Wohl jeder gewissenhafte Jurist in Deutschland kennt das Gesetzlichkeitsprinzip, welches meist in lateinischem Gewand als „Nullum crimen, nulla poena sine lege“ (zu Deutsch: Kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz) auftritt. Mit den Worten „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“ ist das Prinzip in Deutschland prominent in Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB niedergeschrieben.
In England erhielt das Gesetzlichkeitsprinzip jedoch erst durch die Implementierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1998 eine – im kontinentaleuropäischen Verständnis - unmittelbare Rechtsgrundlage. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass sich die englischen rechtssetzenden, wie auch die rechtsanwendenden Organe schon lange Zeit vorher an das Gesetzlichkeitsprinzip hielten.
In dieser Untersuchung wird deshalb mit einem Blick auf die Rechtsgeschichte Englands die tiefergehende Grundlage für das Gesetzlichkeitsprinzip herausgearbeitet.
Insbesondere der grundlagenbewusste Jurist verknüpft die englische Rechtskultur mit dem auf Präzedenzfällen beruhenden Common Law. Wohl kaum eine andere Strafrechtsordnung in Europa unterscheidet sich derart vom deutschen Strafrecht wie die englische. Wie das System der Präzedenzfälle funktioniert, soll deshalb ebenso untersucht werden.
Daran anschließend wird unter Eingehung auf die verschiedenen Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips das englische Verständnis von Strafgesetzlichkeit aufgezeigt. Um dem Leser den besten Erkenntnisgewinn zu garantieren, soll diese Darstellung unter Zuhilfenahme anschaulicher Beispiele erfolgen. Bevor ein abschließendes Fazit gezogen wird, soll noch durchleuchtet werden, wie es in England um die Gesamtkodifikation des Strafrechts steht.
Gliederung
A. Einfuhrung
B. Grundlagen des englischen Rechts
I. Rechtshistorischer Uberblick
1. Die Entstehung des Common Law
2. Die Entwicklung englischer Strafgesetzlichkeit
II. Gegenwartige Grundlage des Gesetzlichkeitsprinzips
1. Verfassungsrechtlicher Bezug
2. Rechtstheoretischer Bezug
3. Der Human Rights Act
4. Zwischenfazit
III. Die Rechtsquellen englischen Strafrechts
1. Richterrecht
2. Gesetzesrecht
3. Zusammenspiel
C. Formelle Anforderungen an die Rechtsquelle
I. Aufriss
II. Der Mordtatbestand in England
III. Wurdigung
D. Bestimmtheitsgebot
I. Uberblick
II. Beispielfalle
III. Wurdigung
E. Grenzen der Auslegung und Ruckwirkungsverbot
I. Zusammenhang
II. Grenzen der Auslegung
1. Aufriss
2. Das Prinzip im W andel
III. Ruckwirkungsverbot im Common Law
1. Schaffung von neuen Delikten
2. Aufhebung von Strafausschliebungsgrunden
3. Erweiterung und Schaffung von Strafausschliebungsgrunden
IV. Wider den Autoritarismus
F. Die Idee einer Gesamtkodifikation
G. Resumee
Schriftliche Ausarbeitung
A. Einfuhrung
„Englishmen are ruled by the law, and by the law alone.“ (A.V. Dicey)1
Das Zitat von Albert Venn Dicey, der einer der bedeutendsten Juristen und Theoretiker Englands war, heiBt ubersetzt etwa „Englander werden vom Recht beherrscht, und zwar vom Recht allein“. Inwieweit dieser Satz Geltung beanspruchen kann, ist Gegenstand dieser Arbeit. Wohl jeder gewissenhafte Jurist in Deutschland kennt das Gesetzlichkeitsprinzip, welches meist in la- teinischem Gewand als „Nullum crimen, nulla poena sine lege“ (zu Deutsch: Kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz) auftritt. Mit den Worten „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde “ ist das Prinzip in Deutschland prominent in § 1 des Strafgesetzbuchs niedergeschrieben. Wortgleich wurde das Gesetzlichkeitsprinzip auch in Art. 103 Abs. 2 GG verankert. In England erhielt das Gesetzlichkeitsprinzip jedoch erst durch die Implementierung der Europai- schen Menschenrechtskonvention eine - im kontinentaleuropaischen Ver- standnis - unmittelbare Rechtsgrundlage. Es gibt jedoch Anzeichen dafur, dass sich die englischen rechtssetzenden, wie auch die rechtsanwendenden Organe schon seit langer Zeit an das Gesetzlichkeitsprinzip hielten und nicht erst seit der unmittelbaren Kodifikation durch den Human Rights Act des Jah- res 1998.2 In Teil B. (Grundlagen des englischen Rechts) der Untersuchung wird deshalb mit einem Blick auf die Geschichte Englands die tiefergehende Grundlage fur das Gesetzlichkeitsprinzip herausgearbeitet.
Insbesondere der grundlagenbewusste Jurist verknupft die englische Rechts- kultur mit dem auf Prazedenzfallen beruhenden Common Law. Wohl kaum eine andere Strafrechtsordnung in Europa unterscheidet sich derart vom deut- schen Strafrecht wie die englische. Wie das System der Prazedenzfalle funk- tioniert, soll deshalb ebenso im Grundlagenteil der Arbeit untersucht werden.
Daran anschlieBend wird unter Eingehung auf die verschiedenen Auspragun- gen des Gesetzlichkeitsprinzips das englische Verstandnis von Strafgesetz- lichkeit aufgezeigt. Um dem Leser den besten Erkenntnisgewinn zu garantie- ren, soll diese Darstellung unter Zuhilfenahme anschaulicher Beispiele erfolgen. Bevor ein abschlieBendes Fazit gezogen wird, soll noch durchleuch- tet werden, wie es in England um die Gesamtkodifikation des Strafrechts steht.
Um begriffliche Missverstandnisse zu vermeiden, wird bereits jetzt klarge- stellt, dass in der vorliegenden Untersuchung der Begriff Common Law in seiner engsten Bedeutung verwendet wird. Das heiBt, Common Law ist fol- gend die Bezeichnung fur das Richterrecht, das innerhalb der anglo-amerika- nischen Rechtsordnung neben dem Gesetzesrecht (Statute Law) steht.3
Um sich die historische Bedeutung der englischen Rechtsordnung vor Augen zu fuhren sei erwahnt, dass diese die Ausgangsbasis fur den gesamten anglo- amerikanischen Rechtskreis darstellt. So folgten die USA trotz ihrer Unab- hangigkeit noch bis zum Zweiten Weltkrieg den englischen Prazedenzfallen. Sie entwickelten erst zu Beginn der funfziger Jahre eine eigene hochstrichter- liche Rechtsprechung. Mittlerweile ist dort jedoch das Common Law prak- tisch vollkommen durch das Statute Law verdrangt worden4 Ahnlich entwi- ckelte sich die Rechtskultur in Kanada. Der Commonwealth-Staat hat nach seiner Unabhangigkeit vom Vereinigten Konigreich im Jahr 1867, im Lauf der Zeit nahezu alle Straftatbestande in geschriebenen Bundes- oder Provin- zialgesetzen festgehalten.5 Unmittelbar gilt das englische Strafrecht heute nur noch in England und Wales.6 Schottland und Nordirland haben dagegen eigene Rechtssysteme entwickelt. Dabei gelten aber in Nordirland - anders als in Schottland, das heute ein Mischsystem aus Common Law und Civil Law besitzt - weitgehend die allgemeinen Grundsatze der Rechtsanwendung sowie die gesetzlichen Bestimmungen des englischen Rechts.7
B. Grundlagen des englischen Rechts
I. Rechtshistorischer Uberblick
1. Die Entstehung des Common Law
In England entfallt der wesentliche Anteil an der Ausformung des materiellen Rechts weniger auf die Tatigkeit des Gesetzgebers oder auf Leistungen der Rechtswissenschaft. Vielmehr wurde die Entwicklung des Strafrechts maB- geblich durch die Rechtsprechung gepragt. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 wurden im 12. Jahrhundert unter der Herrschaft des Konigs Henry II. Zentralgerichte gebildet, die fur ganz England verbindlich Gericht hielten.8 In jede Grafschaft Englands kamen drei- bis viermal im Jahr reitende Richter, welche als sogenannte Assize Courts durch das Land reisten und Recht - etwa uber gefangengehaltene, eines schweren Verbrechens Beschuldigte - sprachen. Die Assize Courts waren den Zentralgerichten von Konig Henry II. untergeordnet.9 Die im Auftrag des Konigs reitenden Richter erhielten von diesem auch die Befugnis, ihre eigenen Regeln und Prinzipien zu entwickeln. Aus dem immer groBer werdenden Fundus an Rechtsprechung und von Richtern verfassten Schriften bildete sich ein Richterrecht heraus, das sich auf dem Gebiet des Strafrechts aber auch des Zivilrechts kontinuierlich bis in die Gegenwart fortentwickelt hat.10 Das eng- lische Richterrecht wird seit Anbeginn Common Law (auf Deutsch: „gemein- sames Recht“, „gemeines Recht“)11 genannt, weil es fur ganz England verbindlich war. Es hat sich gegenuber den partikularen Gewohnheitsrechten als vorrangiges Recht durchgesetzt und verdrangte die feudalen Gerichte des re- gionalen Adels.12 Ein Grund fur die damalige Durchsetzung des Common
Law gegenuber den Feudalgerichten war sicherlich auch, dass die richterli- chen Entscheidungen der Assize Courts bereits im 13. Jahrhundert in soge- nannten Year Books aufgezeichnet wurden.13
2. Die Entwicklung englischer Strafgesetzlichkeit
Da das englische Staatsoberhaupt, der Konig, Anfang des 13. Jahrhunderts eine uneingeschrankte Machtstellung innehatte und dieser die Macht oftmals gegenuber seinen Untergebenen willkurlich ausnutzte, fuhrte dies zu merkli- chen Spannungen zwischen den Bewohnern Englands auf der einen Seite und dem Konig und seinem adeligen Gefolge auf der anderen Seite. Dies fuhrte zu einer Schwachung des Konigs, aber auch der Adeligen. So vertieften sich die Graben zwischen den drei Parteien. Da der damalige Konig Johann einen Krieg im Land vermeiden wollte, erlieB er als Zugestandnis an den revoltie- renden Adel im Jahr 1215 die Magna Charta.14 Die Magna Charta war eine Vereinbarung des damaligen englischen Konigs Johann mit den Adeligen und schrankte die Willkur des Konigs in Form einer Urkunde ein.15 In Art. 39 der Magna Charta heiBt es, dass kein freier Mann gefangen genommen werden soll, es sei denn, dies geschieht aufgrund von Landesrecht (Law of the Land).16 Law of the Land - im Original legem terrae - meinte dabei nicht nur das geschriebene Gesetz, sondern umfasst auch das Richterrecht sowie parti- kulare Gewohnheitsrechte.17 Die Bestimmungen des Art. 39 wurden in den folgenden Jahren mehrfach verandert, da sich die Burger Englands die Magna Charta im Laufe der Zeit von den wechselnden Konigen immer wieder neu bestatigen lieBen. Auch in der Petition of Rights, eine Petition die das engli- sche Parlament 1628 an den Konig richtete, wurde die in der Magna Charta garantierte Freiheit und Sicherheit der Staatsburger noch einmal als naturge- geben festgeschrieben.18
II. Gegenwartige Grundlage des Gesetzlichkeitsprin- zips
1. Verfassungsrechtlicher Bezug
Die Magna Charta hat in England nach wie vor eine groBe Bedeutung, obwohl ihre einzelnen Artikel im Laufe der Jahrhunderte durch Parlamentsgesetze weitestgehend abgeandert oder abgeschafft worden sind.19 Korrekt ist es da- mit vermutlich eher festzustellen, dass die Magna Charta fur die englische Verfassung heutzutage eine eher symbolische Bedeutung hat. Diese symbo- lische Bedeutung darf aufgrund des englischen Verfassungsdenkens dennoch nicht unterschatzt werden. Denn das Vereinigte Konigreich besitzt bis heute kein einheitliches, geschriebenes Verfassungsdokument. Die Verfassung be- steht vielmehr aus etlichen Parlamentsgesetzen, Richterrecht und anderweiti- gen Gebrauchen und Gewohnheiten.20 Da das englische Rechtssystem von der Gleichrangigkeit des gesamten gesetzten Rechts ausgeht, haben Parlamentsgesetze mit beispielsweise verfassungsrechtlichen Regelungen aber denselben Rang wie einfache Strafvorschriften21 Konsequenterweise ist dem traditionellen englischen Rechtsdenken damit auch die Vorstellung fremd, dass sich einfache Gesetze oder Gerichtsurteile am MaBstab des Verfassungs- rechts messen lassen mussen, wie dies in Deutschland der Fall ist.22 Nach herkommlicher englischer Vorstellung handelt es sich bei den verfassungsrechtlichen Grundsatzen vielmehr um Prinzipien, die gegebenenfalls anderen, konkret fur wichtiger erachteten Prinzipien zu weichen haben.23 Trotz dem Fehlen einer verfassungsrechtlichen Kontrollmoglichkeit - wie etwa einem Verfassungsgericht - war das Strafrecht traditionell immer an ubergeordneten Prinzipien ausgerichtet24
Ein solch ubergeordnetes Prinzip ist auch die Rule of Law. Nach ganz allge- meiner Auffassung hat die Rule of Law ihren Ursprung in der oben erwahnten Magna Charta.25 Was man unter dem Prinzip Rule of Law versteht, kann wohl nicht auf eine Definition heruntergebrochen werden. Man konnte Rule of Law - wenn auch nur sehr vage - mit dem Begriff Rechtsstaat ubersetzen. Tat- sachlich liegt beiden Konzepten das Anliegen zu Grunde, dass Menschen von Recht und nicht durch Menschen (und somit willkurlich) beherrscht werden.26
2. Rechtstheoretischer Bezug
Mit der Rule of Law hat sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch der Ver- fassungslehrer Albert Venn Dicey ausgiebig befasst. Seine Ausfuhrungen hierzu haben als „book of authority“ gewohnheitsrechtlich Verfassungs- rang.27 Nach seiner klassischen Formulierung verlangt der Gedanke der Rule of Law, dass niemand bestraft werden darf, auBer fur einen klaren Bruch des Rechts, der in den ordentlichen Gerichten festgestellt ist. Jedes staatliche Handeln ist damit dem Gesetz unterworfen und willkurliche Gewalt ausge- schlossen. Die Rule of Law ist in diesem Sinne als Garant zu verstehen, der die Ausubung weiter, willkurlicher und ermessensgeleiteter Gewalt verhin- dert.28 Der Rechtsphilosoph Joseph Raz stimmte uberwiegend mit Dicey uberein, transformiert den Gedanken der Rule of Law jedoch auf eine indivi- duellere Ebene. Nach ihm besagt die Rule of Law, dass Gesetze existieren, damit nicht nach jedem Fehlverhalten erneut ad hoc entschieden werden muss und somit Klarheit geschaffen wird (Law as Authority). Dies dient vornehm- lich der Rechtssicherheit, denn Vorschriften sind in erster Linie dazu da, den Unterworfenen klare Regeln an die Hand zu geben, nach denen sie ihr Ver- halten ausrichten konnen. Auch schreibt Raz, dass Gesetze in die Zukunft gerichtet (prospektiv), offentlich bekannt gemacht und zudem klar formuliert sein mussen29 Der zeitgenossische englische Rechtstheoretiker John Gardner fasste die Rule of Law dahingehend zusammen, dass Strafgesetze so gefasst sein mussen, dass die ihnen Ausgesetzten verlasslich von ihnen gelenkt wer- den konnen. Dies geschieht entweder dadurch, dass Sie eine Gesetzesubertre- tung von Anfang an nicht begehen, oder alternativ, dass sie sich bereits vor der Ubertretung auf die Rechtsfolgen einstellen konnen, die sie nach der Be- gehung zu erwarten haben. Die Rechtsadressaten mussen im Vorfeld wissen konnen, was „Recht“ (im Sinne einer Strafvorschrift) ist und durfen von ihm nicht uberrumpelt werden.30 Die getatigten Ausfuhrungen zu Dicey, Raz und Gardner werden uberwiegend auch von der heutigen englischen Strafrechts- wissenschaft verwendet, um das Gesetzlichkeitsprinzips zu begrunden.31 Als Ausfluss der Rule of Law wird das Gesetzlichkeitsprinzip dort meist als Principle of Legality bezeichnet.32
Ubertragt man diese grundlegenden Gedanken zum Principle of Legality auf Deutschland, wurde man wohl unweigerlich auf die rechtsstaatlichen Merk- male des Vertrauensschutzes oder der Garantiefunktion des Strafrechts kom- men. Auch die Ausfuhrungen von Raz, der in der Rule of Law ein Institut sieht, das einzelfallbezogene Willkurakte verhindert und stattdessen ein vor- hersehbares und klar organisiertes Strafrecht fordert, zeigen die Parallelen zum Gesetzlichkeitsprinzip in der uns bekannten Form. Denn auch in Deutschland hat das Gesetzlichkeitsprinzip unter anderem den Zweck, die Staatsgewalt an bestimmte Grundsatze zu binden und dadurch die Freiheit des Staatsburgers gegen obrigkeitliche, willkurliche Eingriffe zu sichern. Diese Idee des politischen Liberalismus ist in Deutschland ein heute noch tragendes Fundament des Gesetzlichkeitsprinzips.33 Eine andersartige Begrundung des Gesetzlichkeitsprinzips wurde insbesondere durch Paul Johann Anselm von Feuerbach gegeben. Er verlieh der Idee der Strafgesetzlichkeit mit dem Satz „nulla poena sine lege“ auch ihren endgultigen Ausdruck34, indem er auf vo- rangegangene rechtstheoretische Uberlegungen anderer europaischer Philo- sophen zuruckgriff.35 Nach Feuerbachs Idee ist namlich, wenn der Zweck der Strafdrohung in der Abschreckung der Tatgeneigten liegt, eine psychische Beeinflussung desselben nur erreichbar, wenn die verbotene Handlung vor der Tat moglichst exakt gesetzlich festgelegt ist. Wenn aber die Strafvor- schrift vor der Tat fehlt oder etwa unbestimmt ist, so kann keine Abschre- ckungswirkung eintreten. Heutzutage wird die Androhungsgeneralpravention Feuerbachs als Begrundung fur das Gesetzlichkeitsprinzip jedoch weitgehend fur nicht mehr tragbar gehalten.36
3. Der Human Rights Act 1998
Mit dem Human Rights Act 1998 (HRA) hat das Vereinigte Konigreich GroB- britannien und Nordirland die Europaische Menschenrechtskonvention (EMRK) wortlautgleich in das nationale Recht implementiert.37 Der HRA trat im Jahr 2000 in Kraft. Der Grund fur die Kooptation war, dass wenn ein Fall bisher vor den Europaischen Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) ge- bracht wurde, dies bis zu funf Jahre Zeit in Anspruch nahm. Denn vor einer Anrufung des EGMR musste der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschopft werden. Auch brachte ein solch langer Prozessweg im Durchschnitt Kosten von 30.000 Pfund mit sich.38 Kurzum, die Erhohung des Rechtsschutzes fuhrte zur Implementierung der EMRK.
Der dadurch kooptierte Art. 7 Abs. 1 EMRK besagt:
„No one shall be held guilty of any criminal offence on account of any act or omission which did not constitute a criminal offence under national or international law at the time when it was committed. Nor shall a heavier penalty be imposed than the one that was applicable at the time the criminal offence was committed. “39
Nunmehr ist das Gesetzlichkeitsprinzip explizit im englischen Recht veran- kert. Doch wurde damit nicht nur eine gesetzliche Grundlage fur das Gesetzlichkeitsprinzip in England geschaffen, auch ist gemaB Section 2 Human Rights Act bei der Auslegung von Konventionsrechten, als auch beim Ge- setzlichkeitsprinzip die Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte (EGMR) zu beachten. Daruber hinaus muss die englische Rechtsprechung die englischen Gesetze gemaB Section 3 Human Rights Act so auslegen, dass sie mit der EMRK vereinbar sind.40
4. Zwischenfazit
Wie gezeigt wurde, lieB sich das Principle of Legality bis zum HRA nicht unmittelbar aus der Verfassung ableiten. Vielmehr entstammt es der Rule of Law, die dem englischen Rechtsdenken seit langem inharent ist. Seit 2000 gilt das Gesetzlichkeitsprinzip nun in Form von Art. 7 der Europaischen Men- schenrechtskonvention in England. Ob sich die englischen Organe - das heiBt die Judikative und Legislative - an die Bestimmungen hielten, die vom Principle of Legality ausgehen, wird Gegenstand der Untersuchung sein.
III. Die Rechtsquellen englischen Strafrechts 1. Richterrecht
a) Uberblick
Im Jahre 2005 wurde durch den Constitutional Reform Act ein Oberster Ge- richtshof (Supreme Court) fur England, Wales und Nordirland in Strafsachen beschlossen, der 2009 schlieBlich seine Arbeit aufnahm. Auf diesen wurde die rechtsprechende Funktion des britischen Oberhauses (House of Lords) ubertragen.41 Bis zum Jahr 2009 war das House of Lords das hochste britische Gericht in Zivil- und Strafsachen, zugleich aber auch als Oberhaus die zweite Kammer des Parlaments. Die beiden Funktionen des House of Lords sind dadurch getrennt, dass Rechtsfalle nur von eigens dazu ernannten Law Lords beurteilt werden durfen. Von den politischen Entscheidungen des House of Lords waren die Law Lords dagegen strikt ausgenommen. Diese personelle Trennung basierte jedoch lediglich auf Gewohnheitsrecht.42 Um einer konse- quenten Gewaltenteilung nachzukommen, die in GroBbritannien seit langem hochgehalten wird43, kam es zur Etablierung des Supreme Court.44 Dies darf aber nicht uber die Tatsache hinwegtauschen, dass auch der Supreme Court nach 2009 nicht nur Recht spricht, sondern auch Recht setzt. Denn im Common Law kommt den richterlichen Entscheidungen auch heute noch der Rang einer primaren Rechtsquelle zu. Die Rolle und rechtsbildende Kraft der ge- richtlichen Entscheidungen ist dabei aber nirgends gesetzlich ausgesprochen, sondern beruht lediglich auf jahrhundertelangem Gewohnheitsrecht.45 Die Prazedenzfalle (Precedents) werden heutzutage in gerichtlich autorisierten of- fiziellen Sammlungen (Law Reports) veroffentlicht46 Von einem ungeschrie- benen Recht, wie das Common Law umgangssprachlich wohl manchmal be- zeichnet wird, kann also nicht die Rede sein.47 Damit das Common Law- System bei seinen Unterworfenen Rechtssicherheit erzeugen kann, braucht es jedoch klare Regeln, unter welchen Voraussetzungen ein Fall die Entschei- dung eines spateren Falls beeinflusst. Das Common Law baut auf einem Pra- judiziensystem auf, welches davon ausgeht, dass eine neue Entscheidung sich grundsatzlich und verbindlich an einer Vorangegangenen zu orientieren hat (Principle of Stare Decisis).48 Die Gultigkeit dieses Prinzips wurde dabei nie gesetzlich festgelegt, sondern basiert lediglich auf einem jahrhundertelangen Brauch49
b) Bindung durch Prazedenzfalle
Damit ein Gericht bei der Entscheidung eines konkreten Falls an einen fruhe- ren Prazedenzfall gebunden ist, ist Voraussetzung, dass der Sachverhalt des zu entscheidenden Falls mit demjenigen des Prazedenzfalls vergleichbar ist, es durfen mithin keine wesentlichen Unterschiede (Material Distinctions) zwischen ihnen bestehen.50 Was genau unter wesentlichen Unterschieden zu verstehen ist, ist auch in der englischen Rechtswissenschaft nicht klar. Fakt ist jedoch, dass es den Richtern obliegt, diese Unterscheidungen durch sog. distinguishing vorzunehmen.51 Ihnen ist also ein gewisser Ermessensspiel- raum bei der Anwendung von Prazedenzfallen zugewiesen. Willkurliches distinguishing kam in der vergangenen Rechtsprechung aber kaum vor, da dies durch das Standesethos der Richter verhindert wurde.52 Bei der Bindung an Prazedenzfalle haben aber nur Rechtsfestlegungen Bindungswirkung. Fest- stellungen die das Gericht im Hinblick auf Tatsachen getroffen hat, sind irrelevant. Innerhalb der Rechtsfestlegungen nehmen wiederum nur Aspekte an der Bindungswirkung teil, die in einem konkreten Fall notwendig waren, um zu dem betreffenden Urteil zu gelangen. Diese entscheidungserheblichen Rechtsgedanken werden Ratio Decidendi genannt.53 Jeder Prazedenzfall ist also nicht nur die Entscheidung eines Einzelfalls, sondern ist im Rahmen der Ratio Decidendi innerhalb des Common Law - abstrahiert von den materiel- len Tatsachen des Einzelfalls - stets Trager eines Rechtssatzes. Der Grund- satz der Bindung von Prazedenzfallen gilt jedoch nur insoweit, als dass je- weils untere Gerichte an die Entscheidungen von hoheren Instanzgerichten gebunden sind. Dies bedeutet, dass bindende Prazedenzfalle nur durch die Entscheidungen der strafrechtlichen Abteilung des Court of Appeal und in hochster Instanz durch die des Supreme Court geschaffen werden konnen. Urteile der untersten Gerichte, County Courts und Magistrate‘s Courts, ent- falten in keiner Weise Bindungswirkung und werden im Regelfall auch nicht publiziert.54
Als feststand, dass die Europaische Menschenrechtskonvention in das engli- sche Recht implementiert wird, wurde unter englischen Juristen diskutiert in- wieweit die Entscheidungen des Europaischen Gerichtshofs fur Menschen- rechte (EGMR) Bindungswirkung gegenuber den nationalen Gerichten haben. Im Jahr 1997 wurde vom House of Lords noch betont, dass EGMR- Urteile uber Fallen, an denen das Vereinigte Konigreich nicht beteiligt war, keine Bindungswirkung gegenuber den englischen Gerichten haben.55 Die Lords ruderten mit ihrer Auffassung diesbezuglich im Jahr 2001 etwas zu- ruck, als sie feststellten, dass Entscheidungen des EGMR immer gefolgt wird, insoweit dies moglich ist.56 Dieses Eingestandnis ist aber, wie es scheint, eher politischer Natur. Denn nur dadurch kann verhindert werden, dass der EGMR
Urteile des House of Lords (nun Supreme Court) wieder aufhebt. Auch hat England mit der Kooptierung der EMRK durch den Human Rights Act (HRA) 1998 in Section 2 festgelegt, dass bei der Auslegung der Konventi- onsrechte die Rechtsprechung des EGMR berucksichtigt werden muss. Dar- uber hinaus mussen die englischen Gesetze nach Section 3 HRA so ausgelegt werden, dass sie mit der EMRK vereinbar sind.57
c) Lockerung der Bindungswirkung
Im Jahr 1966 gab das House of Lords durch das Practice Statement58 den Grundsatz, dass es auch streng an seine eigenen fruheren Entscheidungen ge- bunden ist, auf. Denn bis dahin mussten die Lords - im Interesse der Rechts- sicherheit - einen von ihnen selbst entschiedenen gleichgelagerten Praze- denzfall auch dann anwenden, wenn sich die fruhere Entscheidung als rechtlich „falsch“ herausgestellt hat und ein Bedurfnis nach einer Reform des Rechts bestand.59 Bis 1966 konnte eine Korrektur der hochstrichterlichen Rechtsprechung nur durch den Gesetzgeber erfolgen, was sich aufgrund des burokratischen Gesetzgebungsverfahrens als wenig praktikabel erwies.60 Auch schien das Parlament oft schlichtweg kein Interesse daran zu haben not- wendige Gesetzesreformen zu beschlieBen.61 Mit der Aufgabe der Selbstbin- dung 1966 wollte das damalige House of Lords deswegen sich selbst62 die Moglichkeit schaffen, durch „Overruling“ ihre Rechtsprechung zu korrigie- ren und das Recht den veranderten gesellschaftlichen und sozialen Entwick- lungen anzupassen.63 Die Einfuhrung des „relativen Stare Decisis“64 scheint bei manchem Leser im Hinblick auf das Gesetzlichkeitsprinzip ein gewisses Unbehagen auszulosen. Deswegen ist es auch ein Ziel dieser Untersuchung herauszuarbeiten, ob dieses Gefuhl berechtigt ist oder nicht.
[...]
1 Zitiert nach Williams, General Part, S. 575.
2 Vgl. Forster, in: Teilbd. 2, S. 29.
3 Blumenwitz, Einfuhrung, S. 12; vgl. Graf v. Bernstorff, Einfuhrung, S. 4: Oftmals wird „Common Law“ auch als Bezeichnung fur den gesamten anglo-amerikanischen Rechtskreis in Abgrenzung zum „Civil Law“, dem Recht der kontinentaleuropaischen Staaten, herange- zogen.
4 LaFave, Criminal Law, S. 78, 80.
5 Vgl. Wright, UTLJ 1942, 247 ff.: Urteile, die der englische Oberste Gerichtshof vor dem Jahre 1867 getroffen hat, sind fur kanadische Gerichte jedoch immer noch bindend, wenn dieselbe Rechtsfrage nicht vom Obersten Gerichtshof Kanadas inzwischen neu entschieden wurde. Dies gilt in erster Lime aber fur das Zivilrecht, da das kanadische Strafrecht durch den Criminal Code mittlerweile weitgehend kodifiziert ist.
6 Boylan-Kemp, English Legal System, S. 4.
7 Grinhut, in: Auslandisches Strafrecht, S. 157 ff
8 Baker, Legal History, S. 14.
9 Eingehend zur Entwicklung der Assize Courts Spencer, Jackson’s Machinery, S. 4 f.
10 Milsom, Historical Foundations, S. 27 ff.
11 Graf v. Bernstorff, Einfuhrung, S. 3.
neues Urteil ersuchen. Das Billigkeitsrecht hat heutzutage uberwiegend im Zivilrecht Bedeu- tung, nicht jedoch im Strafrecht.
13 Spencer, Jackson’s Machinery, S. 13.
14 Schottlander, Nulla poena sine lege, S. 24 ff
15 Leyland, Constitution, S. 15.
16 Art. 39, Magna Charta: „No freeman shall be seized, or imprisoned, or dispossessed, or outlawed, or in any way destroyed; nor will we condemn him, nor will we commit him to prison, excepting by the legal judgment of his peers or by the laws of his land“, zit. nach Forster in: Teilbd. 2, S. 29.
17 Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, Rn. 41.
18 Schottlander, Nulla poena sine lege, S. 29.
19 Leyland, Constitution, S. 15.
20 Boylan-Kemp, English Legal System, S. 3.
21 Das, Moglichkeiten der Angleichung, S. 239.
22 Vgl. Vogel, GA 1998, 127 (138); Helmert, Strafatbegriff, S. 91.
23 Halsbury’s Laws of England: Constitutional Law and Human Rights, S. 6, zit. nach Boylan-Kemp, English Legal System, S. 9.
24 Das, Moglichkeiten der Angleichung, S. 240.
25 Forster, in: Teilbd. 2, S. 29.
26 Eingehend zu den Unterschieden zwischen Rule of Law und Rechtsstaat, die vor allem historisch bedingt sind, Slapper/Kelly, Legal System, S. 29.
27 Yardley, British Constitutional Law, S. 74; Graf v. Bernstorff, Einfuhrung, S. 35.
28 Dicey, Studium des Verfassungsrechts, S. 264.
29 Raz, Authority of Law, S. 212 ff.
30 Einleitung von Gardner in Punishment and Responsibility, H.L.A. Hart, 2. Auflage, Oxford 2008, S. 36, zit. nach Simester/Spencer u.a., Theory and Doctrine, S. 21.
31 Exemplarisch Williams, General Part, S.575; Horder, Ashworth’s Principles, S. 82; Simester/Spencer u.a., Theory and Doctrine, S. 21.
32 So bspw. Herring, Criminal Law, S. 11; Horder, Ashworth’s Principles, S. 82; Simester/Spencer u.a., Theory and Doctrine, S. 22 verwenden die Bezeichnung Nullum Crimen Principle.
33 Roxin, AT I, § 5 Rn. 19 ff., so auch zu folgendem Text.
34 Ebd. Fn. 29: Feuerbach fasste mit dem Wort „poena“ sowohl das strafbare Verhalten (crimen) als auch die Strafe (poena) zusammen. Heutzutage wird meistens, wenn auch nicht immer, zwischen diesen beiden Begriffen unterschieden und „nullum crimen, nulla poena sine lege“ formuliert.
35 Insbesondere Beccarias 1764 erschienenes Werk „Dei delitti e delle pene“ stellt eine be- deutende rechtstheoretische Grundlage des Gesetzlichkeitsprinzips dar, vgl. Schottlander, Nulla poena sine lege, S. 40 ff.
36 So Roxin, AT I, § 5 Rn. 23, der aber der Straftheorie Feuerbachs als Begrundung fur das Gesetzlichkeitsprinzip unter dem Umstand, dass der „positive Aspekt“ der Generalpraven- tion der Androhungsgeneralpravention angefugt wird, dennoch etwas abgewinnen kann. Eine ausfuhrliche Kritik an der Androhungsgeneralpravention als Begrundung fur das Gesetzlichkeitsprinzip erfolgt durch Greco, Lebendiges und Totes, S. 253 ff.
37 Jefferson, Criminal Law, S. 9.
38 Home Office, Rights brought Home: The Human Rights Bill, 1997, Rn. 1.14.
39 Zit. nach Forster, in: Teilbd. 2, S. 31.
40 Ormerod, Smith and Hogan’s, S. 21 f.
41 Leyland, Constitution, S. 202 f.
42 Das, Moglichkeiten der Angleichung, S. 65.
43 Vgl. Boylan-Kemp, English Legal System, S. 7.
44 Kritisch Woodhouse, in: IJCL 2007, 153 ff
45 Watzek, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 9.
46 Smith, Bailey and Gunn on the Modern English Legal System, 4. Aufl., London 2002, Rn. 7-36 ff., zit. nach Helmert, Straftatbegriff, S. 85.
47 Huber, ZStW 2003, 723 (726): Auch der englische Jurist Blackstone nannte (im 18. Jahr- hundert) das Common Law „unwritten law“, obwohl er es teilweise sogar selbst literarisch bearbeitet hat und damit niederschrieb.
48 Boylan-Kemp, English Legal System, S. 37.
49 Huber, ZStW 2003, 723 (727).
50 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 105, 221.
51 So spricht Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, S. 254 (m.w.N.) von dem „erheblichen praktischen Freiraum des englischen Richters im Geflecht der verbindlichen Prajudizien“.
10
52 So Huber, ZStW 2003, 723 (728).
53 Watzek, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 16 f.
54 Huber, ZStW 2003, 723 (727).
55 House of Lords, 583 HL Official Report, 5th Series, col. 511 (18.11.1997), zit. nach Boylan-Kemp, English Legal System, S. 41.
56 R. v. Secretary of State for the Environment, T ransport and the Regions (2001) UKHL 23.
57 Forster, in: Teilbd. 2, S. 31.
58 Practice Statement1966 3 All ER 77.
59 Plotzgen, Prajudizienrecht, S. 48.
60 Dias, CLJ 1966, 153 (155); Watzek, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 18.
61 So Hemraj, in: EJLR 2002, 447 (448), der sich jedoch in erster Lime auf Zivilrecht bezieht.
62 Der Court of Appeal hingegen ist auch nach dem Practice Statement 1966 grundsatzlich noch an seine eigenen Entscheidungen gebunden
63 Spencer, Jackson’s Machinery, S. 12.
64 Plotzgen, Prajudizienrecht, S. 48.