In dieser Arbeit soll untersucht werden, inwieweit Lessing die von ihm niedergeschriebene Mitleidspoetik in seinem Drama Miss Sara Sampson umgesetzt hat. Dabei werden neben der Protagonistin auch deren Vater, Liebhaber und Gegenspielerin betrachtet. Wegen des eingeschränkten Umfangs der Arbeit kurz gehalten, aber dennoch nicht unerwähnt bleiben, sollen zum Ende auch Kritik am Werk und die konträr entstandene Pfeil’sche Poetik des Abschreckens mit deren Umsetzung im Stück Lucie Woodvil.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Lessings Poetik des Mitleids
2. Realisierung der Wirkungskonzeption in Miss Sara Sampson
2.1 Sara Sampson
2.2 Mellefont
2.3 Sir William Sampson
2.4 Marwood
2.5 Der fünfte Aufzug
3. Kritik an Sara Sampson
3.1 Zeitgenössische Kritik
3.2 Kritik aus moderner Sicht
Fazit
Literaturverzeichnis S.
Einleitung
Vor über 260 Jahren gehen zwei amüsierwillige junge Männer ins Theater. Das dort gezeigte französische Stück rührt den einen, Moses Mendelssohn, zu Tränen und lässt den anderen, den 26-jährigen Gotthold Ephraim Lessing, völlig kalt. „Alte Weiber zum Heulen bringen“, das könne er auch und sogar noch besser, er brauche keine sechs Wochen für so ein Stück.
Ob sich diese Anekdote über die Entstehung des hier behandelten Werks wirklich so zugetragen hat, kann heute nicht sicher belegt werden. Fest steht aber, dass Lessing sich im Februar 1755 für mehrere Wochen von seinen Freunden zurückzieht und unerkannt in Potsdam aufhält. Dort verfasst er sein Stück Miss Sara Sampson, das noch im gleichen Jahr im sechsten Teil seiner Schriften veröffentlicht wird. Welche Funktionen das Trauerspiel haben kann, soll Lessing jedoch erst nach dessen Erscheinen in seinem Briefwechsel mit Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn darlegen.
Auch, wenn es bei einem so deutlich „am Theoretischen orientierten Geist wie Lessing“[1] erstaunt, dass er vor der Sara keine eigenständige Poetik niedergeschrieben hat, formuliert er nicht vor November 1756 den entscheidenden Antwortbrief an Nicolai, an dessen wesentlichen Positionen er festhalten wird: Das Wecken und Verstärken von Emotionen beim Publikum sei nicht Ziel, sondern lediglich Methode des Bürgerlichen Trauerspiels. Mittels ihrer werde das Theater zur ethisch-moralischen Besserungsanstalt. So betrachtet sei das Sich-Hineinversetzen, das Mitleiden des Publikums mit den dargestellten Figuren die entscheidende, vielleicht sogar die einzige Wirkung, die dem Dichter gelingen müsse.[2]
„Das Trauerspiel soll bessern“ ist Lessings Maxime, der moralisch erhobene Zeigefinger liegt ihm jedoch nicht; vielmehr überwindet er besonders in seinen Frauengestalten den starren Moralismus der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts zugunsten einer humanen Urbanität, von der Goethe später rühmt, dass sie „den Blick in eine höhere bedeutendere Welt“[3] öffne. Lessing, als erklärter Antagonist des Höfisch-Aristokratischen, schafft dessen Gegensatz in der Konzipierung „eines neuen Habitus, eines idealen bürgerlichen Sozialcharakters . “[4]
In dieser Arbeit soll untersucht werden, inwieweit Lessing die von ihm niedergeschriebene Mitleidspoetik in seinem Drama Miss Sara Sampson umgesetzt hat. Dabei werden neben der Protagonistin auch deren Vater, Liebhaber und Gegenspielerin betrachtet. Wegen des eingeschränkten Umfangs der Arbeit kurz gehalten, aber dennoch nicht unerwähnt bleiben, sollen zum Ende auch Kritik am Werk und die konträr entstandene Pfeil’sche Poetik des Abschreckens mit deren Umsetzung im Stück Lucie Woodvil.
1. Lessings Poetik des Mitleids
Im Jahr 1754 veröffentlicht Lessing zwei von ihm selbst übersetzte Abhandlungen über das weinerliche oder rührende Lustspiel.[5] In der kurzen Einleitung schreibt er von den Neuerungen in der dramatischen Dichtkunst, von denen [w]eder das Lustspiel, noch das Trauerspiel, […] verschont geblieben [6] sind:
Das erstere hat man um einige Staffeln erhöhet und das andre um einige herabgesetzt. [… M]an kam also auf den Einfall, die Welt […] an stillen Tugenden ein edles Vergnügen finden zu lassen. Hier hielt man es für unbillig, daß nur Regenten und hohe Standespersonen in uns Schrecken und Mitleid erwecken sollten; man suchte sich […] aus dem Mittelstande Helden, und schnallte ihnen den tragischen Stiefel an, in dem man sie sonst, nur ihn lächerlich zu machen gesehen hatte.[7]
Diese kurze Erklärung bezieht sich auf die Entwicklung der neuen Dramenform des englisch geprägten bürgerlichen Trauerspiels, die neben dem in Frankreich verwurzelten rührenden Lustspiel entsteht.
Von der französischen comédie larmoyante übernimmt das bürgerliche Trauerspiel den Anspruch, durch publikumsnahe Handlung die Bereitwilligkeit zur emotionalen Teilnahme am Schicksal der Mitmenschen zu erhöhen und die Empathie der Zuschauer zu verfeinern. Diese wirkungsästhetischen Ambitionen finden ihren Ursprung im steigenden Bedürfnis des Bürgertums, nicht mehr das hohe Personal der heroischen Tragödie als Vorbilder seiner moralischen Selbstbestimmungsansprüche zu sehen, sondern diese in dramatischen Handlungen, nahe der eigenen gesellschaftlichen Stellung oder zumindest der Wertewelt zu erkennen.[8]
Als Musterbeispiel entstand in England bereits 1731 Lillos The London Merchant. Zwar ohne spezifische Gattungsbezeichnung, enthielt das Stück aber schon die signifikanten Elemente des bürgerlichen Trauerspiels. Besonders bedeutsam für die neue Gattungsform ist die Abkehr von der Dramaturgie der Bewunderung, die für die Gottsched-Ära bestimmend war. Ihren Platz nimmt die Wirkungsabsicht der Rührung ein, wie man sie bereits aus der englischen sentimental comedy kannte.
Auch Lessing bricht mit der heroischen Tradition der Bewunderung und verschreibt sich einer „neuen Ästhetik und Anthropologie des Herzens, der Rührung, des Mitleids.“[9] Er bestimmt in seinem Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai als höchste Aufgabe der Tragödie, für die er sich später auf Aristoteles‘ Poetik beruft: Sie soll unsre Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. [10] Während Nicolai und Mendelssohn die wirkungsästhetischen Aspekte des Trauerspiels im Wesentlichen noch in den Kategorien der Bewunderung und der Fallhöhe sehen, argumentiert Lessing dagegen, es käme vor allem anderen auf das Mitleid an. Seiner Meinung nach bedient das Mitleid nicht nur den künstlerischen Schönheitscharakter, sondern stimuliert darüber hinaus auch das Moralverständnis des Zuschauers: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses.[11]
Lessing hebt mit seiner Neudeutung Mitleid über das Affektive hinaus. Um überhaupt von einem Trauerspiel emotional berührt werden zu können, sind seiner Meinung nach sittliche Tugenden, wie die in der Aufklärung unweigerlich verankerte Uneigennützig- und Menschenfreundlichkeit, essentiell.
Für ihn stellt die aristotelische Dichtungstheorie die Quelle dar, aus der alle späteren Autoren ihre Fluren bewässert haben. [12] Er stimmt ihr zu, dass nicht gezeigt werden darf,
wie makellose Männer einen Umschlag von Glück ins Unglück [… oder] Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben; dies ist […] weder schaudererregend noch jammervoll, [… sondern] der Held übrig [bleibt], der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe […], aber auch nicht wegen Schlechtigkeit […] Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers. [13]
Jedoch hält er deren Mitleidsbegriff für korrekturbedürftig. Laut Aristoteles riefe das Unglück eines von Grund auf tugendhaften Menschen beim Zuschauer Entsetzen und Abscheu hervor, was nach Lessings Verständnis dann fälschlicherweise der höchste Grad des Mitleids sein müsse. Er führt die Deutungen von „Jammern“ und „Schaudern“ in seiner Hamburgischen Dramaturgie auf fehlerhafte Übersetzungen zurück und will in „phóbos“ Furcht in Form von Selbstmitleid erkennen, das er dem Zentralaffekt des Mitleids unterordnet:
Er [Aristoteles] spricht von Mitleid und Furcht, nicht […] Schrecken; […] und es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; […] die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. [D]iese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.[14]
Lessing unterteilt das Mitleiden in drei Stärkegrade, von denen ihm der mittlere als der ideale erscheint:
Ich unterscheide drey Grade des Mitleids, deren mittelster das weinende Mitleid ist, und die vielleicht mit den drey Worten zu unterscheiden wären, Rührung, Thränen, Beklemmung. […] Thränen erweckt er [der Anblick eines Bettlers] nur dann in mir, wenn er mich mit seinen guten Eigenschaften so wohl, als mit seinen Unfällen bekannter macht, und zwar mit beyden zugleich, welches das wahre Kunststück ist, Thränen zu erregen. [15]
Den Grundgedanken von Lessings Tragödienauffassung – die Nachvollziehbarkeit für den Zuschauer – hebt sein für die damalige Zeit ungewöhnliches Stück Miss Sara Sampson bereits deutlich hervor: Keine der Figuren verkörpert ausschließlich positive oder negative Charaktereigenschaften und der Konflikt ergibt sich nicht wie zuvor aus politisch-historischen Handlungsstoffen, sondern aus bürgerlich-privaten Wertewelten. Es gilt als das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel.
2. Realisierung der Wirkungskonzeption in Miss Sara Sampson
2.1 Sara Sampson
Gleich im Dramenauftakt zeigt sich der Opponentenkonflikt, dem die Protagonistin unterliegt: Das Stück beginnt mit Saras Vater und seinem Diener, die in einem Wirtshaus nach ihr suchen. Durch vorehelichen Geschlechtsverkehr in eine missliche Lage geraten ist sie ihrem Geliebten Mellefont in eben jenen Gasthof geflohen, wo sie seit nunmehr acht Wochen darauf wartet, dass dieser sein Heiratsversprechen einlöse. Schon hier wird an die Empfindungsfähigkeit des Publikums appelliert, wenn Sir William sich zärtlich an Sarchen [16] als das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der Sonne gelebt hat [17], erinnert.
Sara ist währenddessen in beklagenswertem Gemütszustand. Zwar hat sie ihre Virginität freiwillig geopfert, jedoch leidet sie schwer unter ihren Gewissensbissen. Weniger als die soziale Ächtung, die ihr droht, macht ihr allerdings der innere Wertekonflikt zu schaffen, der ihr Qualen der Einbildung [18] und Alpträume beschert. Sie will nicht aus Stolz durch eine Heirat ihre Ehre in der Gesellschaft wiederherstellen, sondern sehnt sich allein nach der Einwilligung des Himmels [19], um ihr Gewissen zu beruhigen. Mellefont hingegen sieht es wie ihr Vater: Hat ein einziger [Fehler] so unselige Wirkungen, dass er eine ganze Reihe unsträflicher Jahre vernichten kann: so ist kein Mensch tugendhaft; Sie sind noch die tugendhafte Sara, die Sie vor meiner unglückseligen Bekanntschaft waren. [20]
Ihre Reue begleitet sie unabdingbar durch das gesamte Stück. Nichtsdestotrotz hält sie unbeirrbar und treu an ihrer zärtlichen Liebe zu Mellefont fest. Nicht mal die Eröffnung Marwoods über die gemeinsame Tochter lässt sie in ihrer Loyalität straucheln. Zwar ließe sich diskutieren, dass Sara trotz ihrer Reue zu keinem Zeitpunkt zur Umkehr auf ihrem mit einem Laster begonnenen Weg bereit ist, dennoch ist es die Konstanz ihrer Zuneigung, die von der Tiefe ihrer Liebe überzeugt und Mitleid mit ihr empfinden lässt. Sara ist nicht in der Hitze der Gefühle lasterhaft geworden, sondern für den Mann, den sie aufrichtig liebt und der ihr die Ehe versprochen hat. So sagt sie zur Verteidigung Mellefonts, vielleicht sogar ihrer selbst, zu Marwood:
Es ist wahr; die [Sittenlehre], nach der ich diejenigen zu richten pflege, welche es selbst gestehen, dass sie auf Irrwegen gegangen sind, ist die strengste nicht. Sie muss es auch nicht sein. Denn hier kömmt es nicht darauf an, die Schranken zu bestimmen, die uns die Tugend bei der Liebe setzt; sondern bloß darauf, die menschliche Schwachheit zu entschuldigen, wenn sie in diesen Schranken nicht geblieben ist, und die daraus entstehenden Folgen nach den Regeln der Klugheit zu beurteilen.[21]
Für Marwood ist „Tugend“ ein Begriff, der erst durch soziale Übereinkünfte zur Definition gelangt (Sie ist ohne ihn [den guten Namen] ein albernes Hirngespinst, das weder ruhig noch glücklich macht.[22]), während für Sara die Liebe zur Moral menschlich inhärent ist und ihr zu folgen zur tiefsten Zufriedenheit führt . [23]
2.2 Mellefont
Mellefont, der Ver- und Entführer Saras, ist die einzige Gestalt des Dramas, bei deren Konzipierung Lessing weniger stereotyp bei der Zuschreibung der Empfindungsweisen vorgeht und sie bemerkenswert vielschichtig anlegt. In ihm drückt „sich die Widersprüchlichkeit der Empfindungen selber [aus], die eintritt, sobald der Mensch sich ihnen allein überlässt.“[24] Liegt Saras Verwirrung in gesteigerten Schuldgefühlen begründet, die ihr die unerwartete Verzeihung des Vaters bereiten, so zeigt er eine Unbeständigkeit, die dem „emotionalen Habitus des Leidenschaftsmenschen“[25] zuzuordnen ist.
[...]
[1] Eibl, Karl: Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, Commentatio. Analysen und Kommentare zur deutschen Literatur, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Bd. II, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1971, S. 137
[2] Rochow, Christian: Das bürgerliche Trauerspiel, Universal-Bibliothek Nr. 17617: Literaturstudium, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1999, S. 56ff
[3] Goethe, Johann Wolfgang von: Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Walter Hettche, Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart 2012, S. 302
[4] Mattenklott, Gert: Drama – Gottsched bis Lessing, in Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 1740-1786, Band 4, hrsg. v. Ralph-Rainer Wuthenow, in: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hrsg. v. Horst Albert Glaser, S. 289
[5] Chassirons Reflexions sur le Comique-larmoyant (1749) und Gellerts Pro comoedia commovente (1751)
[6] Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Vierter Band. Dramaturgische Schriften, hrsg. V. Herbert G. Göpfert et. al., Carl Hanser Verlag, München 1973, S. 12
[7] Ebd., S. 13
[8] Vgl. Alt, Peter-André: Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung, Uni-Taschenbücher 1781, A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 1994, S.153
[9] Schings, Hans-Jürgen: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, Verlag C.H. Beck, München 1980, S. 36
[10] Lessing: Werke. Vierter Band, S. 163
[11] Ebd., S. 163
[12] Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Dritter Band. Frühe kritische Schriften, hrsg. V. Herbert G. Göpfert et. al., Carl Hanser Verlag, München 1972, S. 181
[13] Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7828, Reclam, Stuttgart 1982, S. 39
[14] Lessing: Werke. Vierter Band, S. 578f
[15] Ebd., S. 177
[16] Lessing, Gotthold Ephraim: Miss Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 16, Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart 2003, S. 5
[17] Ebd., S. 5
[18] Ebd., S. 13
[19] Ebd., S. 13
[20] Ebd., S. 16
[21] Ebd., S. 79
[22] Ebd., S. 37
[23] Vgl. Alt, S. 207
[24] Michelsen, Peter: Die Problematik der Empfindungen. Zu Lessings „Miß Sara Sampson“, in: Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, Königshausen & Neumann, Würzburg 1990, S. 199
[25] Alt, S. 195