Vermutlich jeder von uns möchte des Öfteren etwas wagen oder den Mut aufbringen, a) etwas außerhalb der gesellschaftlichen Norm zu machen, zum Beispiel die schon lange Angebetete am Nebentisch in der Mensa einfach spontan küssen, oder b) etwas tun, das ihn aufgrund körperlicher und mentaler Grenzen in einen rauschhaften Kickzustand versetzt, zum Beispiel sich von einem Hochhaus an einem Bungee-Seil stürzen oder mit einem Fahrzeug eine exorbitante Geschwindigkeit aufnehmen. Das Roofing, derzeit überaus beliebt bei einer Vielzahl von Jugendlichen, treibt diese Suche und Erfüllung von Nervenkitzel und Rausch auf die Spitze. Roofer klettern auf immens hohe Gebäude oder Ähnliches, manchmal ein paar hundert Meter hoch, um in schwindelerregender Höhe am Abgrund sitzend oder akrobatisch an einer Stange hängend Fotos oder kurze Videos per Handy von sich zu machen, die sie beispielsweise auf Instagram hochladen, um Anerkennung zu bekommen.
Das im Folgenden ausgebreitete Spielkonzept möchte sich mit diesen Phänomen auseinandersetzen, eben a) aufgrund des dauerhaft latenten Begehrens des Menschen (und vor allem auch der jugendlichen Schüler*innen) bezüglich dieser Grenzüberschreitungen und b) aufgrund der aktuellen jugendkulturellen Erscheinungsform des Roofens. Inspirationsquellen sind hierbei der gegenwärtig in den Kinos gezeigte Jugendfilm „Nerve“ von Joost und Schulman und die Romanvorlage „Nerve. Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen“ von Ryan, die die Thematik mittels eines fiktiven App-Spiels aufgreifen, bei dem grenzüberschreitende Challenges bestanden und unmittelbar beziehungsweise live hochgeladen werden müssen.
Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer kurzen Darstellung, welche Lernchancen Darstellendes Spiel im Allgemeinen bietet, um sich auch einer solchen Thematik anzunähern. Hernach wird das im Roman kreierte Spiel „Nerve“ kurz skizziert und mit verschiedenen Parametern eines mustergültigen Spiels abgeglichen, definiert nach Huizinga und Caillois. Diese Ausführungen dienen dafür, um sich in „Nerve“ einzufühlen, damit das danach entwickelte Spielkonzept nachvollziehbar ist und damit eigene Ideen für den Arbeitsprozess mit Schüler*innen angestoßen werden. Die Ausarbeitung mündet schließlich in einer Abschlussbetrachtung.
Inhaltsverzeichnis
1. Motivation für den Spielstoff und Überblick über die Ausarbeitung
2. Wozu überhaupt Darstellendes Spiel?
3. Charakterisierung des Spiels „Nerve“
3.1 Kurzcharakterisierung und Ziel des Spiels
3.2 Abgleich von „Nerve“ mit der Definition des Spiels nach Huizinga/ Caillois
3.3 Abgleich von „Nerve“ mit den Grundkategorien eines Spiels nach Caillois
3.3.1 Agôn
3.3.2 Alea
3.3.3 Mimicry
3.3.4 Ilinx
3.4 Spielverderberin/Spielverderber, Falschspielerin/Falschspieler und Korruption des Spiels
3.4.1 Spielverderberin/Spielverderber und Falschspielerin/Falschspieler
3.4.2 Korruption des Spiels
4. Spielkonzept frei nach „Nerve“
4.1 Kollektiver Regieprozess
4.2 Identität und Rollen
4.3 Realität oder Fiktion? Theater, Spiel oder wirkliches Leben?
4.4 Ilinx und Challenges
4.5 Bewegungsgestik und Tanz
5. Kurze Abschlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
1. Motivation für den Spielstoff und Überblick über die Ausarbeitung
Vermutlich jeder von uns möchte des Öfteren etwas wagen bzw. den Mut aufbringen, a) etwas außerhalb der gesellschaftlichen Norm zu machen, bspw. die schon lange Angebetete am Nebentisch in der Mensa einfach spontan küssen, oder b) etwas tun, das ihn aufgrund körperlicher und mentaler Grenzen in einen rauschhaften Kickzustand versetzt, z.B. sich von einem Hochhaus an einem Bungee-Seil stürzen oder mit einem Fahrzeug eine exorbitante Geschwindigkeit aufnehmen. Das Roofing, derzeit überaus beliebt bei einer Vielzahl von Jugendlichen, treibt diese Suche und Erfüllung von Nervenkitzel und Rausch auf die Spitze. Roofer klettern auf immens hohe Gebäude o.Ä., manchmal ein paar hundert Meter hoch, um in schwindelerregender Höhe am Abgrund sitzend oder akrobatisch an einer Stange hängend Fotos oder kurze Videos per Handy von sich zu machen, die sie z.B. auf Instagram hochladen, um Anerkennung zu bekommen.
Das im Folgenden ausgebreitete Spielkonzept möchte sich mit diesen Phänomen auseinandersetzen, eben a) aufgrund des dauerhaft latenten Begehrens des Menschen (und vor allem auch der jugendlichen Schüler*innen) bezüglich dieser Grenzüberschreitungen und b) aufgrund der aktuellen jugendkulturellen Erscheinungsform des Roofens. Inspirationsquellen sind hierbei der gegenwärtig in den Kinos gezeigte Jugendfilm „Nerve“ von Joost und Schulman und die Romanvorlage „Nerve. Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen“ von Ryan, die die Thematik mittels eines fiktiven App-Spiels aufgreifen, bei dem grenzüberschreitende Challenges bestanden und unmittelbar bzw. live hochgeladen werden müssen.
Die vorliegende Arbeit beginnt mit einer kurzen Darstellung, welche Lernchancen Darstellendes Spiel im Allgemeinen bietet, um sich auch einer solchen Thematik anzunähern. Hernach wird das im Roman kreierte Spiel „Nerve“ kurz skizziert und mit verschiedenen Parametern eines mustergültigen Spiels abgeglichen, definiert nach Huizinga und Caillois. Diese Ausführungen dienen dafür, um sich in „Nerve“ einzufühlen, damit das danach entwickelte Spielkonzept nachvollziehbar ist und damit eigene Ideen für den Arbeitsprozess mit Schüler*innen angestoßen werden. Die Ausarbeitung mündet schließlich in einer Abschlussbetrachtung.
2. Wozu überhaupt Darstellendes Spiel?
Mittels des Darstellenden Spiels in der Schule können ganzheitliche Lern- und Erfahrungsprozesse realisiert werden, da für das Kreieren eines Theaterstückes und das Mitspielen in diesem alle Wesensmerkmale und Artikulationsformen eines Menschen einzubringen sind (vgl. Linck 2006: Abschn. 11). Durch den hierfür unabdingbaren Einsatz von jeglichem verbalen und/oder nonverbalen sowie von verschiedenem kreativ-ästhetischen Ausdruck über kognitive, sinnliche und emotionale Prozesse kann dabei eine erfahrungsgesättigte Begegnung mit der Welt außer- und auch innerhalb des Ichs stattfinden (vgl. ebd.: Abschn. 15). Sofern die Inhalte des selbst entwickelnden oder verwendeten Theaterstoffes genügend Tiefe besitzen, bspw. in moralisch-ethischer oder selbstreflexiver Hinsicht, kann somit ein Bildungsprozess angeregt werden, der dem Humboldt’schen Bildungsgedanken äußerst nahe kommt (vgl. ebd.: Abschn. 4). Gemeint ist in diesem Sinne das Verständnis von Bildung, mit der Zielvorstellung, dass der Lernende zu einem autonomen, wahrhaften, lebendigen, seine persönliche Bestimmung gefundenen Selbst unter verantwortungsvoller Achtung der Mitmenschen und des umgebenden Lebensraumes finden kann, eben durch die kritisch-differenzierte, selbstgesteuerte Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Gesamtumfeld und seiner eigenen Persönlichkeit (vgl. Adorno 1959). Aufgeschlüsselt heißt dies bspw.:
- Es kann spielerisch erfahren (und sozusagen probehalber durchlebt) werden, wie Figuren im zu spielenden Stück mit bestimmten, durchaus schwierigen Lebenslagen umgehen, die die Heranwachsenden in ihrem Alltag selbst auch zu bewältigen haben (vgl. Hüther 2009).
- Durch das Spiel und die Reflexion verschiedenster, auch gegensätzlicher Rollenentwürfe lernen die Heranwachsenden Lebensweisen und Kulturformen kennen, welche die eigenen Neigungen und Fähigkeiten mitunter erst zutage fördern können. Nur wer eben auch alternativen Lebenskonzepten außerhalb des eigenen Umfeldes begegnet ist, kann erfahren, was ihm das Dasein noch alles so bieten kann (vgl. Reiss 2014: Abschn. 4).
- Ebenfalls tauchen die Schüler*innen a) im Spiel mit den Mitschüler*innen, b) in der Projektrealisierung eines Stückes mit all seinen Phasen (von der Themenwahl bis zur Reflexion einer durchgeführten Aufführung) sowie c) im Spiel einer Rolle (so gekonnt, als wäre diese tatsächlich unmittelbar gegenwärtig) in besonderer Weise in andere Denkweisen ein und erleben Kommunikationstechniken. Durchaus können so ein offenerer Umgang mit jeglichem Gegenüber beim Lernenden angeregt und verantwortungsbewusste Strategien für eigene zwischenmenschliche Interaktionen angeeignet werden (vgl. Linck 2006: Abschn. 6).
- Ebenso machen die Jugendlichen Bekanntschaft mit unterschiedlichsten Organisationsformen eines eingerichteten Lebensumfeldes, z.B. mit selbst erdachten in einem persönlich geschriebenen Theaterstück oder mit nicht vertrauten durch das Spiel einer Person aus einem einen selbst fremden Milieu. Die Lerneffekte bezüglich der partizipativ-autonomen Teilhabe der Jugendlichen am gesellschaftlichen Leben in ihrem Alltag und in der Zukunft dürfen hierbei nicht unterschätzt werden, werden doch Denk- und Handlungsalternativen zum eigenen Lebensumfeld dargeboten, die wiederum erkennen lassen, dass die (mitunter problematische) Lebenswirklichkeit potentiell veränderbar ist. Wird den Ausführungen der KMK gefolgt, kann dem Darstellenden Spiel demzufolge gar das Potenzial zugesprochen werden, dazu zu motivieren, Gesellschaftskonzepte neu zu denken und in der Zukunft zu gestalten, die lebenswertes Miteinander bei Wahrung des natürlichen Lebensraumes gewährleisten (vgl. KMK 2006: 5).
Abschließend sei noch betont, dass all die aufgezeigten Lernmöglichkeiten nur unter der Voraussetzung angebahnt werden können, dass die DS-Lehrerin/der DS-Lehrer nicht als Dompteurin/Dompteur, Besserwissererin/Besserwisser und diktatorisch agierende Dirigentin/diktatorisch agierender Dirigent auftritt. Vielmehr sollte sie/er sich als Mentorin/Mentor und Lernbegleiterin/Lernbegleiter verstehen, die/der zu den gemeinschaftlichen Spielprozessen anstößt und Horizonte weit öffnet (anstatt mit engen eigenen Vorstellungen und Haltungen bspw. Erfahrungen zu verhindern) (vgl. Hüther 2009).
3. Charakterisierung des Spiels „Nerve“
3.1 Kurzcharakterisierung und Ziel des Spiels
„Nerve“, zentraler Gegenstand im Jugendroman „Nerve – Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen“ von Ryan, ist ein App-basiertes Challenge-Spiel, fiktiv für die Handlung des Buches kreiert. Bei dem Spiel kann teilgenommen werden sowohl als Spielerin/Spieler oder Beobachterin/Beobachter oder Beides. Für eine Spielerin/einen Spieler gilt es drei Challenge-Stufen zu durchlaufen, die Probe-Challenge, das Level mit den Qualifizierungs-Challenges sowie die Live-Challenge mit Einführungs-Challenges und den eigentlichen Challenges. Bei der Probe-Challenge sucht sich die Spielerin/der Spieler eine Challenge aus, die er im realen Umfeld auszuführen hat, und muss diese bei der Umsetzung live per Handy in der App hochladen, was auch durch eine Freundin/einen Freund o.Ä. geschehen kann. Sofern das Online-Publikum für das hochgeladene Video stetig sehr stark wächst, darf die Spielerin/der Spieler an den Qualifizierungs-Challenges teilnehmen. Diese Challenges sind wieder im realen Umfeld zu realisieren, dieses Mal aber mit je speziellen Aufgabe für die einzelne Spielerin/den einzelnen Spieler. In dieser Runde agieren die Spieler*innen als Paar. Steigen die Zuschauerzahlen wiederum enorm, nimmt das Spielpärchen an der Live-Challenge teil, bei dem dieses drei Stunden mit drei anderen Pärchen in einigen von der Außenwelt abgeschnittenen Räumen mehrere Challenges gemeinsam bestehen muss. Die Live-Challenge wird live ausgestrahlt und von zwei Nerve-Spielleiter*innen anmoderiert.
Während nahezu aller Spielphasen konfrontieren die Spielleiter*innen von „Nerve“ die Spieler*innen mit eigenen und anderen Identitätsbildern bzw. Lebensweisen sowie mit der realen Lebenswelt der Spieler*innen wie z.B. mit Ängsten und Streitigkeiten mit der besten Freundin/dem besten Freund. Unklar bleibt für die Spieler*innen (im Verlauf des gesamten Romans), wodurch die Spielleiter*innen dieses detailreiche Wissen angehäuft haben.
Bei den Beobachter*innen von „Nerve“ gibt es zum einen die Online-Beobachterin/den Online-Beobachter oder die Live-Beobachterin/den Live-Beobachter. Für beide Status muss Geld entrichtet werden, für die Probe-Challenges i.d.R. vorerst nichts und für die Live-Challenge das Meiste. Anzumerken ist aber, dass auch Beobachter*innen (für gute und spektakuläre Aufnahmen von Challenges der Spieler*innen) Bonuspunkte, Preise und Geld umsetzen können.
Wer von den Spieler*innen eine Challenge besteht, bekommt einen Preis, der immer direkt auf die Bedürfnisse und Wünsche der jeweiligen Person zugeschnitten ist. Eine Spielerin/ein Spieler, der bei der Live-Challenge mitmacht, kann alle bisher gewonnenen Preise verlieren, aber eben auch einen ganz besonders großen Gewinn erhalten. Kennzeichnend für „Nerve“ ist zudem, dass die Spieler*innen bei den Challenges enorme Adrenalin-Kicks und traumatische Erinnerungsprozesse sowie Rauschzustände z.B. aufgrund der Anerkennung durch die Beobachter*innen durchleben. Ebenso ist charakteristisch, dass die Spieler*innen nicht wissen, ob etwas echt und der Wirklichkeit zuzuordnen oder imitiert und unwirklich ist oder welche Identität Mitspieler*innen, Fremde, etc. tatsächlich haben (vgl. Ryan 2016).
3.2 Abgleich von „Nerve“ mit der Definition des Spiels nach Huizinga/ Caillois
Kennzeichnend ist nach Caillois, basierend auf Huizinga, für ein Spiel mit Aufrechterhaltung grundlegender Charakteristika (vgl. Caillois 1966/1982: 9-16; Huizinga 1938/2015: 15-20),
a) dass die Teilnahme auf Freiwilligkeit beruht, um den freudigen Müßiggang nicht durch Zwänge zu zersetzen,
b) dass es in klar abgegrenztem Raum und bestimmter Zeit stattfindet,
c) dass Spielverlauf und –ausgang ungewiss sind,
d) dass währenddessen keine Erzeugnisse und kein Vermögen produziert wird und
e) dass es durch eine bestimmte Gesetzgebung geregelt wird oder dass es fiktional, mitunter der Wirklichkeit durchaus widersprechend, ist.
Ein Abgleich dieser Definition mit „Nerve“ bringt folgende Ergebnisse hervor:
In „Nerve“ wird den Spieler*innen suggeriert, dass sie komplett freiwillig selbstbestimmt entscheiden, ob sie an einer Challenge teilnehmen oder nicht. Die Sogwirkung durch die live und online zuschauenden Bewunder*innen, durch die auf die Spieler*innen abgestimmten Preise und durch den Druck der Mitspieler*innen ist jedoch so hoch (vgl. Ryan 2016: z.B. 54-56 & 237), dass die Freiwilligkeit kritisch zu bewerten ist. Außerdem kann gar bei der Protagonistin des Romans spätestens am Ende der Live-Challenges von einer Teilnahme aus eigenem Antrieb nicht mehr die Rede sein. So signalisiert sie vermehrt, dass sie aufhören möchte zu spielen, was ihr versagt bleibt (vgl. ebd.: z.B. 244 & 251).
Die Probe- und Qualifizierungs-Challenges finden eindeutig nicht in einem abgegrenzten Raum statt, sie sind in der Öffentlichkeit auszuführen, wie bspw. in einem Café (vgl. ebd.: 27). Hingegen ereignet sich die eigentliche Live-Challenge sehr wohl deutlich separat von der tatsächlichen Lebenswirklichkeit, nämlich in einer VIP-Lounge im „Poppy-Club“ (vgl. ebd.: 166). Zeitlich gesehen ist „Nerve“ offenkundig fest umrissen, dauert eine Probe- und Qualifizierungs-Challenge so lange bis sie erfüllt ist (vgl. ebd.: z.B. 63f.) und die Live-Challenge genau drei Stunden (vgl. ebd.: z.B. 166).
Wie beim mustergültigen Spiel sind auch bei „Nerve“ Spielverlauf und –ausgang ungewiss. Ob eine Challenge gewonnen werden kann, welche Anstrengung und psychischen Belastungen dafür aufzubringen sind und wie sie sich abspielt bzw. Anwesende und Mitspieler*innen einwirken, ist völlig offen (vgl. ebd.).
Das Charakteristikum eines Spiels, dass keine Geldwerte o.Ä. durch das Spiel hervorgebracht werden, ist für „Nerve“ nicht signifikant. Gerade durch eine spektakuläre und mitreißende Umsetzung einer Challenge durch eine Spielerin/einen Spieler erhalten die „Macher“ von „Nerve“ Unsummen von Geld, da dadurch ein rapider Anstieg zahlender Zuschauer*innen hervorgerufen wird (vgl. ebd.: z.B. 69).
Identisch mit einem idealtypischen Spiel sind hingegen bei „Nerve“ die unverrückbaren Spielregeln bzw. -anweisungen, die bei den Probe- und Qualifizierungs-Challenges per Nachricht über die Nerve-App (vgl. Ryan 2016: z.B. 104) und bei der Live-Challenge von zwei Spielleiter*innen mitgeteilt werden, vermittelt über einen Bildschirm (vgl. ebd.: z.B. 190f.). Diese stehen mitunter annullierend den realen Gesetzen gegenüber.
Obwohl ein exemplarisches Spiel nur geregelt oder fiktiv sein kann, ist „Nerve“ hinsichtlich einiger Challenges beides. Dergestalt hat die Protagonistin des Romans bspw. eine Prostituierte zu spielen, aus deren Figur sie nicht herausfallen darf (und möchte) (vgl. ebd.: 113 & 130). Diffizil ist bei „Nerve“, dass im öffentlichen Raum zufällig Anwesende und Teilnehmende während der Challenge nicht in das Rollenspiel eingeweiht sind, was nicht dem Wesenszug eines musterhaften Spiels entspricht (siehe auch Kapitel 3.3.3).
3.3 Abgleich von „Nerve“ mit den Grundkategorien eines Spiels nachCaillois
3.3.1 Agôn
Ag ôn steht für den Wettstreit, der in einem Spiel vorkommen kann (vgl. Caillois 1966/1982: 19). Dem Wettkampfprinzip ist es immanent, dass bezüglich einer Leistungskategorie in einem festgesetzten Rahmen gegeneinander rivalisiert wird, sowohl unmittelbar als auch indirekt (vgl. ebd.: 21-24).
Bei „Nerve“ ist das Wettstreitprinzip mehrschichtig angelegt:
- Ein indirekter Wettkampf findet bei den Probe- und Qualifizierungs-Challenges statt. Die einzelnen Spieler*innen kämpfen in ihren Challenges zwar nicht direkt gegen Mitspieler*innen, müssen in ihrer Challenge aber so erfolgreich auftreten, dass sie Online für ihre Aktionen mehr Stimmen durch die Zuschauer*innen bekommen als die Mitstreiter*innen. Zudem müssen die Spieler*innen damit rechnen, dass während der Challenges im öffentlichen Raum Spielbeobachter*innen und auch unfreiwillig in das Setting hineingezogene Menschen (willentlich) gegen die Erfüllung der Challenge ansteuern, z.B. um als Beobachterin/Beobachter mit einem speziellen Spielauftrag selbst einen Sieg einzufahren oder um als Barbesitzer nicht seine Einrichtung schädigen zu lassen (vgl. Ryan 2016).
- Insgesamt täuschen die Spielmacher*innen von „Nerve“ vor, dass kein unmittelbarer Wettkampf auszutragen ist. Bei den Qualifizierungs-Challenges wird dieserart gar eine Spielpartnerin/ein Spielpartner an die Seite gestellt. Die „Partnerschaft“ ist jedoch trügerisch. Zwischen den Partner*innen kann sich eine Rivalität entwickeln, weil gegebenenfalls jeder selbst den anderen ausstechen muss, um seine Preise zu gewinnen. Bei der Live-Challenge kulminiert dieses scheinbare „Miteinander“ dann sogar insofern, als dass vier Pärchen nur zusammen als „Team“ zum Ziel kommen können, Rivalitäten aber bspw. dadurch geschürt werden, dass Einzelne Preise bekommen, wenn sie z.B. eine andere Mitspielerin/einen anderen Mitspieler ausboten. Auch wird immer wieder in einem Ranking eingeblendet, wer von den Teilnehmer*innen die meisten Zuschauer*innenstimmen erhalten hat, was zusätzliche Machtkämpfe entfacht (vgl. ebd.).
3.3.2 Alea
Alea umreißt das Zufallsprinzip, das in einem Spiel vorherrschend sein kann (vgl. Caillois 1966/1982: 19). Spezifisch ist hierbei, dass der Sieg einer Spielerin/eines Spielers im Grunde nur passiv und abwartend errungen werden kann, da er zufallsabhängig und schicksalshaft ist. Das persönliche Leistungspotenzial der Spieler*innen ist irrelevant, lediglich ein Einsatz jener ist notwendig, der durch einen Triumph vermehrt aber durch eine Niederlage auch komplett eingebüßt werden kann (vgl. ebd.: 24-27).
Im Spiel „Nerve“ artikuliert sich alea folgendermaßen:
- Die Spieler*innen wissen in den Spielphasen der Qualifizierungs-Challenges und der Live-Challenge nicht, welche Aufgaben sie jeweils erfüllen müssen. Sie warten, bangen und hoffen regelrecht vor ihren Handydisplays, welche Spielanweisungen ihnen per Nachricht von der Nerve-App geschickt werden, die sie dann ausführen müssen. Was eine Spielerin/ein Spieler für eine Challenge bekommt, ob sie/er diese letztendlich einfach oder schwer findet, ob sie/er durch jene an seine inneren und äußeren Grenzen geführt wird oder nicht, ist ungewiss (vgl. Ryan 2016).
- Unberechenbar bleibt im Verlauf der einzelnen Challenges ebenso, wie die Mitspieler*innen oder die im öffentlichen Raum Anwesenden reagieren oder welche zusätzlichen Hindernisse (durch die Spielleiter*innen) in den Weg gestellt werden, was den Erfolg oder Misserfolg bei der Erfüllung einer Challenge beträchtlich mitentscheiden kann (vgl. ebd.).
3.3.3 Mimicry
Mimicry umschreibt das Maskierungselement, das ebenso wie ag ôn und alea den Kern eines Spiels ausmachen kann (vgl. Caillois 1966/1982: 19). Eine Spielerin/ein Spieler ist bei diesem Prinzip dazu aufgefordert, eine bestimmte Rolle mit einer spezifischen Identität zu spielen. Die Spieler*innen sollen die Persönlichkeit so weit annehmen, als glauben sie, selbst diese zu sein. Dabei muss die angenommene Figur unaufhörlich während des Spiels repräsentiert und es darf bspw. die eigene Persönlichkeit nicht erkannt werden. Dies alles geschieht jedoch trotzdem unter der Prämisse, dass dem Publikum eigentlich klar ist, dass die Rolle gespielt ist, auch wenn eine gute Spielerin/ein guter Spielerin während des Spiels suggerieren mag, dass dies nicht so ist. Eine besondere Form der mimicry ist, dass sich für ein Spiel begeisternde Zuschauer*innen innerlich mit bestimmten Spieler*innen identifizieren, also sozusagen selbst dessen Rolle gedanklich annehmen und vorgestellt „mitspielen“, womit sie die real Spielenden anspornen zu vermögen (vgl. ebd.: 27-32).
In „Nerve“ offenbart sich die mimicry folgenderweise:
- In den Probe- und Qualifizierungs-Challanges müssen die Spieler*innen i.d.R. gekonnt Rollen spielen, die sie im realen Umfeld im Kontext eines Spielauftrags annehmen müssen (z.B. das „Spielen“ einer Prostituierten in einem für diese spezifischen Outfit) (vgl. Ryan 2016: z.B. 27 & 104).
- Sowohl die Online- als auch die Live-Beobachter*innen dieser Challenges wissen um das Spiel der Spieler*innen in der fremden Rolle. Sie suchen sich ihre Lieblingsspieler*innen aus, um diese dann online mit Likes oder live mit Beifallsrufen o.Ä. anzufeuern. Hingegen haben die im öffentlichen Raum zufällig Anwesenden keine Kenntnis von den Challenges, die Spielerin/der Spieler muss diese Personenkreise während seiner Aufgaben gar ausnahmslos täuschen (vgl. ebd.).
- Die Spielerin/der Spieler hat keine Ahnung davon, ob die im öffentlichen Raum Anwesenden wahrhaftig sind oder doch Schauspielende, die selbst eine Rolle spielen, um den Spieler*innen bspw. Steine in den Weg zu legen. Ebenfalls unklar bleibt, ob die Mitspieler*innen im Sinne ihrer wirklichen Identität handeln oder Handelnde sind, geleitet von den Anweisungen und Rollenzuweisungen durch die Nerve-Spielleiter*innen. Insgesamt scheint das undurchschaubare Konglomerat aus mimicry und „wahren“ Identitäten unbeschreiblich diffizil zu sein. Dies bedingt (neben dem oben aufgezeigten Nervenkitzel) entscheidend, dass die Spieler*innen während der Teilnahme an „Nerve“ in die Verzweiflung getrieben werden (vgl. ebd.).
[...]