In der Arbeit geht es um die Gründe bzw. die Hintergründe und Auslöser für Nathanaels sich steigernden Wahn im Verlauf der Erzählung, die einen prozesshaften Charakter aufweist. Um zu untersuchen, welche Ereignisse zentral dafür sind, dass es zur Selbsttötung Nathanaels am Ende der Erzählung kommt, findet eine nähere Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen, Sinneseindrücken und Erlebnissen in den verschiedenen Abschnitten des dargestellten Lebens der Figur statt, mit dem Ziel den ambivalenten Charakter zugänglicher zu machen. Die Vorarbeit in Form einer Analyse des Verhaltens der Figur zu Anfang der Erzählung dient dazu, Veränderungen im Verhalten Nathanaels und die damit verbundene Wirkung auf den Leser in vergleichender Perspektive aufzuzeigen. Der Blick richtet sich insbesondere auf das Motiv des Menschen als „Automat“, über das sich ein Zugang zu Nathanaels Innerlichkeit anbietet, da das Motiv fast ausschließlich im Zusammenhang mit einschneidenden Erlebnissen im Leben der Figur auftritt.
Aufgrund der psychoanalytischen Herangehensweise an den Text wird auf Siegmund Freuds psychoanalytischen Aufsatz mit dem Titel „Das Unheimliche“ über E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ Bezug genommen, in welchem er dazu rät, die „hervorstechendsten unter den unheimlichen Motiven herauszuheben“ und zu untersuchen, ob eine „Ableitung aus infantilen Quellen zulässig ist.“ Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und in den Kontext der Romantik eingeordnet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Kindheitstrauma
3. Analyse des Verhaltens der Figur Nathanael zu Anfang der Erzählung
4. Darstellung von Veränderungen im Verhalten der Figur
4.1 Zentrale Erlebnisse als Auslöser für Wahn
4.1.1 Der Heimataufenthalt
4.1.2 Brand in Nathanaels Wohnung
4.1.3 Coppolas Besuch
4.1.4 Der Ball bei Spalanzani
4.1.5 Das Erwachen aus der Illusion
4.2 Die Bedeutung des Automatenmotivs
4.2.1 Nathanaels Beziehung zu Olimpia
4.2. Verkehrung von Mechanisierung und Lebendigkeit
4.3 Nathanaels Tod als Folge seiner Selbstvernichtung
5. Schluss
5.1 Einordnung in den Kontext der Romantik
Literatur
1. Einleitung
In der Arbeit geht es um die Gründe bzw. die Hintergründe und Auslöser für Nathanaels sich steigernden Wahn im Verlauf der Erzählung, die einen prozesshaften Charakter aufweist. Um zu untersuchen, welche Ereignisse zentral dafür sind, dass es zur Selbsttötung Nathanaels am Ende der Erzählung kommt, findet eine nähere Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen, Sinneseindrücken und Erlebnissen in den verschiedenen Abschnitten des dargestellten Lebens der Figur statt, mit dem Ziel den ambivalenten Charakter zugänglicher zu machen. Die Vorar- beit in Form einer Analyse des Verhaltens der Figur zu Anfang der Erzählung dient dazu, Veränderungen im Verhalten Nathanaels und die damit verbundene Wirkung auf den Leser in vergleichender Perspektive aufzuzeigen. Der Blick richtet sich insbesondere auf das Motiv des Menschen als „Automat“, über das sich ein Zugang zu Nathanaels Innerlichkeit anbietet, da das Motiv fast ausschließlich im Zusammenhang mit einschneidenden Erlebnissen im Le- ben der Figur auftritt.
Aufgrund der psychoanalytischen Herangehensweise an den Text wird auf Siegmund Freuds psychoanalytischen Aufsatz mit dem Titel „Das Unheimliche“ über E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ Bezug genommen, in welchem er dazu rät, die „hervorstechendsten unter den unheimlichen Motiven herauszuheben“1 und zu untersuchen, ob eine „Ableitung aus infantilen Quellen zulässig ist.“2 Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und in den Kontext der Romantik eingeordnet.
2. Das Kindheitstrauma
Aus dem Brief, den Nathanael an Lothar sendet, welchen er allerdings an Clara adressiert, erfährt der Leser von Kindheitserlebnissen, die Nathanael nachhaltig prägen und in denen vermutlich der Ursprung für seine instabile Persönlichkeit liegt.
In der Kindheit findet ein regelrechtes Spiel mit der Psyche der Kinder statt. Ihnen wird vom Fabelwesen Sandmann erzählt, sodass insbesondere Nathanael ein Interesse an ihm entwickelt und seine Neugierde dadurch geweckt wird. Die Horrorgeschichte der Kinderfrau sorgt zu- gleich dafür, dass sich bei ihm eine Angst vor dem Sandmann ausbildet. In der Situation, in der sich der Advokat Coppelius als der Sandmann herausstellt, findet für Nathanael zum ers- ten Mal eine Vermischung von realer und fantastischer Welt statt. Einerseits wird ihm deut- lich, dass es den Sandmann, wie er ihn sich in seiner Vorstellung ausgemalt hat, nicht gibt. Andererseits weist der „grausige Coppelius“3 dennoch Ähnlichkeiten zum Fabelwesen aus seiner Fantasie auf, was Nathanael keine Angst nimmt, sondern im Gegenteil, sie noch weiter in ihm schürt. Durch die Missbrauchserfahrung4, die Nathanael erfährt, bei der Coppelius ihn wie einen Automaten behandelt, um den Mechanismus seiner Hände und Füße zu untersu- chen, fühlt er sich in seiner Annahme bestätigt, dass das Böse tatsächlich existiert.5 Er als Individuum fühlt sich dem Bösen in dieser Situation schutzlos ausgeliefert. Eine längere Krankheit, die vermutlich längerfristige Auswirkungen auf seine Psyche hat, ist die Folge. Die nächste große Ohnmachtserfahrung erlebt er, als sein Vater stirbt. Daran gibt er ebenfalls Coppelius die Schuld: „Coppelius, verruchter Satan, du hast den Vater erschlagen!“6 Für ihn mit seiner kindlichen Weltsicht ist es nicht möglich, dies als bloße Tat eines „bösen Men- schen“ oder gar als Unfall zu begreifen. Für ihn sind hier höhere Mächte am Werk gewesen. Coppelius setzt er mit dem Teufel gleich, dem Todesbringer, der das Schicksal für seinen Vater besiegelt hat. Alles fügt sich für ihn zu einem stimmigen Bild zusammen.
Dem Leser wird durch die Schilderungen des Protagonisten ermöglicht, sich in seine Gefühlswelt hineinzuversetzen, weiß aber an keiner Stelle genau, mit welchem Wirklichkeitsbegriff er es zu tun hat.7
3. Analyse des Verhaltens der Figur Nathanael zu Anfang der Erzählung
Die Figur des Nathanael steht im Mittelpunkt der Erzählung. Alle weiteren Figuren werden in Beziehung zu seiner Person vorgestellt. Die Briefe, über die zu Anfang der Erzählung Kommunikation mit Nathanaels Familie stattfindet, stellen die Rahmenhandlung dar. Aus ihnen lässt sich viel über Nathanaels charakterliche Eigenschaften entnehmen.
In den Briefen macht Nathanael einen geradezu verzweifelten Eindruck. Mit den Worten: „Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten!“8, beginnt er von seiner Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola zu berichten. Die Ursache für die in ihm ausgelösten Angstzu- stände lässt sich in seinem Kindheitstrauma finden. Er glaubt in dem Wetterglashändler den Advokaten Coppelius wiederzuerkennen, dem er die Schuld am Tod seines geliebten Vaters gibt. Dass eine einfache Begegnung diese Gedankenströme in ihm auslöst und ihn die Fas- sung verlieren lässt, zeigt dass Nathanael das Kindkeitstrauma noch nicht verarbeitet hat. Man kann ihm viel Fantasie zuschreiben, die zu seinem Interesse an Mystik und fabelhaften Wesen passt, bekommt als Leser aber auch den Eindruck, als bestehe für ihn keine Trennung zwi- schen dem Fantastischen und der realen Welt, da fantastische Elemente wie z.B. „gespens- tisch“9, „dunkles Verhängnis“10 oder „Satan“11 immer wieder in seinem Wortgebrauch auftau- chen. Er ist der Ansicht, „ein dunkles Verhängnis [habe] einen trüben Wolkenschleier über [sein] Leben gehängt“.12 Interessant ist die Wortverwendung „trüb“. Wenn etwas trüb ist, ist die Wahrnehmung dadurch möglicherweise beeinträchtigt oder verzerrt, dennoch versperrt sie einem nicht gänzlich den Durchblick. Wenn man diese Verbildlichung auf Nathanaels cha- rakterliche Gestaltung überträgt, wird daran deutlich, dass an dieser Stelle bereits eine Beein- flussung stattgefunden hat, der Charakter aber dennoch selbstbestimmt ist.
Der Charakter der Figur ist sehr ambivalent gestaltet. Auf der einen Seite ist er ein emotiona- ler, geradezu gutgläubiger und poetischer Charakter. Er sorgt sich beispielsweise um seine Mutter und möchte deshalb nicht, dass Lothar ihr von der Begegnung mit Coppla erzählt, um bei ihr nicht auch alte Wunden aufzureißen, wie es bei ihm selbst der Fall ist.13 Er nutzt die Form des Gedichts, um Clara seine Gefühle auszudrücken. Seine Freunde bzw. seine Familie scheint ihm ohnehin wichtig zu sein. Er beteuert, dass er ihnen „täglich und stündlich ge- denk[t].“14 Gefühle zu Frauen lässt er zu, wie an seinen Schwärmereien für Clara zu sehen ist, auch wenn die Tiefe dieser Gefühle zu hinterfragen ist. Von seinem Kindheitstrauma, welches sein Leben immens beeinflusst hat, erfährt Clara erst unbeabsichtigt durch den falsch adres- sierten Brief. Gutgläubig reagiert er beispielsweise in dem Moment, in dem er Coppola das Perspektiv abkauft, obwohl ihm dieser immer noch zwielichtig erscheint.15 Zu diesem Zeit- punkt findet eine indirekte Einwirkung von Clara auf Nathanael statt: „An Clara denkend sah er wohl ein, dass der entsetzliche Spuk nur aus seinem Innern hervorgegangen“.16 Darüber hinaus reflektiert Nathanael in dieser Situation sein Verhalten, indem er Clara zugesteht, dass sie ihn zu recht für einen Geisterseher halte.17 Dennoch kann er seine Angst nicht ablegen.
Nathanaels andere charakterliche Seite zeigt einen misstrauischen, unsicheren Charakter. Er vermutet „Böses“ hinter den Absichten anderer und wird diese Gedanken, wenn sie ihn erst einmal beschäftigen, nicht mehr los. Er wirkt geradezu hin und her gerissen von seinen eige- nen Gedanken. In dem Brief an Lothar versucht er zwar vernünftige Erklärungen dafür zu finden, dass Coppola und Coppelius nicht die gleiche Person sein können, relativiert dies aber schon im nächsten Satz, indem er einräumt: „Ganz beruhigt bin ich nicht“.18 Mit Kritik an seiner Person kann Nathanael nicht gut umgehen. Nach Claras kritischen Worten ist Natha- nael entschieden dagegen, dass Lothar ihr dabei hilft sich zu bilden. Dies könnte auch darauf hindeuten, dass Nathanael eine eher stereotypische Einstellung hat. Wenn er von Clara spricht, lobt er nie ihre Vernunft oder ihren Verstand, sondern nutzt Adjektive wie „süß“ oder „lieb“.19
Der Erzähler schreibt Nathanael einen „wilden Blick“20 zu. Ein Zeichen für Wahn oder Beses- senheit. Diese Beschreibung passt zu Nathanaels Überzeugung von der Existenz höherer, dunkler Mächte, die Einfluss auf das Leben nehmen können und zu seinem Glauben an Schicksal, dem man sich fügen müsse.21 Dieses irrationale Denken stellt einerseits einen Widerspruch zu Nathanaels Studium der Physik dar, eine Wissenschaft, die auf empirischen Forschungsergebnissen beruht. Zum anderen zeigt es, dass der Charakter Nathanael durchaus infantile Züge aufweist. An dem Bild vom Fantastischen, das er mit seiner kindlichen Welt- sicht geschaffen hat, hat sich bis zu seinem Erwachsenenalter nichts geändert. Es scheint als wäre ein wichtiger Schritt in seiner Entwicklung ausgeblieben, was vermutlich daran liegt, dass nie über das Familiengeheimnis gesprochen wurde. Clara ist die erste Person, die ihm dies vor Augen führt. Sie versucht, ihrem Verlobten bewusst zu machen, dass er übereilt in Verzweiflung geraten ist und dass ihm, würde er seine inneren Empfindungen und äußeren Erscheinungen richtig durchschauen, auffallen würde, dass diese Einbildung sind.22 Außer- dem rät sie ihm dazu, einer „dunklen Macht“ keinen Platz im eigenen Leben einzuräumen.23 Clara geht hier sehr psychologisch vor, indem sie eine Diagnose über eine mögliche psychi-
sche Störung ihres Verlobten stellt.24 Für den Leser, der hauptsächlich Zugang zu Nathanaels Perspektive hat, ist dies ein wichtiger Hinweis. Für ihn ist es ohnehin schwierig, im Gesche- hen zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Die durch Clara erhaltenen Infor- mationen veranlassen ihn aber dazu, Nathanaels Wahrnehmungen und Schilderungen kritisch zu hinterfragen. Clara scheitert jedoch an Nathanael, der keine andere Perspektive als seine zulässt, worin seine subjektive Sicht deutlich wird, genau wie die vorhandene Kommunikati- onsstörung zwischen den beiden.25 Nathanael tauscht sich nicht mit Clara über seine Empfindungen beim Lesen ihrer Aussagen aus, sondern äußert diese nur Lothar gegenüber.
Nathanaels Erzürnen über Claras Brief lässt sich daraus ableiten, dass er sich von ihr unver- standen fühlt. Das Bild, das sich seit seiner Kindheit in ihm verfestigt hat und auf dem in ge- wisser Weise sein Leben baut, wird von ihren Worten erschüttert. An dieser Stelle schützt er sich zunächst durch seine Reaktion. Mit den Figuren Clara und Nathanael prallen zwei unter- schiedliche Weltsichten aufeinander. Clara als selbstbestimmter Charakter sagt Nathanael es liege an ihm, ob er dunklen Einflüssen Macht in sich einräumt, während Nathanael davon überzeugt ist, das Spielzeug dunkler Mächte zu sein, die so mächtig sind, dass das Individuum keinen Einfluss auf sie hat.26 Vor diesem Hintergrund ist Nathanaels Vorsatz, den er am Ende des ersten Briefes ausspricht, umso erstaunlicher: „Ich bin entschlossen es mit ihm aufzuneh- men und des Vaters Tod zu rächen, mag es denn nun gehen wie es will.“27
Zu Anfang der Erzählung kann Nathanael zwar als selbstbestimmt bzw. selbstmächtig ange- sehen werden, dennoch wird bereits hier eine Wahnhaftigkeit angedeutet, die durch das Wachrufen seines Kindkeitstraumas sichtbar wird. Dem Leser wird deutlich, dass es sich um einen instabilen, beeinflussbaren Charakter handelt, der beste Voraussetzungen dafür schafft, sich ihm zu ermächtigen.
4. Darstellung von Veränderungen im Verhalten der Figur
4.1 Zentrale Erlebnisse als Auslöser für Wahn
4.1.1 Der Heimataufenthalt
„ Alle f ü hlten das, da Nathanael gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen durchaus ver ä ndert sich zeigte.
[...]
1 Aus: Freud, Siegmund (1919): Das Unheimliche.
2 Aus: ebd.
3 Vgl.: Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S. 8
4 Vgl.: ebd. S. 10
5 Vgl.: ebd. S. 9-10
6 Aus: ebd. S. 11
7 Vgl.: Giese, Peter Christian (2004): Lektürehilfen E. T. A. Hoffmann „Der Sandmann“. S.11
8 Aus: Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S.3
9 Vgl. Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S. 8
10 Vgl. ebd. S. 10
11 Vgl. ebd. S. 11
12 Vgl. ebd. S. 10
13 Vgl.: ebd. S. 12
14 Vgl.: ebd. S. 3
15 Vgl.: ebd. S. 28-29
16 Aus: ebd. S. 28
17 Vgl. Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S. 29
18 Aus: ebd. S. 16
19 Vgl.: ebd. S. 12, 17
20 Aus: ebd. S. 19
21 Vgl.: ebd. S. 21
22 Vgl.: Saße, Günter (2004): Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit. S. 98-99
23 Vgl.: Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S. 14
24 Vgl.: Sommerhage, Claus (1987): Hoffmanns Erzähler. Über Poetik und Psychologie in E. T. A. Hoffmanns Nachtstück Der Sandmann. S. 520
25 Vgl.: Saße, Günter (2004): Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit. S. 99
26 Vgl.: Hoffmann, E. T. A. (2017): Der Sandmann. S. 21
27 Aus: ebd. S. 12