Bis in die heutige Zeit ist der Mythos der Wikinger weltweit von Interesse. Diese saloppe Bezeichnung „Wikinger“ meint die skandinavische Gesamtbevölkerung vom Ende des 8. bis Mitte des 11. Jahrhunderts. Immer wieder sind diese „rauen Gesellen“ Stoff für erfolgreiche Filme, Serien, Buchreihen oder sogar Gemälde. Bis heute versuchen Forscher, den Textzeugen der berühmten Wikingersagas so nah wie möglich zu kommen.
Gegenstand der folgenden Arbeit sind die Wikingerfahrten von Erik dem Roten, der mit seiner Mannschaft Grönland erkundet und Yngvar dem Weitgereisten, der sich in die entgegengesetzte Richtung – nach Osten – aufmacht, um dort fremde Gebiete zu erforschen.
Es soll untersucht werden, ob die in den beiden ausgewählten Sagas sehr unterschiedliche Begegnung mit dem Fremden in der Intention zur Reise begründet liegen könnte. Während Yngvar seine Fahrt unternimmt, um neue Länder zu erkunden, ist Eirík durch seine Verbannung gezwungen, Island zu verlassen und nach einem Ort für eine neue Siedlung zu suchen. Somit stellt sich die Frage, ob diese verschiedenen Gründe für den Aufbruch die Unterschiede in der Darstellung des Fremden ausmachen könnten. Dabei sollen die Verläufe der Reisen einander komparatistisch gegenübergestellt werden. Wegen des eingeschränkten Umfangs der Arbeit werden dabei allein die Teile der Sagas, in denen die Abenteuer dem Andersartigen begegnen, betrachtet. Zuvor soll jedoch der Fremdheitsbegriff einer genaueren Untersuchung unterzogen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Begegnung mit dem Fremden
2.1 Identität und Alterität
2.2 Das Fremde als Relation
2.3 Das Fremde als Bedrohung der Ordnung
3. Die Begegnung mit dem Fremden in den Sagas
3.1 Yngvars saga viðförla
3.2 Eiríks saga rauða
4. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bis in die heutige Zeit ist der Mythos der Wikinger weltweit von Interesse. Diese saloppe Bezeichnung „Wikinger“ meint die skandinavische Gesamtbevölkerung vom Ende des 8. bis Mitte des 11. Jahrhunderts. Immer wieder sind diese „rauen Gesellen“ Stoff für erfolgreiche Filme, Serien, Buchreihen oder sogar Gemälde. Die Faszination für diesen Mythos wird umso verständlicher, da „der Großteil unseres geläufigen Wissens über die Wikingerzeit aus Texten stammt, die von Augenzeugen, Nachfahren, aber auch von mittelalterlichen Historikern in den auf die Wikingerzeit folgenden Jahrhunderten geschaffen wurden.“[1] Bis heute versuchen Forscher, den Textzeugen der berühmten Wikingersagas so nah wie möglich zu kommen.
Gegenstand der folgenden Arbeit sind die Wikingerfahrten von Erik dem Roten, der mit seiner Mannschaft Grönland erkundet und Yngvar dem Weitgereisten, der sich in die entgegengesetzte Richtung – nach Osten – aufmacht, um dort fremde Gebiete zu erforschen.
Es soll untersucht werden, ob die in den beiden ausgewählten Sagas sehr unterschiedliche Begegnung mit dem Fremden in der Intention zur Reise begründet liegen könnte. Während Yngvar seine Fahrt unternimmt, um neue Länder zu erkunden, ist Eirík durch seine Verbannung gezwungen, Island zu verlassen und nach einem Ort für eine neue Siedlung zu suchen. Somit stellt sich die Frage, ob diese verschiedenen Gründe für den Aufbruch die Unterschiede in der Darstellung des Fremden ausmachen könnten. Dabei sollen die Verläufe der Reisen einander komparatistisch gegenübergestellt werden. Wegen des eingeschränkten Umfangs der Arbeit werden dabei allein die Teile der Sagas, in denen die Abenteuer dem Andersartigen begegnen, betrachtet. Zuvor soll jedoch der Fremdheitsbegriff einer genaueren Untersuchung unterzogen werden.
2. Die Begegnung mit dem Fremden
2.1 Identität und Alterität
„Erzeugung von Identität bedeutet notwendig zugleich Erzeugung von Alterität. Das eine ist nur die Kehrseite des anderen.“[2] So arbeiten Aleida und Jan Assmann in ihrem Essay Kultur und Konflikt die Bedeutung des Fremden für die Entwicklung kulturstiftender Identität heraus. Kultur und Konflikt sind durchaus nicht als zweiteiliges Kontrastpaar zu betrachten, lautet der grundlegende Gehalt ihrer Ausführungen. Konflikt entsteht nicht nur da, wo sich keine regulierenden, kulturellen Instanzen wie beispielsweise ein Staatssystem einschalten, sondern zumeist durch die zwingende Abgrenzung bei der Etablierung eines kulturellen Systems von allem, was nicht seiner Gesetzgebung folgt. Hierbei ist die Modellierung von Feindbildern in Bereichen jenseitig der eigenen Kulturwelt , deren gesellschaftlicher Zweck sich in der „Verstärkung von Gruppenkohäsion und Mobilisierung von Gefolgsbereitschaft“[3] manifestiert, vielfach zu beobachten:
„Das ist der Feind, mit dem die eigene Identität steht und fällt. Wer ihn nicht kennt, kennt sich selbst nicht, wer ihn im Konfliktfall nicht vernichtet, riskiert, von ihm vernichtet zu werden. Dieser Feind ist die ‚Negation der eigenen Art von Existenz‘, und damit ebensosehr deren Bestätigung (also braucht man ihn) wie deren Bedrohung (also muss er vernichtet werden).“[4]
Die Modellierung solcher Feindbilder dient vor allem der Festigung und Überhöhung eigener Herrschaftsstrukturen: „Wo immer ein metaphysischer, existentieller Feind auftritt, verbinden sich ‚Herrschaft‘ und ‚Heil‘ zu einer untrennbaren Einheit.“[5]
Folglich erzeugt das Schaffen von Kultur auch immer eine Abgrenzung nach außen, die jedoch nur allzu schnell in xenophober Form Fremdes mit Feindlichem assoziieren lässt. Eine große Rolle hierbei spielt besonders der „naive[…] Egozentrismus“[6], den der Ethnologe Wilhelm Mühlmann so beschreibt:
„Die limitische Struktur grenzt im idealtypischen Fall die ‚Kultur‘ nicht als eine Form der Lebenshaltung ab gegen andere Formen, die auch als ‚Kulturen‘ gelten könnten, sondern sie involviert ‚Kultur‘ schlechthin als die eigene, d. h. als gültigen Kosmos, demgegenüber alle anderen ‚Kulturen‘ als eigentlich untermenschlich gelten. […] Erst allmählich und mühsam wird erlernt, daß das ‚Andere‘ auch Menschenähnlichkeit hat.“[7]
Dies zeigt, wie Kultur zunächst lediglich mit der eigenen Lebensweise verknüpft und die Außenwelt als Region von Barbaren fernab jeglicher Kultur eingestuft wird. Die Einsicht, dass sich die Welt jenseits der eigenen Grenzen aus vielerlei unterschiedlichen Kulturen zusammensetzt, die gleichwertig nebeneinander bestehen und keine Absolutheit einfordern können, ist zwar potentiell erreichbar, jedoch allein auf Basis eines gesteigerten Reflexionsvermögens möglich.
Bei der Übertragung dieser Erwägungen auf den Untersuchungsgegenstand – die beiden Sagas –, scheint deren Erzählkosmos das konzipierte Modell von Kultur und Konflikt erstmal zu bestätigen: Den Kern dieser Sagas bildet der zentrale Bereich der höfischen Kultur, dem der ritterliche Abenteurer aller Regel nach entstammt. Dem gegenüber steht eine Außenwelt jenseits dieser Kultur, die vom Helden erkundet und letztendlich von ihm bezwungen werden muss. In dieser Einverleibung des Außenbereichs, der Herrschaft über zunächst kulturferne, d.h. nicht höfische Bereiche der erzählten Welt, findet der Held seine Bestimmung, sein Heil.
Der Abgrenzungsprozess zwischen beiden Welten wird dabei häufig künstlerisch übersteigert dargestellt, durch leuchtende Symbole und krasse Entwürfe von Feindbildern überdeutlich gekennzeichnet: Hoffeste in vollem Prunk und üppige, geradezu märchenhafte Ausstattung symbolisieren das höfisch Eigene auf der einen Seite, „monströs überzeichnete Gegner wie dunkelhäutige-gestaltwandelnde Berserker als Repräsentanten“[8] hingegen den Raum jenseits höfischer Kultur auf der anderen Seite. Diese Assmannschen Denkfiguren und ihre identitätsstiftende Wirkung lassen sich in ihrer klaren, nahezu xenophoben, Grenzziehung zwischen der eigenen Kultur und der Außenwelt in den ersten bekannten Riddarasögur bereits beispielhaft nachvollziehen.
2.2 Das Fremde als Relation
In seinem Exkurs über den Fremden beschreibt Georg Simmel verschiedene mögliche Fremdheitskonzepte und stellt gleich zu Beginn fest, dass sich beim Fremdsein eine „besondere Wechselwirkungsform“[9] offenbart: „[D]ie Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns, sie stehen jenseits von Fern und Nah.“[10] Folglich kann etwas nur unter der Voraussetzung fremd sein, dass es in Beziehung zu einem anderen gebracht wird – zwei Bereiche, die nicht miteinander interagieren können, realisieren demnach auch kein Verhältnis der Fremdheit, wie unterschiedlich sie auch sein mögen. Zu betonen ist, dass Simmels Darlegungen den Sonderfall eines radikalen, gänzlich unzugänglichen Fremden explizit ausklammern.
Er stimmt jedoch den schon weiter oben ausgeführten Betrachtungen der Assmanns zu, die dem Fremden die Funktion der Identitätsstiftung zuschreiben – dem Fremden, von dem man sich wissentlich zur Konstituierung des Eigenen abgrenzt, spricht man „in xenophobem Ethnozentrismus jede Gemeinsamkeit mit dem Eigenen“[11] ab. Indes arbeitet Simmel dem gegenüber den unverkennbar konstruktiveren Fall heraus, in dem das Fremde sich wechselwirkend mit dem Eigenen austauscht, gleichwohl ohne völlig darin aufzugehen:
„Er [der Fremde] ist innerhalb eines bestimmten räumlichen Umkreises – oder eines, dessen Grenzbestimmtheit der räumlichen analog ist – fixiert, aber seine Position in diesem ist dadurch wesentlich bestimmt, daß er nicht von vornherein in ihn gehört, daß er Qualitäten, die aus ihm nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt.“[12]
Zwar verfasst Simmel diese Definition in soziologischem Kontext, in dem er die jüdische Bevölkerung im mittelalterlichen Europa als charakteristisches Beispiel für eine fremde Gruppe nennt, die sich in einer bestimmten Gesellschaft bewegt „und diese so mit der besonderen Konstellation der Nähe des Fernen konfrontier[t]“[13]. Lässt man Faktoren der räumlichen Fixiertheit und der Gruppe außer Acht und beschränkt sich auf die abstraktere Perspektive des Raumübertritts, ist jene Beobachtung allerdings ohne Weiteres von diesem Kontext lös- und auf die Sagas übertragbar.
Demnach ist der Held einer Riddarsaga ein Fremder, sobald er in die Welt außerhalb des Hofes reist, da er „neue qualitative Merkmale in den Raum hinaus trägt, die diesem nicht inhärent sind“[14]: Er transportiert „das Höfische in die Wildnis, das Menschliche in den Bereich des Monströsen und dergleichen mehr.“[15]
Bisher sind also zwei grundlegende Merkmale des Fremden als Fundament für die vorliegende Arbeit festzuhalten: Zum einen unterstützt es die Etablierung einer kulturellen Identität des Eigenen, die sich vom Fremden in der Außenwelt differenzieren lässt. Zum anderen offenbart sich eine Form der Wechselbeziehung, in der Grenzen passiert und neue Qualitäten in einen Bereich eingebracht werden, der diesen bisher verschlossen geblieben ist.
2.3 Das Fremde als Bedrohung der Ordnung
In seinen Abhandlungen zum Fremden hebt der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels allem voran dessen systemüberschreitenden Charakter hervor. In diesem Kontext beschreibt er verschiedene Ordnungen, zu denen das Andersartige derart in Relation gesetzt wird, dass es außerhalb dieser Ordnung steht: „Mit dem Wandel der Ordnung wandelt sich auch das Fremde, das so vielfältig ist wie die Ordnungen, die es übersteigt und von denen es abweicht.“[16] Die Zergliederung der Welt als Ganzes in verschiedene Teilbereiche mittels einer kulturell begründeten Ziehung von Grenzen, die als anthropologische Grundkonstante begriffen werden kann, ruft Ordnungen hervor, deren konkrete Umsetzung in Fühlen, Denken und Handeln allerdings einer ganzen Reihe von veränderbaren Größen unterliegt:
„Man darf davon ausgehen, dass jede Epoche, speziell gesprochen jede Kultur, Gesellschaft, Lebenswelt oder Lebensform sich in bestimmten Grenzen bewegt, daß aber der Umgang mit den Grenzen, der stets von einer entsprechenden Grenzpolitik begleitet wird, erheblich variiert.“[17]
Demzufolge ist das Eigene das, was innerhalb der Ordnung einer bestimmten Kultur seinen Platz hat und gedacht werden kann. Alles, was sich jenseits dieser festgelegten Grenzen befindet, erscheint fremd: „Eigenes entsteht, indem sich etwas entzieht, und das, was sich entzieht, ist genau das, was wir als fremd und fremdartig erfahren.“[18] Waldenfels betont, dass der Darstellung des Fremden jedoch im Medium der Literatur auch Beschränkungen gesetzt sind. Etwas absolut Fremdes zu beschreiben, liegt nicht im Rahmen der semiotischen Möglichkeiten. Er fügt hinzu, dass „im interpersonalen wie im interkulturellen Bereich von einem […] total Fremden nicht die Rede sein kann. Eine Sprache, die uns völlig fremd wäre, könnten wir nicht einmal als Fremdsprache vernehmen.“[19] Allein ein relatives Fremdes, das aus dem gegebenen Ordnungssystem betrachtbar ist, dieses gleichzeitig in Zweifel zieht und hinterfragt, lässt die Mittel narrativer Darstellung zu.
[...]
[1] Simek, Rudolf 2000: Die Wikinger, Verlag C.H. Beck, München, S. 7
[2] Assmann, Aleida und Assmann, Jan 1990: Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, in: Kultur und Konflikt, hrsg. v. Jan Assmann und Dietrich Harth, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 27
[3] Ebd., S. 21
[4] Ebd., S. 21
[5] Ebd., S. 23
[6] Ebd., S. 28
[7] Mühlmann, Wilhelm 1985: Ethnogonie und Ethnogenese. Theoretisch-ethnologische und ideologiekritische Studie, in: Studien zur Ethnogenese, hrsg. v. Rheinisch-Westfälischer Akademie der Wissenschaften, Westdeutscher Verlag, Düsseldorf, S. 19
[8] Lambertus, Hendrik 2013: Von monströsen Helden und heldenhaften Monstern. Zur Darstellung und Funktion des Fremden in den originalen Riddarasögur, Beiträge zur Nordischen Philologie, hrsg. v. der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien, Bd. 52, A. Francke Verlag, Tübingen, S. 15
[9] Simmel, Georg 1992: Exkurs über den Fremden, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 11, hrsg. v. Otthein Rammstedt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 765
[10] Ebd., S. 765
[11] Lambertus, S. 16
[12] Simmel, S. 765
[13] Lambertus, S. 16
[14] Ebd., S. 16
[15] Ebd., S. 16
[16] Waldenfels, Bernhard 2006: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 15
[17] Ebd., S. 16
[18] Ebd., S. 20
[19] Ebd., S. 118