weil die schiere Masse an Text ansonsten den Leser nie erreichen würde.

4. Der formale Aufbau der Collage

4.1 Abschnitte

Kempowski gliedert die Tage in einzelne Abschnitte, in denen ein bis maximal sieben Texte zu finden sind. Am untersuchten Tag[4], dem 25. April, lassen sich, genau wie am 20. April, 55 solche Abschnitte zählen. Einträge sind es deren 171, am 20. April 146. Die Zahl 55 zieht sich jedoch nicht als Norm durch das Werk: Am 30. April zählen wir 45 Abschnitte, am 8./9. Mai 50. Jürgen Ritte beschreibt diese Abschnitte als Sequenzen. Deren interne Kohäsion wird „durch einen bestimmten Sprechertypus garantiert“.[5] Die exakten Zahlen (55, 55, 45, 50) lassen darauf schliessen, dass Kempowski nicht nur eine interne Kohäsion angestrebt hat, sondern die Texte auch an einen übergeordneten Rahmen angepasst sind.

Wie Ritte erwähnt, bemüht sich Kempowski innerhalb der Abschnitte um eine homogene Textsorte und um sich ähnliche Autoren. Beispielhaft dafür Seite 118/119, ein Abschnitt mit drei Texten: Ernst Jünger, deutscher Schriftsteller, Kurt Weill, deutsch-jüdischer Komponist, Thomas Mann, deutscher Autor. Kriterium ist die Auswahl der Autoren nach ihrer beruflichen Tätigkeit. Rittes Aussage, dass ein homogener Sprechertypus die interne Kohäsion garantiert, kann nicht unkritisch übernommen werden. Denn nicht nur Autor und Textsorte haben einen Einfluss auf die Einteilung, auch geografische oder thematische Faktoren können Kriterien der Auswahl sein.

Seite 140/141 spiegelt diese Auswahl nach geografischen Kriterien: Die fünf Texte weisen eine unterschiedliche Textsorte auf, drei Briefe, zwei Tagebucheinträge. Natalja Krischaniwskaja ist die einzige der fünf Schreibenden, die nicht in der sowjetischen Armee ist, sondern einen Brief an ihren Mann im Krieg schreibt. Hauptkriterien sind also die Orte, welche alle nicht unter dem Einfluss der deutschen Wehrmacht Stehen (ersichtlich, da kursiv gedruckt[6] ) und die Herkunft der Schreiber, nämlich Russland.

Jedem Abschnitt kann zudem ein Thema zugeordnet werden: so zum Beispiel Seite 124/125 mit drei Einträgen; zwei Arbeiter des KZ Theresienstadt und einer Lagebesprechung aus dem Führerbunker.

[...]


[1] Ähnlich Ritte 2009, S. 63

[2] Hage 2009, S. 101. Zitate nach dieser Ausgabe künftig im Text unter der Sigle HV und mit Seitenzahl.

[3] Kempowski 1993, S. 7

[4] Kempowski 2007, Abgesang'45. Im Folgenden mit einfacher Seitenangabe im Text zitiert.

[5] Ritte 2009, S.72. Zitate nach dieser Ausgabe künftig im Text unter der Sigle RJ und mit Seitenzahl.

[6] Siehe Anhang Kempowski 2007.

Details

Seiten
Jahr
2015
ISBN (eBook)
9783668638303
ISBN (Buch)
9783668638310
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Institution / Hochschule
Universität Zürich – Deutsches Seminar
Erscheinungsdatum
2018 (Februar)
Note
5.5
Schlagworte
Kempowski NDL Literatur Kriegsliteratur Semantik Walter Kempowski Echolot Abgesang
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