Der sogenannte Berliner Engel oder auch Engel am Heiligen Grab gehört zu den eindrucksvollsten Holzskulpturen der niederrheinischen Romanik. Die gut erhaltene Erstfassung des Engels macht ihn zu einem Unikat der romanischen Holzplastik und vermittelt eindrucksvoll die bunte Farbigkeit des frühen Mittelalters. Nur wenige Vergleichswerke dieser Qualität haben die Jahrhunderte überdauert und stützen die kunsthistorische Bedeutung dieser Skulptur.
Diese Hausarbeit widmet sich verschiedenen Punkten im Zusammenhang mit der Skulptur, unter anderem Erhaltungszustand, Ikonographie und Funktionszusammenhang.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Provenienz
Beschreibung
Erhaltungszustand
Fassung
Ikonographie
Funktionszusammenhang
Das Ostergrab oder Heiliges Grab
Ergänzende Werke
Mögliche Aufstellung
Zeitliche Einordnung und Vergleichswerke zum Berliner Engel
Stilistische Einflüsse
Fazit
Literatur.
Abbildungsnachweis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.l Berliner Engel Oder Engel vom Heiligen Grab (Inv. Nr. 2969), Bode
Museum, Berlin
Maße:
62 cm Höhe 26 cm Breite 23 cm Tiefe
Material: Pappelholz
Gewicht: circa 10 kg
Der sogenannte Berliner Engel oder auch Engel am Heiligen Grab gehört zu den eindrucksvollsten Holzskulpturen der niederrheinischen Romanik. Die gut erhaltene Erstfassung des Engels macht ihn zu einem Unikat der romanischen Holzplastik und vermittelt eindrucksvoll die bunte Farbigkeit des frühen Mittelalters. Nur wenige Vergleichswerke dieser Qualität haben die Jahrhunderte überdauert und stützen die kunsthistorische Bedeutung dieser Skulptur.
Provenienz:
Die mit der Inventarrnummer 2969 versehene Holzskulptur im Berliner Bodemuseum konnte vor Eröffnung des von Wilhelm von Bode neugegründeten Kaiser-Friedrich-Museums bei einer Münchner Auktion des Auktionshauses Hugo Helbig im Dezember des Jahres 1904 erworben werden.
Der Engel vom Heiligen Grab gehörte zur Sammlung des deutschen Geschichts- und Altertumswissenschaftler Friedrich Gustav Habel[1], die zu einer der größten Altertumssammlungen Europas gehörte. Nach dem Tod verwaltete und erweiterte sein Neffe Wilhelm Conrady die Sammlung, die schlussendlich nach dem Tod von Conrady im Jahr 1903 von seinen Erben veräußert wurde.
Trotz dieser Provenienz waren weder die ursprüngliche Herkunft der Figur lokalisierbar noch existierten schriftliche Quellen oder Hinweise über die genaue zeitliche Datierung und auszuführende Werkstatt. Dies erschwerte die geographische sowie stilistische Einordnung der Figur, konnte aber durch kunsthistorische Methoden und Untersuchungen relativ sicher in einen historischen und stilistischen Kontext eingegliedert werden.
Beschreibung:
Die 62 cm hohe Holzskulptur zeigt eine schlanke männliche Gestalt, sitzend auf einer mit Würfelkapitellen geschmückten Bank, dessen rechter Oberarm in einem 90 Grad Winkel erhoben ist.
Die jugendliche Gestalt der Figur ist besonders am kindlich geformten, faltenlosen Gesicht ablesbar. Nur wenige goldene, an Spitzen gelockte Haare bedecken gleichmäßig den oval gerundeten Kopf, der eine geringe Neigung zur rechten Seite aufweist. Eine Buckellocke fällt in die flache und nach oben gedrungene Stirnpartie, die dadurch in der Mitte geteilt wird. Durch die flache Ausarbeitung der Nasenwurzel, sowie dem Überaugenwulst wirken die hellblauen Augen des Engels besonders groß und werden von einem großen Augenlid und angedeuteten Augenbrauen verstärkt.
Die Lippenpartie des Engels ist besonders differenziert gestaltet. Eine leicht angedeutete Nasolabialfalte verbindet die lange dünne Nase mit der Mundpartie des Gesichts, von der aus feine Mundwinkelfalten oder auch Marionettenlinien genannt, dem Gesicht einen sehr ernsten und gleichzeitig fast traurigen Ausdruck verleihen.
Der Engel trägt eine weiße Tunika, die um den langen Hals des Engels einen Schlitzkragen bildet. Sie liegt auf den schmalen Schultern des Engels auf und wird von einem goldenen Bund am Bauch zusammengehalten. Der Saum der Tunika ist ebenfalls in Gold gefasst, über der linken Schulter sowie um den rechten Arm ist ein Pallium drappieri, das sich farblich nicht von der Tunika unterscheidet. Die Tunika und ein Unterkleid reichen bis kurz vor die nackten Füße des Engels, sodass diese auf einer schräg abgeflachten Plinthe sichtbar werden.
Die durch den Stoff definierten Beine des Engels sind leicht nach außen gespreizt. Auf dem Schoß ruht die geschlossene Hand des linken Arms, in der Bearbeitungsspuren in Form einer Bohrung vorzufinden sind und ein fehlendes separates Symbol vermuten lässt.
Die erhobene rechte Hand und wahrscheinlich Teile eines Unterarms sind nicht erhalten geblieben. Sauber ausgearbeitete Holzauskerbung innerhalb des rechten Arms verstärkt die These, dass hier ein separater Arm mit einem Dübel eingefügt war. Ähnliche Einkerbungen, die jedoch weniger gut ausgearbeitet sind, findet man auf dem Rücken der Figur. Als Gegengewicht zu dem Arm waren dort vermutlich Flügel befestigt, die mit dem Rücken der Figur verleimt gewesen sein mussten.
Bis auf den Kopf ist der gesamte Corpus der Figur ausgehöhlt und mit einem Verschlussbrettchen versehen, das starke Spuren vom Wurmfraß aufweist. Besonderer Beachtung bedarf aber die Bank auf der der Engel sitzt. Vier Säulen mit einfachen Würfelkapitellen stützen die leicht nach vorn kippende Sitzoberfläche der Bank. Verziert mit Wülsten sind zwei der Säulen freistehend und offenbaren die ausgehöhlte Rückseite der Sitzbank.
Erhaltungszustand:
Der Berliner Engel ist aus einem massiven Werkblock Pappelholz geschnitzt. Unterhalb der Bank ist eine starke Aushöhlung des Holzes vernehmbar, die an manchen stellen nur wenige Millimeter Holzstärke aufweist. Eine Durchschnitzung oberhalb der Knie ist mit einem Textilstück überklebt worden und könnte auf einen Fehler während der Produktion hinweisen. Die Aushöhlung eines Holzbildträgers war eine der letzten Aufgaben des Holzbildhauers, die genauso von Gehilfen ausgeführt werden konnte. Die Durchschnitzung könnte somit eine Unachtsamkeit eines Gehilfen im Umgang mit dem Werkzeug bedeuten, was jedoch eine spekulative Vermutung wäre.
Auf der Innenseite lassen sich grobe Bearbeitungsspuren erkennen, die verschiedenen Holzwerkzeugen wie Flach- und Balleisen sowie Bohrer zugeordnet werden können. Der untere Rand des Holzbildträgers wurde im Laufe der Jahrhunderte beschädigt und sichtbar vom Holzwurm zerfressen. Die größte Fraktur verläuft von der Unterkante der rechten Seite bis über die Plinthe unterhalb der Füße der Skulptur. Dadurch wird der Skulptur das Gleichgewicht genommen, was sie leicht nach rechts kippen lässt. Der Holzwurmfraß ist anhand von Ausflugslöchern auf der gesamten Oberfläche erkennbar, jedoch nicht so gravierend wie am Sockel oder dem Verschlussbrettchen auf der Rückseite. Weitere Beschädigung findet man auf der rechten Wange des Engels. Ein langer Kratzer beschädigt zwar die Fassung der Figur, jedoch wird die ästhetische Wahrnehmung dadurch nicht getrübt.
Offensichtlich fehlen mehrere separate Einzelteile der Figur. Der rechte Arm, die Flügel und vermutlich ein Palmenblatt aus der linken Hand des Engels sind nicht mit der Figur überliefert worden. Die stark ausgeprägte Goldschmiedekunst im Kölner Erzbistum lässt vermuten, dass diese separaten Teile aus anderen Materialien gefertigt waren und womöglich getrennt voneinander aufbewahrt wurden. Jedoch gibt es keine Anhaltspunkte für den weiteren Verbleib der Einzelteile oder ihre Materialität.
Fassung:
Die großflächig und gut erhaltene Erstfassung der Figur machen sie zu einer Rarität der niederrheinischen Skulptur des 12. Jahrhunderts. Nach dem Erwerb der Holzskulptur 1904 muss eine Restaurierung und die Entfernung eines dunkelroten Überzugs stattgefunden haben, die von Vöge 1908 dokumentiert worden ist. Trotz Restaurationen wird die helle Erstfassung von Verunreinigungen und weiteren Fassungen überzogen und verunklärt die ausgewogene Farbigkeit des Berliner Engels.
Die hochwertige Verarbeitung der Holzoberfläche bedurfte nur einer dünnen weißen Grundierung, die keine weiteren plastischen Nivellierungen an der Figur vornimmt. Sie überzieht die Holzplastik sogar auf der weiter unbearbeiteten
Innenseite der Sitzbank und sollte neben der Vereinheitlichung der Oberflächenfarbe, das Holz vor Feuchtigkeit und Rissen schützen.
An der linken Hand und den Füßen des Engels lässt sich die Farbigkeit des Inkarnats der Figur erkennen, die ursprünglich in einem hellen Rosa ausgeführt war und an diesen stellen nur anhand von Farbresten nachvollziehbar wird. Das Gesicht hingegen weist noch starke Farbigkeit auf und wird durch ein dunkleres Rosa an den Wangen und an der Stirn modelliert. Die Strengen Lippen sind offenbar mit dem selben Rot modelliert worden wie die Wangen.
Die Augäpfel sind weiß, während die iriden in verschiedenen Blautönen differenziert ausgearbeitet wurden. Umrandet mit einem Dunkelblau, verflüchtigt sich das hellere Azurblau zur Pupille hin. Ein heller Rand um die vergleichsweise kleine schwarze Pupille animiert die Augen des Engels. Ein helles Braun betont die Augenlider und markiert mit einem dünnen Pinselstrich die Augenbrauen des Engels auf seiner Stirnwulst.
Haare und Locken des Engels sind in einem matten Gold auf einem rosa Untergrund ausgeführt, das sich auch an den Mantelsäumen und dem Gürtel wiederholt. Reste von roter Farbe auf dem Kragen sowie an den Säumen zeugen von einer rautenförmigen Verzierung, die heute fast nicht mehr erkennbar ist.
Das äußere Gewand verfügt über eine einheitliche weiße Malschicht. Jedoch existieren Unterschiede an den Gewandinnenseiten und am Untergewand, die heute mit dem bloßen Auge nur schwer zu differenzieren sind. Das über den Füßen drappierte Stück Untergewand weist Reste einer dunkelgrünen Fassung auf, die zwischen den hellen Tönen der Tunika und den fleischfarbenen Füßen farblich kontrastieren sollte. Das selbe Grün modelliert durch feine Farbverläufe die Kapitelle der Bank, die komplementär zu den braunroten Säulenschäften gesetzt wurden. Die Säulenwülste wurden in einem hellen weiß betont, das sich von der dunklen Farbigkeit der Bank abhebt. Die Sitzoberfläche der Bank ist heute beinahe schon holzsichtig, hatte aber eine ursprünglich dunkelbraune Fassung.
Fraglich ist die Originalität der heute als Erstfassung geltenden Farbgebung. An vielen Stellen sind Ergänzungen der Polychromie vernehmbar, die bereits Niehoff an der Originalität der Fassung zweifeln und aufwendige mittelalterliche Ergänzungen vermuten ließen[2]. Durch eine genaue Untersuchung der Polychromie erhoffte Niehoff genaue Auskünfte über die verschiedenen Farbfassungen zu bekommen, die bis dato nicht durchgeführt wurden. Auch in dem aktuellsten ״Kritischen Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung" konnten größere Fragmente einer sekundären mittelalterlichen Fassung nur im
Gesicht aufgedeckt werden. Die fragmentierte Verteilung kleiner Segmente späterer Fassungen können jedoch nicht zeitlich eingeordnet werden.[3]
Ikonographie:
Die ikonographische Zuordnung des Engels konnte paradoxerweise nur anhand von Spuren fehlender Attribute stattfinden. Wären diese nicht vorhanden, wäre es auch möglich gewesen, diese junge männliche Figur als einen jugendlichen Christus zu interpretieren. Nur der zwölfjährige Christus im Tempel[4] käme für die sitzende Haltung in Frage, wären nicht die Holzvertiefungen im Rücken der Holzfigur vorhanden, die für den Einsatz von separaten Flügeln sprechen und somit dieser These widersprechen.
Die verkündigende Geste des Engels könnte genauso aus dem bekannten ikonographischen Kontext einer Verkündigungsszenerie stammen, wobei das Sitzmobiliar vielmehr das Attribut der Maria ist, die den Engel in einer sitzenden Haltung empfängt. Auch die Ausführung einer Verkündigungsszene als monumentale Skulptur ist nicht aus dieser Zeit überliefert worden, was den Engel in einen anderen ikonographischen Kontext versetzt.
Darüber hinaus wäre es auch möglich den Engel im Kontext des Jüngsten Gerichts zu sehen. Jedoch würde die verkündigende Haltung des Engels dem widersprechen und darüber hinaus zahlreiche fehlende und zu ergänzende Figuren zur Folge hätte.
Eine besonders prominente Rolle hat der Engel am Ostermorgen als Augenzeuge und Verkünder der Auferstehung Jesu am dritten Tag nach seinem Tode. ״Frauen am Grabe" oder ״das leere Grab" ist ein wichtiger Topos der Kunstgeschichte und in allen vier Evangelien des Neuen Testaments leicht abgewandelt vorhanden. Doch nur im Markus- und Matthäusevangelium ist die Rede von der Singularität eines Engels. Im Johannesevangelium sieht Maria Magdalena als einzige zwei Engel, die durch die beinahe zeitgleiche Erscheinung Jesu zu Nebenakteuren der Handlung verkommen[5]. Im Lukasevangelium[6] hingegen ist nur die Rede von zwei Männern ״mit glänzenden Kleidern" und keiner weiteren Engelsgestalten.
Im Matthäusevangelium werden nur zwei Frauen beschrieben, die das Grab Jesu am Ostermorgen besuchen und ״besehen" wollen. Maria Magdalena und die
[...]
[1] Griedrich Gustav Habel 1792 - 1867, Schloss Miltenberg bei Aschaffenburg wählte er zu seiner Wohnstätte sowie der Aufbewahrungsort seiner umfangreichen Altertumssammlung, die vor Ort 1904 durch Hugo Helbig versteigert wurde.
[2] Vgl. Niehoff 1990, Fußnote 8, s. 55.
[3] Vgl. Kunz 2014, s. 134.
[4] Lukas 2, 46.
[5] Johannes 20, 11-19.
[6] Lukas 24, 1-10.