In dieser Seminararbeit möchte ich einen Beitrag zur Musikthematik leisten, da diese eine zentrale Rolle in der Erzählung spielt. Meine These, die es im Folgenden geht zu überprüfen, lautet: „Trotz der ablehnenden Haltung der Mäuse, in Musik etwas Höheres zu sehen, erzeugt Josefines Gesang in dem unruhigen, durch Existenzängsten gekennzeichneten Mäusevolk ein starkes Gefühl von Schutz und Geborgenheit.“
Ich werde dabei wie folgt vorgehen: Zunächst werden unter den Vorbetrachtungen der kulturhistorische und literarische Kontext skizziert sowie autobiografische Aspekte dargestellt, um entstehungsbedingte Faktoren zu nennen. Danach wird ausführlich auf die Bedeutung des musikalischen Gehalts eingegangen und im Anschluss Bezüge zum jüdischen Volk hergestellt. Schließlich werde ich aus allen Analyse- und Interpretationsergebnissen ein Fazit ziehen und Stellung zur Ausgangsthese nehmen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Vorbetrachtungen
1.1 Kulturhistorischer und literarischer Kontext
1.2 Autobiografische Aspekte
2. Zur Bedeutung des musikalischen Gehaltes der Erzählung
2.1 Josefine als Scheinkünstlerin
2.2 Die Unmusikalität des Mäusevolkes
3. Bezüge zum jüdischen Volk
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
״[Josefine] erreicht Wirkungen, die ein Gesangskünstler vergeblich bei uns anstreben würde und die nur gerade ihren unzureichenden Mitteln verliehen sind. Dies hängt wohl hauptsächlich mit unserer Lebensweise zusammen.“[1] Mit diesen beiden Sätzen wird schon auf die Gesamtthematik der Erzählung ״Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ hingedeutet. Es geht um ein arbeitendes Mäusevolk, das täglich um seine Existenz kämpfen muss. Eine besondere Stellung in diesem Volk nimmt die Sängerin Josefine ein, die ihr Pfeifen als eine außergewöhnliche künstlerische Fähigkeit sieht und sich auf diesem Weg von der Arbeitspflicht befreien möchte. Von den anderen Mäusen erhält sie einerseits Bewunderung, da ihr Gesang tatsächlich eine besänftigende Wirkung hat, andererseits wird sie aber auch mit Ablehnung und Spott konfrontiert. Die Erzählung ist Franz Kafkas letztes Werk und eine von vier Erzählungen aus seinem 1924 erschienenen Sammelband ״Ein Flungerkünstler“.
In dieser Seminararbeit möchte ich einen Beitrag zur Musikthematik leisten, da diese eine zentrale Rolle in der Erzählung spielt. Meine These, die es im Folgenden geht zu überprüfen, lautet: ״Trotz der ablehnenden Flaltung der Mäuse, in Musik etwas Flöheres zu sehen, erzeugt Josefines Gesang in dem unruhigen, durch Existenzängsten gekennzeichneten Mäusevolk ein starkes Gefühl von Schutz und Geborgenheit.“ Ich werde dabei wie folgt Vorgehen. Zunächst werden unter den Vorbetrachtungen der kulturhistorische und literarische Kontext skizziert sowie autobiografische Aspekte dargestellt, um entstehungsbedingte Faktoren zu nennen. Danach wird ausführlich auf die Bedeutung des musikalischen Gehalts eingegangen und im Anschluss Bezüge zum jüdischen Volk hergestellt. Schließlich werde ich aus allen Analyse- und Interpretationsergebnissen ein Fazit ziehen und Stellung zur Ausgangsthese nehmen.
Bezüglich des Forschungsstandes kann gesagt werden, dass es eine Vielzahl an Deutungen und Interpretationsansätzen gibt. Laut Malte Kleinwort werde diese Erzählung im Gegensatz zu anderen Erzählungen Kafkas immer wieder von neuem diskutiert und gedeutet.[2] Dennoch entschied ich mich für einen Forschungsbeitrag zu ״Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“, da auf die Musikthematik nicht in allen Interpretationen ausführlich eingegangen wird.
1 .Vorbetrachtungen
1.1 Kulturhistorischer und literarischer Kontext
Um 1900 etabliert sich das Zeitalter der Moderne, das geprägt ist von Massenphänomenen wie der Arbeiterbewegung, technischen Errungenschaften, der Entfesselung der Industrie und dem Aufkommen der Parteiendemokratie.[3] Eric Flabsbawn beschreibt die Moderne auch als das Zeitalter der Extreme, da sie sich einerseits durch wissenschaftlichtechnische Fortschritte, Wohlstand und dem Ausbau der Demokratie auszeichne, andererseits aber auch von Propaganda, Werteverlust und der Flerrschaft des Geldes belastet sei.[4]
Mit diesen Veränderungen setzt auch ein Umbruch in der literarischen Welt ein und dieser läuft keineswegs geradlinig. Die moderne Literaturepoche kann in mehrere Strömungen unterteilt werden, ausgehend vom Symbolismus bis hin zur Nachkriegsliteratur. Es herrscht ein wildes Experimentieren mit neuen literarischen Formen und Stilen wie der freien indirekten Rede oder der Perspektivenwechsel. Subjektive Sichtweisen rücken nun in den Mittelpunkt des Erzählens und verdrängen die nüchterne Erzählweise des Naturalismus. Kennzeichnend für die moderne Literatur sind vor allem der Ästhetizismus, der Schönheit Autonomie zuschreibt, Individualität und Subjektivität.
Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Epoche ist Franz Kafka, der an der Destruktion klassizistischer Kunstnormen mitwirkt und die psychischen Modernisierungsschäden zu zentralen Motiven seines Werkes macht.[5]
1.2 Autobiografische Aspekte
״Wie sich mein Leben verändert hat und wie es sich doch nicht verändert hat im Grunde!“ [6], dies sind Worte aus Kafkas autobiografisch grundierter Erzählung ״Forschungen eines Flundes“. Schaut man auf Kafkas Leben, so stellt man tatsächlich fest, dass seine Lebenserfahrungen begrenzt blieben, nicht zuletzt deshalb da er bereits mit 41 Jahren an den Folgen einer Lungentuberkulose verstarb. Zudem hatte er ständig mit Ängsten, Selbstzweifel, familiären Katastrophen und Bedrohungen zu kämpfen. Geboren am 03. Juli 1883 in Prag, wuchs Franz Kafka in einer jüdischen Familie auf. Seine Kindheit war geprägt von sozialer Kälte im Elternhaus, der unvorhersehbaren Gereiztheit des Vaters, Unsicherheitsgefühlen, häufigem Wohnsitzwechsel und fehlenden Bezugspersonen. Auch als Schuljunge hatte er es wegen des sehr dominanten Vaters nicht leicht. Freundschaften konnte er aufgrund seiner introvertierten Art nur schwer knüpfen. In seinen Erzählungen verarbeitet Kafka seine negativen Erfahrungen. Sie zeichnen sich oft durch undurchschaubare Beziehungen und unklare Strukturen der Personen aus. Auch Kafkas spätere Jahre sind geprägt von Missgeschicken. Zu Frauen pflegte er ein eher schwieriges Verhältnis. Seine beiden Verlöbnisse löste er rasch wieder auf und lebte bis an sein Lebensende allein. Zudem klagte er oft, dass er sich nie voll und ganz der Kunst, also der Literatur, widmen konnte.
Literaturwissenschaftler wie Manfred Engel und Bernd Auerochs fassen dies als Konflikt zwischen Kunst und Gesellschaft auf, der auch in ״Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ wiederzufinden sein wird.[7] 1917 erkrankte Kafka an Tuberkulose, mit der er sieben Jahre zu kämpfen hatte und die ihm letztlich das Leben nahm. Am 03. Juni 1924 verstarb Kafka in Kierling bei Wien.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2. Zur Bedeutung des musikalischen Gehaltes der Erzählung
2.1 Josefine als Scheinkünstlerin
Deutlich in der Erzählung zu erkennen ist, dass die Kunst Josefines vom übrigen Mäusevolk kritisch hinterfragt wird, denn in Wirklichkeit stellt ihr Gesang keine außerordentliche Begabung dar: ״Ist es denn überhaupt Gesang? Ist es nicht vielleicht doch nur ein Pfeifen? Und Pfeifen allerdings kennen wir alle, es ist die eigentliche Kunstfertigkeit unseres Volkes, oder vielmehr gar keine Fertigkeit, sondern eine charakteristische Lebensäußerung. Alle pfeifen wir, aber freilich denkt niemand daran, das als Kunst auszugeben [...]“[8] Von Ulrich Plass als ״Schwindlerin“[9] und Ritchie Robertson als ״Möchte-gern-Künstlerin“[10] diffamiert, treibt Josefine ein nach ihrer Auffassung künstlerisches Schaffen und glaubt ihr Volk mit ihrem Pfeifen zu begeistern. Doch welche Absicht verfolgte Franz Kafka bei diesem Paradox? Eine Antwort auf diese Frage findet man womöglich schon in der Formulierung des Titels der Erzählung. Der Gesang, die Kunst, eröffnet hier ein Spannungsfeld zwischen dem Einzelnen mit seinem Anspruch auf eine Ausnahmestellung und der Gemeinschaft von Gleichen.[11] Diese Ausnahmestellung wird von den anderen jedoch nicht akzeptiert. Zwar sticht Josefine in irgendeiner Weise durch ihr leises Pfeifen aus der Menge heraus und wird von den anderen Mäusen bewundert (״Es gibt niemanden, den ihr Gesang nicht fortreißt [...]“[12] ), doch eine Sonderstellung wird strikt abgelehnt. Josefine solle wie jede andere Maus die gleiche Arbeit verrichten, schließlich handele es sich bei ihrem Pfeifen doch nur um eine normale Eigenschaft. Sie als Künstlerin zu bezeichnen, wäre also ein wenig übertrieben, nicht zuletzt aus dem Grund, dass sie mit ihrem Verschwinden am Ende der Erzählung keine tiefen Wunden hinterlässt, sondern sie sehr bald in Vergessenheit gerät. Eines macht sie aber tatsächlich besonders und dies ist vermutlich auch der Grund, weshalb das Mäusevolk ihre Flunkerei nie auffliegen lassen hat. Sie schafft es mit ihrem Pfeifen, Momente und wenn auch nur kurze Momente des Friedens in das unruhige, angstvolle Leben des Mäusevolkes zu bringen.
2.2 Die Urimusikalität des Mäusevolkes
Kafka selbst verstand sich als unmusikalischer Mensch. In einem seiner Briefe an Milena Jesenská schreibt er: ״[W]eisst Du eigentlich dass ich vollständig, in einer meiner Erfahrung nach überhaupt sonst nicht vorkommenden Vollständigkeit unmusikalisch bin?“[13] Gerade aus diesem Grund erscheint es eher merkwürdig, dass die Musik in seiner ״Josefine“ ein zentrales Leitmotiv darstellt. Doch kann man überhaupt von Musik im Sinne der großen Musiker oder Musik als Kunst sprechen? Wie eben schon deutlich gemacht, handelt es sich doch nur um ein leises Pfeifen, eine ganz normale Eigenschaft von Mäusen, was das Mäusevolk aber trotzdem immer wieder für eine Weile verzaubert. Oder gibt es nur vor verzaubert zu sein? An dieser stelle muss man sich fragen, ob das Mäusevolk überhaupt ein Gespür für die Musik besitzt. ״[W]ir sind zu alt für Musik, ihre Erregung, ihr Aufschwung paßt nicht für unsere Schwere, müde winken wir ihr ab; wir haben uns auf das Pfeifen zurückgezogen; ein wenig Pfeifen hie und da, das ist das Richtige für uns.“[14] Der Anspruch, den das Mäusevolk an die Musik stellt, hält sich also in Grenzen und eben diese Tatsache, dass sich die Mäuse mit einem bloßen Pfeifen zufrieden geben, lässt sich als Unmusikalität zusammenfassen. Zu klären wäre dann noch das Rätsel um die große Wirkung Josefines Pfeifen auf das Mäusevolk. Das Leben der Mäuse ist sehr unruhig, geprägt von ״Überraschungen, Beängstigungen, Hoffnungen und Schrecken“[15] Diese Erfahrungen allein zu ertragen, wäre für jede Maus des Volkes eine Qual. Und wie durch ein Wunder schafft es Josefine in genau solchen Momenten des Schreckens ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erzeugen, einfach in dem sie sich in die Mitte stellt und anfängt zu singen. Das Mäusevolk begibt sich so ״in das Gefühl der Menge, die warm, Leib an Leib, scheu atmend horcht.“[16] Vielleicht ist es die Normalität ihres Gesanges (das Pfeifen), die dieses Gemeinschaftsgefühl erzeugt und die Mäuse daran erinnert, dass sie alle dasselbe Leid teilen und kein Mitglied der Gesellschaft höher oder niedriger gestellt ist.
3. Bezüge zum jüdischen Volk
Dass in ״Josephine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ Parallelen zum Judentum gezogen werden, ist in der Forschung nichts Neues. Vor allem der Literaturwissenschaftler Ritchie Robertson setzte sich ausführlich mit diesem Gedanke auseinander und schenkte dieser Thematik ein extra Kapitel in seinem 1988 veröffentlichten Werk ״Kafka. Judentum, Gesellschaft, Literatur“. Robertson griff in diesem Zusammenhang einige Merkmale des jüdischen Volkes auf, die nach ihm auch im Mäusevolk wiederzufinden seien: die Zerstreuung, eine gewisse praktische Schlauheit, die Unmusikalität sowie die Unfähigkeit zur bedingungslosen Ergebenheit.[17] In der Tat lassen sich mehrere Indizien in der Erzählung finden, die auf einen jüdischen Hintergrund schließen. Zunächst einmal fällt auf, dass Kafka insgesamt einschließlich des Titels dreiundsechzig Mal von ״dem Volk“ oder ״unserem Volk“ spricht. Speziell durch das Possessivpronomen erhält man den Eindruck, als würde Kafka nicht nur das Mäusevolk meinen, sondern ein Volk, zu dem auch er gehöre und mit dem er sich identifizieren könne. Schaut man auf die Eigenschaften, die er mit diesem Volk verbindet, so erscheint diese Erkenntnis recht plausibel. Es sind jene Eigenschaften, die soeben nach
[...]
[1] Kittler/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, S. 363.
[2] Vgl. Kleinwort: Der späte Kafka, s. 251.
[3] Vgl. Ruffing: Deutsche Literaturgeschichte S.189.
[4] Vgl. ebd., S.190.
[5] Anz: Franz Kafka, S.16.
[6] Engel/Auerochs: Kafka-Handbuch, s.l.
[7] Vgl. ebd., s 325.
[8] Kittier/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, s. 351 f.
[9] Plass: Franz Kafka, s. 121.
[10] Robertson: Franz Kafka, S.59.
[11] Vgl. Plass: Franz Kafka, S.120 f.
[12] Kittler/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, S.
[13] Kleinwort: Kafkas Verfahren, S. 155.
[14] Kittler/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, S. 365.
[15] Ebd, s. 355.
[16] Kittier/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, s. 365.
[17] Kittier/ Koch/ Neumann: Franz Kafka, s. 356.