Russlands Politik im Syrien-Konflikt aus der Perspektive des Neorealismus
Zusammenfassung
Sowohl Journalisten und Wissenschaftler als auch am Konflikt direkt beteiligte Akteure haben unterschätzt, wie weit Russland bereit ist zu gehen, um das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu unterstützen und seine Interessen in Syrien zu verteidigen. Wie russische Politiker und Experten seit Jahren immer wieder betonen, geht es dabei um mehr als nur Syrien: Es geht um die Aufrechterhaltung der Ordnung in einem internationalen System, das in Anarchie zu versinken droht, und letzten Endes um Russlands eigene Sicherheit. Da die Theorie des Neorealismus am besten dazu geeignet ist, diesen Aspekt näher zu beleuchten, wird in der vorliegenden Arbeit folgende Frage untersucht: Wie lässt sich Russlands Politik im Syrien-Konflikt aus neorealistischer Sicht erklären?
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen: Neorealismus nach Kenneth Waltz
3. Russlands Politik im Syrien-Konflikt aus der Perspektive des Neorealismus
3.1 Syrien-Konflikt - Russlands Status als Großmacht in Gefahr?
3.2 Die Sicherheit Russlands wird auch in Syrien verteidigt
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Als am 16. August 2016 russische Langstreckenbomber erstmals von der iranischen Luftwaffenbasis Hamadan aus Angriffe in Syrien flogen, zeigte sich die US-Regierung sichtlich überrascht (MacFarquhar u. Sanger 2016). Bis zu diesem Zeitpunkt dienten ausschließlich Stützpunkte in Russland und Syrien als Operationsbasis für Einsätze der russischen Luftwaffe in Syrien. Angesichts der Tatsache, dass die Flugzeuge nur wenige Stunden zuvor in den Iran verlegt worden waren, warfen US-Offizielle die Frage auf, ob dies wirklich eine strategische Notwendigkeit war oder eine politische Botschaft der russischen Regierung (Klapper 2016). Russlands Handlungen im Syrien-Konflikt haben Beobachter in den vergangenen Jahren ein ums andere Mal überrascht und vor Rätsel gestellt. Seit Beginn des Konflikts hat Russland gemeinsam mit China vier Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu Syrien blockiert (Averre u. Davies 2015, S. 821f.). Zudem griffen die russischen Streitkräfte am 30. September 2015 auf Seiten der syrischen Regierung direkt in den Kampf ein und starteten einen umfangreichen Militäreinsatz, der entgegen aller anderslautenden Verlautbarungen bis dato andauert (Kaim u. Tamminga 2015; Souleimanov 2016).
Sowohl Journalisten und Wissenschaftler als auch am Konflikt direkt beteiligte Akteure haben unterschätzt, wie weit Russland bereit ist zu gehen, um das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu unterstützen und seine Interessen in Syrien zu verteidigen (Hoff 2016; Katz 2013, S. 38f.). Wie russische Politiker und Experten seit Jahren immer wieder betonen, geht es dabei um mehr als nur Syrien: Es geht um die Aufrechterhaltung der Ordnung in einem internationalen System, das in Anarchie zu versinken droht, und letzten Endes um Russlands eigene Sicherheit (Putin 2015b; Trenin 2013, S. 9f.). Da die Theorie des Neorealismus am besten dazu geeignet ist, diesen Aspekt näher zu beleuchten, wird in der vorliegenden Arbeit folgende Frage untersucht: Wie lässt sich Russlands Politik im Syrien-Konflikt aus neorealistischer Sicht erklären?
Bevor dieser Frage nachgegangen wird, ist es ratsam, zunächst die theoretischen Grundlagen zu klären und die neorealistische Theorie der internationalen Beziehungen eingehend vorzustellen. Im Vordergrund stehen dabei die Annahmen, die dem Neorealismus zugrunde liegen und die dementsprechend zur Erklärung des Verhaltens von Staaten herangezogen werden. Danach folgt ein kurzer Überblick über Russlands Politik im Syrien-Konflikt, wobei der Fokus auf Russlands Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und dem russischen Militäreinsatz in Syrien liegt. Anhand des empirischen Forschungsstandes wird anschließend untersucht, wie sich Russlands Syrien-Politik aus der Perspektive des Neorealismus erklären lässt. Ausgehend von der neorealistischen Grundannahme, dass jeder Staat seine Existenz im internationalen System bedroht sieht, wird in der vorliegenden Arbeit die Hypothese geprüft, dass Russlands Politik im Syrien-Konflikt darauf abzielt, seinen Status als Großmacht zu wahren und die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse der Arbeit schließlich zusammengefasst und ein Anreiz für zukünftige Arbeiten gegeben.
2. Theoretische Grundlagen: Neorealismus nach Kenneth Waltz
Der Neorealismus ist eine Theorie der internationalen Beziehungen, die auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Kenneth Waltz zurückgeht. Sein 1979 veröffentlichtes Hauptwerk „Theory of International Politics“ gilt als das Gründungswerk des Neorealismus und stellte bis Ende der 1990er Jahre das einflussreichste Werk in der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen (IB) dar. Waltz knüpfte an die Arbeit traditioneller Realisten an und entwickelte eine neo -realistische Theorie, um den induktiv vorgehenden Realismus eines Hans J. Morgenthau zu systematisieren (Masala 2010, S. 53f.).
Während der klassische Realismus vor allem von den Erfahrungen der beiden Weltkriege geprägt wurde, findet der Neorealismus seinen realhistorischen Ausgangspunkt im Ost-West-Konflikt (Schörnig 2010, S. 65f.).
Sowohl im klassischen Realismus als auch im Neorealismus sind Staaten die zentralen Akteure. Aus neorealistischer Sicht handelt es sich dabei um wesentlich gleiche, einheitliche und rationale Akteure (Masala 2010, S. 54). Weder Staatsformen und Regierungssysteme noch innerstaatliche Prozesse spielen im neorealistischen Verständnis eine Rolle. Staaten unterscheiden sich einzig und allein hinsichtlich der ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel („capabilities“) (Waltz 1979, S. 97f., 131). Sie folgen bei ihren Entscheidungen und Handlungen Kosten-Nutzen-Analysen und nehmen dabei auf die Präferenzen anderer Staaten keine Rücksicht (Schimmelfennig 2010, S. 68). Im Gegensatz zu Morgenthau setzt Waltz nicht auf der individuellen Ebene an, um das Verhalten von Staaten anthropologisch zu begründen, sondern er sieht die Struktur des internationalen Systems als zentrale Erklärungsvariable. Aus diesem Grund wird der Neorealismus auch oft als struktureller Realismus bezeichnet (Schörnig 2010, S. 66). Waltz (1979, S. 79) zufolge besteht das internationale System aus zwei Elementen: den Einheiten des Systems („units“) und der Struktur des Systems („structure“). Die wichtigsten Einheiten des Systems sind die Staaten (Schörnig 2010, S. 71). Die Struktur des Systems wird bestimmt durch die Anordnung der Einheiten im System und ihre Stellung zueinander (Waltz 1979, S. 80). Diese Struktur beeinflusst die Interaktionen zwischen den Staaten, ohne sie allerdings zu determinieren (Masala 2010, S. 59).
Waltz identifiziert drei grundlegende Merkmale, welche die Struktur des internationalen Systems kennzeichnen. Zuerst zu nennen ist das anarchische Ordnungsprinzip. Ebenso wie traditionelle Realisten geht Waltz (1979, S. 88) davon aus, dass im internationalen System Anarchie herrscht. Demnach existiert keine den Staaten übergeordnete Instanz, die allgemeingültige Regeln und Normen beschließt und diese notfalls mit Gewalt durchsetzen kann (Schörnig 2010, S. 65).
Zudem gibt es keine Arbeitsteilung zwischen den Staaten. Kooperation gilt als unwahrscheinlich. Vielmehr sind die Beziehungen zwischen den Staaten durch gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnet. Daraus folgt, dass jeder Staat bei der Gewährleistung seiner Sicherheit auf sich selbst gestellt ist und sich permanent Bedrohungen ausgesetzt sieht (Waltz 1979, S. 107, 1988, S. 619).
Das dritte Strukturmerkmal ist die Machtverteilung im internationalen System. Die Machtverteilung ist die entscheidende Variable im Neorealismus. Die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konfliktaustrages variiert in Abhängigkeit von der Verteilung der Machtmittel zwischen den Staaten. Dabei wird zwischen uni-, bi- und multipolaren Systemen unterschieden. Aus neorealistischer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Konfliktaustrages in einem unipolaren System relativ hoch. Das ist darauf zurückzuführen, dass sich die anderen Staaten durch den Hegemon bedroht fühlen und zu Allianzen zusammenschließen, wodurch sich wiederum der Hegemon herausgefordert fühlt (Schörnig 2010, S. 76f.). Auch multipolare Systeme gelten als eher unsicher und anfällig für Kriege, wohingegen bipolare Systeme als relativ stabil angesehen werden. Während Staaten in einer bipolaren Welt genau wissen, welche Akteure eine Bedrohung darstellen, herrscht in einer multipolaren Welt Unsicherheit, was Bedrohungen, Verantwortlichkeiten und vitale Interessen angeht. Dies führt zu Fehlkalkulationen, aus denen Kriegen entstehen können (Waltz 1988, S. 622f.). Zudem argumentiert Waltz (1979, S. 161ff.), dass es in bipolaren Systemen einfacher ist, durch eine Balancing-Politik ein Mächtegleichgewicht („balance-of-power“) herzustellen. In einem bipolaren System kann bereits durch eigene Aufrüstung (internes Balancing) ein Mächtegleichgewicht erreicht werden. Demgegenüber bedarf es in multipolaren Systemen der Bildung von Allianzen mit anderen Staaten (externes Balancing), was wiederum Probleme mit sich bringt.
Insgesamt bedingt die Struktur des internationalen Systems im Neorealismus ein Streben nach Macht (Masala 2010, S. 59f.). Waltz (1988, S. 616) sieht Macht nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck. Während sehr schwache Staaten Gefahr laufen, angegriffen zu werden, können übermäßig starke Staaten andere Staaten zur Gegenmachtbildung verleiten. Sie sollten daher ein angemessenes Maß an Macht anstreben, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Waltz betont, dass es Staaten letztendlich um Sicherheit geht und nicht um Macht. Unter den Bedingungen eines anarchischen Selbsthilfesystems führt dieses Machtstreben zu einer Machtkonkurrenz, da alle Staaten versuchen, ihre Sicherheit auf diesem Wege zu garantieren (Masala 2010, S. 59f.). Daraus resultiert ein Sicherheitsdilemma. Trifft ein Staat Maßnahmen, um seine Sicherheit zu stärken, wird dies von anderen Staaten als Beeinträchtigung der eigenen Sicherheit aufgefasst (Waltz 1988, S. 619).
Laut Waltz (1979, S. 121) tendiert das internationale System insgesamt zum Mächtegleichgewicht. Aufgrund der Struktur des Systems und des damit einhergehenden Sicherheitsdilemmas ist mit Kriegen allerdings immer zu rechnen (Waltz 1988, S. 620).
3. Russlands Politik im Syrien-Konflikt aus der Perspektive des Neorealismus
Seit dem Beginn des Bürgerkrieges in Syrien im März 2011 hat Russland die Regierung in Damaskus sowohl diplomatisch als auch militärisch unterstützt und sich bemüht, eine militärische Intervention der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten zu verhindern (Allison 2013, S. 795; Averre u. Davies 2015, S. 818ff.). Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew stellte frühzeitig klar, dass Russland im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen keiner Resolution zustimmen wird, die der Libyen-Resolution 1973 ähnelt (Anishchuk u. de Carbonnel 2011). Russlands Politik im Syrien-Konflikt war von Anfang an darauf ausgelegt, eine Wiederholung des Libyen-Szenarios zu verhindern (Trenin 2013, S. 17). So verwies der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin (2011, S. 3f.) bei einer Abstimmung des Sicherheitsrates im Oktober 2011 auf die Tatsache, dass eine vergleichbare UN-Resolution im Falle Libyens den Weg für eine militärische Intervention der NATO geebnet hatte. Er verurteilte die dem Resolutionsentwurf zugrunde liegende „Philosophie der Konfrontation“. Eine solche Vorgehensweise verschärfe den Konflikt in Syrien nur und könne die gesamte Region destabilisieren, so Tschurkin.
Im Februar 2012 blockierte Russland gemeinsam mit China erneut eine Resolution des Sicherheitsrates. Tschurkin (2012a, S. 9) kritisierte die Einseitigkeit des Resolutionsentwurfs und warf „sehr einflussreichen Mitgliedern der internationalen Gemeinschaft“ vor, jede Möglichkeit einer politischen Lösung zu untergraben. Laut Aussagen des an den Verhandlungen beteiligten ehemaligen finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari machte Moskau seine Politik dabei nicht von der Person des syrischen Machthabers Baschar al-Assad abhängig und zeigte sich durchaus kompromissbereit (Borger u. Inzaurralde 2015).
Als die russische UN-Delegation im Juli 2012 zum dritten Mal ihr Veto gegen eine Syrien-Resolution des Sicherheitsrates einlegte, bekräftigte Russlands UN-Botschafter Tschurkin (2012b, S. 8f.) noch einmal, dass die Russische Föderation sich stets um eine politische Lösung bemüht hat, jedoch keiner Resolution zustimmen wird, die den Weg für eine militärische Intervention ebnet. Auch der russische Präsident Wladimir Putin betonte bei seiner Jahrespressekonferenz im Dezember 2012, dass nicht das Schicksal des Assad-Regimes Russland umtreibt, sondern die Frage, was nach dem Sturz Assads passiert. In diesem Zusammenhang führte Putin einmal mehr die Militärintervention der NATO in Libyen als abschreckendes Beispiel an (Herszenhorn u. Cumming-Bruce 2012).
Im Mai 2014 blockierten Russland und China abermals eine UN-Resolution zum Syrien-Konflikt. Tschurkin (2014, S. 12f.) kritisierte Waffenlieferungen des Westens an Oppositionsgruppen und forderte seine westlichen Kollegen dazu auf, ihre Politik der Eskalation zu beenden.
Nachdem das syrische Regime im Frühjahr und Sommer 2015 insbesondere aufgrund der Erfolge der Militärallianz „Dschaisch al-Fatah“ („Armee der Eroberung“) zunehmend unter Druck geriet, entschied sich Moskau auf Anraten der iranischen Regierung zu intervenieren (Bassam u. Perry 2015; van Wilgenburg 2015). Russland begründete sein Einschreiten in Syrien mit dem Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und andere Terrororganisationen (Sengupta 2015). Präsident Putin (2015b) plädierte in seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 28. September 2015 für eine breite internationale Anti-Terror-Koalition, um Terrorgruppen wie dem IS Einhalt zu gebieten. Allerdings hatte Putin (2015a) bereits im Vorfeld keinen Hehl daraus gemacht, dass weniger der Kampf gegen den IS als vielmehr die Unterstützung Assads im Zentrum der russischen Bemühungen stehe. Dies spiegelt sich in den Zielen wider, die von der russischen Luftwaffe seit dem Beginn des Militäreinsatzes am 30. September 2015 in Syrien angegriffen wurden (Kaim u. Tamminga 2015, S. 2f.; Souleimanov 2016, S. 8f.). Innerhalb weniger Monate veränderte Russlands Intervention den Verlauf des Krieges zugunsten des Assad-Regimes (Miller 2016). Daraufhin ordnete Putin (2016) am 14. März 2016 den Abzug des „wesentlichen Teils“ der russischen Soldaten aus Syrien an und erklärte, dass das Verteidigungsministerium und die Streitkräfte ihre Aufgaben weitgehend erfüllt hätten. Nichtsdestotrotz dauert Russlands Militäreinsatz bis dato an und russische Streitkräfte sind nach wie vor maßgeblich an den Kampfhandlungen in Syrien beteiligt. Zudem signalisiert die erstmalige Nutzung einer iranischen Luftwaffenbasis im August 2016, dass Russland jederzeit bereit ist, sein militärisches Engagement in Syrien wieder zu verstärken, sofern es die Situation erfordert (Sharafedin 2016).
Im Folgenden wird untersucht, wie diese Politik Russlands im Syrien-Konflikt aus neorealistischer Sicht erklärt werden kann. Dabei lassen sich zwei mögliche Erklärungsansätze identifizieren. Der erste Ansatz basiert auf der Annahme, dass Russland seine Position im internationalen System, genauer gesagt seinen Status als Großmacht, durch den Konflikt in Syrien bedroht sieht. Der zweite Erklärungsansatz postuliert einen Zusammenhang zwischen dem Syrien-Konflikt und Russlands eigener Sicherheit.
3.1 Syrien-Konflikt - Russlands Status als Großmacht in Gefahr?
Um den Erklärungsgehalt des Neorealismus in Bezug auf die russische Politik im Syrien-Konflikt zu überprüfen, wird zunächst untersucht, inwiefern sich der Konflikt in Syrien auf Russlands Status als Großmacht auswirkt. Da für den Begriff „Großmacht“ keine eindeutige und allgemein akzeptierte Definition existiert, ist es zuerst erforderlich, die Kriterien festzulegen, an denen sich die vorliegende Arbeit orientiert (Schimmelfennig 2010, S. 74). Mearsheimer (2001) nennt drei Kriterien im militärischen Bereich, die den Status einer Großmacht im Wesentlichen bestimmen: Ausreichende militärische Mittel, um in einem konventionellen Krieg gegen den mächtigsten Staat bestehen zu können, nukleare Streitkräfte und Zweitschlagfähigkeit sowie Fähigkeiten zur globalen Machtprojektion (vgl. Klein 2009, S. 7f.). Neben dem militärischen Leistungsvermögen werden in der wissenschaftlichen Literatur zahlreiche weitere Kriterien angeführt, die von der geopolitischen Lage und den diplomatischen Fähigkeiten eines Staates bis hin zur Größe der Bevölkerung reichen (vgl. Kennedy 1987, S. 202; Waltz 1979, S. 131). Da im Falle Russlands viele dieser Kriterien durch den Konflikt in Syrien nicht berührt werden, scheint besonders die Frage interessant, wie sich der Syrien-Konflikt auf Russlands Fähigkeiten zur Machtprojektion und seine wirtschaftliche Macht auswirkt.
Russland unterhält seit Jahrzehnten enge Beziehungen zu Syrien. Zur Zeit des Kalten Krieges galt Syrien als der einzige treue Verbündete der Sowjetunion im Nahen Osten, insbesondere nachdem es in den 1970er Jahren zum Bruch mit Ägypten gekommen war. Allerdings basierte diese Beziehung in erster Linie auf gegenseitiger strategischer Abhängigkeit. Ernsthafte Unstimmig-keiten zwischen Moskau und Damaskus waren keine Seltenheit (Allison 2013, S. 801). Der Zusammenbruch der Sowjetunion stellte die Beziehungen zusätzlich auf die Probe. Dennoch behielt Syrien aus russischer Sicht seinen strategischen Wert. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Russische Föderation bestrebt, gute Beziehungen zu muslimischen Ländern zu unterhalten, um der Radikalisierung der eigenen muslimischen Bevölkerung entgegenzuwirken und den Konflikt im Nordkaukasus nicht ausufern zu lassen (Kreutz 2010, S. 5). Das säkulare syrische Regime erwies sich dabei als zuverlässiger Verbündeter, indem es das russische Vorgehen im Nordkaukasus unterstützte und die tschetschenischen Aufständischen zu Terroristen erklärte (Kreutz 2010, S. 12). Neben starker politischer Unterstützung und Hilfe bei der Sicherung der südlichen Flanke Russlands besteht der strategische Wert Syriens für Moskau auch in der Sicherung des Zugangs zum Mittelmeer (Kreutz 2010, S. 9). Den meisten Einschätzungen zufolge übersteigt der symbolische Wert der syrischen Marinebasis Tartus ihren strategischen Wert. Immerhin ist Tartus der letzte russische Militärstützpunkt außerhalb der ehemaligen Sowjetunion (Allison 2013, S. 807; Trenin 2013, S. 12). Da Tartus der einzige Stützpunkt der russischen Marine im Mittelmeer ist, sollte der strategische Wert jedoch nicht unterschätzt werden (Kreutz 2010, S. 21). Tartus symbolisiert in gewisser Weise die engen mili-tärischen Beziehungen zwischen Russland und Syrien. Während des Kalten Krieges nutzte die Sowjetunion den Tiefwasserhafen zur Lieferung sowjetischer Waffen (Delman 2015). Die Zeiten, in denen Syrien einer der größten Abnehmer sowjetischer Waffen war, sind allerdings lange vorbei (Kreutz 2010, S. 7). Syrien ist zwar nach wie vor ein wichtiger Kunde für die russische Waffen-industrie, aber Verkäufe an Damaskus machen nur einen geringen Teil der russischen Waffenexporte aus. Zudem ist der kommerzielle Nutzen aus russischer Sicht mehr als fraglich, da Syrien durch Waffenkäufe bereits beträchtliche Schulden bei Russland angehäuft hat (Allison 2013, S. 805f.; Trenin 2013, S. 8). Obwohl der Handel zwischen Russland und Syrien insbesondere seit 2004 wieder Fahrt aufgenommen hat, sind Russlands materielle Interessen in seinen bilateralen Beziehungen zu Syrien eher begrenzt (Kreutz 2010, S. 9). Ausschlaggebend für Russlands Syrien-Politik scheinen vielmehr geopolitische Überlegungen zu sein (Allison 2013, S. 805).
Schon vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges betrachtete Russland das Ringen um Syrien vornehmlich als Teil einer westlichen Strategie gegen den Iran (Allison 2013, S. 808f.). Aus russischer Sicht zielt die Syrien-Politik der USA und ihrer engen Verbündeten in der Region - Türkei, Saudi-Arabien, Katar und Israel - in erster Linie darauf ab, dem Iran seinen wichtigsten arabischen Verbündeten zu nehmen und die sogenannte „Achse des Widerstands“ zu brechen (Trenin 2013, S. 14f.). Bereits im März 2007 berichtete der US-amerikanische Enthüllungsjournalist Seymour Hersh (2007), dass die US-Regierung sich entschieden hatte, eine neue Nahost-Strategie zu verfolgen, um den iranischem Einfluss in der Region einzudämmen. Demnach beteiligten sich die USA an verdeckten Operationen gegen den Iran und Syrien, während sie die Durchführung und Finanzierung der Operationen teilweise Saudi-Arabien überließen. Laut Hersh kam es aufgrund dieser neuen Nahost-Strategie der USA zu einer Stärkung sunnitischer Extremistengruppen und einer Verschärfung der Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten in der Region. Quellen aus US-Geheimdienstkreisen bestätigten kurze Zeit später, dass Präsident George W. Bush der CIA die Genehmigung erteilt hatte, den Iran durch verdeckte Operationen zu destabilisieren (Ross u. Esposito 2007).
[...]