“Today, the CTA functions as a veritable government, and has all the departments and attributes of a free democratic government.”
Als seine Heiligkeit der Dalai Lama 1959 ins indische Exil flüchtete begleiteten ihn eine kleine Zahl von Regierungsmitgliedern. Ihm folgten über die kommenden Jah-re über 100'000 Tibeter, welche heute vor allem auf dem indischen Subkontinent in diversen tibetischen Siedlungen verteilt leben. Von Beginn an war es das erklärte Ziel des Dalai Lama das veraltete tibetische Regierungssystem, namentlich eine feudale Theokratie mit ihm als absolutem Herrscher, in eine moderne Demokratie umzuwandeln.
Die obige Aussage gibt den Ausgangspunkt dieser Seminararbeit vor, indem diese Erklärung der tibetischen Exilregierung (CTA) kritisch überprüft werden soll. Da ei-ne Untersuchung einer Demokratie schon vom Ursprung des Worts nicht nur die Regierung sondern vor allem auch das regierte Volk miteinschliesst, wird im Rah-men dieser Arbeit auch die Exilgemeinschaft selbst auf ihren Demokratisierungs-grad hin untersucht. Wie aus dem Titel der Arbeit zu ersehen ist, liegt dabei der Schwerpunkt der Analyse in der fragwürdigen Verbindung von Religion und Politik, welche für die tibetische Geschichte kennzeichnend war und zum Teil bis heute ist.
Aus Gründen, welche in Kapitel 2.3 dargelegt werden, gehe ich in dieser Arbeit von der Prämisse aus, dass ein gewisser Grad an Säkularisierung notwendig ist, um von einer echten Demokratie sprechen zu können.
Die zentrale Frage, welche in dieser Arbeit beantwortet werden soll lautet also:
Inwiefern kann das heutige politische System der tibetischen Exilregierung und die tibetische Exilgemeinschaft als demokratisch bezeichnet werden und wieweit geht die Säkularisierung der Politik und der Gesellschaft, welche für eine echte Demo-kratie bis zu einem gewissen Grad notwendig ist?
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Abgrenzung
1.3 Aufbau der Arbeit
2 Demokratietheorie
2.1 Konstitutionelle Voraussetzungen
2.1.1 Partizipation
2.1.2 Politischer Wettbewerb
2.1.3 Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte
2.2 Soziokulturelle Voraussetzungen
2.2.1 Das Standardmodell
2.2.2 Bildung
2.2.3 Zivilgesellschaft bzw. Sozialkapital
2.3 Demokratie und Religion – das Böckenförde-Paradoxon
3 Die Tibetische Diaspora
3.1 Buddhismus in Tibet
3.1.1 Grundlagen des Buddhismus
3.1.2 Mahayana
3.1.3 Reinkarnierte Lamas – der Dalai Lama
3.1.4 Die vier Schulen und die Bön-Religion
3.2 Das politische System der tibetischen Exilregierung
3.2.1 Die Exekutive – der Dalai Lama und der Kashag
3.2.2 Assembly of Tibetan People’s Deputies – ATPD
3.2.3 Die Supreme Justice Commission
3.2.4 Politische Parteien - Opposition
3.2.5 Das Staatsorakel - Nechung
3.3 Die Tibeter im Exil
3.3.1 Demographie der Exilbevölkerung
3.3.2 Religiöser Nationalismus im Exil
3.3.3 Die Shugden-Affäre
4 Schlussfolgerungen
4.1 Demokratie in der Tibetischen Exilregierung
4.1.1 Exekutive
4.1.2 Legislative
4.1.3 Mehrparteiensystem – Opposition
4.1.4 Entscheidungsprozesse - Output
4.2 Säkularisierung der tibetischen Exilgemeinschaft
4.3 Abschliessende Bemerkungen
Anhang: Geopolitische Karte Tibets
Literaturverzeichnis
Artikelverzeichnis
Internetverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
“Today, the CTA functions as a veritable government, and has all the departments and attributes of a free democratic government.”[1]
Als seine Heiligkeit der Dalai Lama 1959 ins indische Exil flüchtete begleiteten ihn eine kleine Zahl von Regierungsmitgliedern. Ihm folgten über die kommenden Jahre über 100'000 Tibeter, welche heute vor allem auf dem indischen Subkontinent in diversen tibetischen Siedlungen verteilt leben. Von Beginn an war es das erklärte Ziel des Dalai Lama das veraltete tibetische Regierungssystem, namentlich eine feudale Theokratie mit ihm als absolutem Herrscher, in eine moderne Demokratie umzuwandeln.
Die obige Aussage gibt den Ausgangspunkt dieser Seminararbeit vor, indem diese Erklärung der tibetischen Exilregierung (CTA) kritisch überprüft werden soll. Da eine Untersuchung einer Demokratie schon vom Ursprung des Worts nicht nur die Regierung sondern vor allem auch das regierte Volk miteinschliesst, wird im Rahmen dieser Arbeit auch die Exilgemeinschaft selbst auf ihren Demokratisierungsgrad hin untersucht. Wie aus dem Titel der Arbeit zu ersehen ist, liegt dabei der Schwerpunkt der Analyse in der fragwürdigen Verbindung von Religion und Politik, welche für die tibetische Geschichte kennzeichnend war und zum Teil bis heute ist.
Aus Gründen, welche in Kapitel 2.3 dargelegt werden, gehe ich in dieser Arbeit von der Prämisse aus, dass ein gewisser Grad an Säkularisierung notwendig ist, um von einer echten Demokratie sprechen zu können.
Die zentrale Frage, welche in dieser Arbeit beantwortet werden soll lautet also:
Inwiefern kann das heutige politische System der tibetischen Exilregierung und die tibetische Exilgemeinschaft als demokratisch bezeichnet werden und wieweit geht die Säkularisierung der Politik und der Gesellschaft, welche für eine echte Demokratie bis zu einem gewissen Grad notwendig ist?
1.2 Abgrenzung
Die Demokratietheorie soll in dieser Arbeit lediglich den Rahmen der Analyse bilden. Es geht also nicht um eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Demokratietheorien oder einer Wertung derselben. Vielmehr sollen die wichtigsten Elemente einer modernen Demokratie kurz dargestellt werden, damit anschliessend eine Überprüfung der tibetischen Exilregierung (CTA) anhand dieser Kriterien möglich wird. Die CTA soll nicht an einem Ideal gemessen werden, welches für die wenigsten Staaten (wenn überhaupt für einen) erreichbar wäre. Die Auswahl der Kriterien wurde hauptsächlich der Theorie von Robert Dahl und Joseph Schumpeter entnommen, welche zu den meist zitierten Experten bezüglich Studien zur Demokratie gehören.[2]
1.3 Aufbau der Arbeit
Um einen Untersuchungsrahmen zu erstellen soll im ersten Kapitel der Demokratiebegriff dargestellt werden, der für diese Arbeit relevant ist. Dabei werden in einem ersten Schritt die instutionellen Grundlagen dargestellt, welche nach herrschender Lehre für das Bestehen einer Demokratie erforderlich sind. In einem zweiten Schritt gehe ich auf sogenannte sozio-kulturelle Voraussetzungen einer Gesellschaft ein, welche für das Funktionieren einer Demokratie die Grundlage bilden.
Im zweiten Kapitel folgt die Analyse der tibetischen Exilgemeinschaft. Da der Buddhismus die zentrale Komponente der tibetischen Kultur darstellt, wird in einem ersten Abschnitt eine kurze Einführung zu diesem Thema gegeben. Ohne ein Verständnis der grundlegenden buddhistischen Prinzipien, Werte und religiösen Symbolen und Figuren, ist eine korrekte Beurteilung der folgenden Abschnitte nicht möglich.
Im zweiten Abschnitt wird ein Einblick in das politische System der Exilregierung mit seinen institutionellen und funktionalen Elementen gegeben. Dabei wird auch dem sogenannten Output eines Regierungssystems Rechnung getragen, welcher auch als Massstab für eine Demokratie benutzt werden kann.
Im letzten Teil des Kapitels gehe ich eingehend auf die tibetische Exilgemeinschaft ein, wobei der Fokus auf den Exiltibetern in Indien, Nepal und Bhutan liegt, welche die überwiegende Mehrheit bilden.
Abschliessend soll im letzten Kapitel versucht werden eine Zusammenfassung der untersuchten Fakten zu geben, um dadurch eine Antwort auf die Eingangs gestellten Fragen geben zu können.
In dieser Arbeit wird an verschiedenen Stellen auf Tibet als geographische Einheit Bezug genommen. Dabei werden hauptsächlich drei Hauptregionen Tibets unterschieden. Ü-Tsang bzw. Zentraltibet bildet den Teil Tibets, welcher heute allgemein als Tibet angesehen wird (die sogenannte Autonome Region Tibet). Die beiden östlichen bzw. nordöstlichen Regionen Kham und Amdo hingegen wurden nach der chinesischen Besetzung in chinesische Provinzen umgewandelt oder bereits bestehenden hinzugefügt. Zum besseren Verständnis dient eine Karte Tibets im Anhang.
2 Demokratietheorie
„Die Demokratie ist eine Herrschaft im Zeichen säkularisierter, weltlicher Ordnung. In ihr ist das Volk – im Sinn von Demos – letztlich alleinberechtigter Ursprung der Staatsgewalt, nicht der Monarch oder die Kirche, Gott, Götter oder von Gott oder Göttern bestellte Herrscher.“[3]
Diese Definition von Böckenförde kann als Ausgangspunkt für den Demokratiebegriff im Rahmen dieser Arbeit genommen werden. Es soll vor allem der säkulare Gedanke der Demokratie dargestellt werden, ohne dabei aber die anderen wichtigen konstitutionellen Elemente zu vernachlässigen. Die Auswahl der Kriterien für eine Demokratie bezieht sich dabei aber immer auf die speziellen Umstände der tibetischen Exilregierung. Zunächst geht es vor allem um die strukturellen bzw. institutionellen Voraussetzungen, um überhaupt von einer Demokratie sprechen zu können. Für Schumpeter ist Demokratie nicht ein Ideal, welches Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte oder andere Leitbilder beinhaltet, sondern eine politische Methode bzw. eine institutionelle Ordnung, um zu Entscheidungen im administrativen und legislativen Bereich zu kommen.[4]
Im zweiten Abschnitt soll versucht werden zum Teil vielleicht umstrittene soziokulturelle Voraussetzungen für eine funktionierende Demokratie darzulegen. Die sogenannte Output-Seite der Demokratie, also die konkreten Leistungen und Entscheidungen einer Regierung und ihre Akzeptanz werden in diesem Kapitel nicht untersucht. Bei der Darstellung der CTA (Kapitel 3.2) wird aber diese Komponente kurz behandelt. Im letzten Abschnitt wird die Beziehung zwischen Demokratie und Religion im Rahmen des Böckenförde-Paradoxons untersucht.
2.1 Konstitutionelle Voraussetzungen
Die wichtigsten strukturellen Elemente einer modernen liberalen Demokratie sind: 1) Partizipation, 2) Wettbewerb und 3) Grundlegende bürgerliche und politische Rechte innerhalb eines Rechtsstaats.[5]
2.1.1 Partizipation
Untersucht werden soll hier nicht die sogenannte partizipatorische Demokratietheorie, wo es unter anderem um die Ausweitung demokratischer Entscheidungsprozesse auf Bereiche ausserhalb des ursprünglichen politischen Umfelds geht, wie zum Beispiel auf die Wirtschaft.[6] Partizipation in diesem Abschnitt leitet sich direkt vom ursprünglichen Gedanken der Demokratie ab. Als ein aus dem Griechischen stammender Fachausdruck, setzt er sich zusammen aus „demos“ – dem griechischen Wort für Volk – und „kratein“ in der Bedeutung von herrschen oder Macht ausüben.[7] Somit soll die Regelung öffentlicher Angelegenheiten nicht in der Hand einer kleinen Gruppe (Oligarchie bzw. Aristokratie) oder einer einzelnen Person (Monarchie bzw. Tyrannis) liegen, sondern vielmehr der gesamten Bevölkerung obliegen, dem Volk. Der Partizipationsgrad gilt daher unumstritten als ein Massstab für eine Demokratie.
Doch von einer sogenannten Volksdemokratie mit direkter Regierung durch die Bevölkerung ist in den heutigen modernen Demokratietheorien nicht mehr die Rede. Die Partizipation bezieht sich heute auf die Möglichkeit der regelmässig wiederholten Wahl von Repräsentanten, welche dann an Stelle des Volkes für die gewählte Zeitperiode, die politischen Entscheidungen treffen.
Zudem kann Partizipation auch direkte Volksrechte wie Referenden oder Initiativen beinhalten, wodurch die Bevölkerung auch nach Wahlen noch Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen kann (plebiszitäre oder direkte Demokratie). Solche direkten Volksrechte sind jedoch weder hinreichende noch notwendige Bedingung für das Bestehen einer Demokratie (insbesondere nicht für den Demokratiebegriff in dieser Arbeit). Auch eine Unterscheidung zwischen parlamentarischer oder präsidentieller Demokratie bildet in dieser Arbeit kein Kriterium bezüglich des Demokratiegrads. Voraussetzung soll hier lediglich der im weiteren Sinne definierte Parlamentarismus sein. Ein Regierungssystem, „in dem das Parlament der Gesetzgeber ist und das Staatsbudget kontrolliert und in dem das Volk oder von ihm gewählte Repräsentanten über Wahl und gegebenenfalls Abwahl der Regierungen entscheidet“[8]. Essentiell ist lediglich, dass ein grosser Teil der erwachsenen Bevölkerung Staatsbürgerrechte besitzt, welche es ihr ermöglichen sowohl Legislative als auch Exekutive direkt oder indirekt zu wählen bzw. abzuwählen (aktives Wahlrecht) und gleichzeitig auch in ein solches Amt gewählt zu werden (passives Wahlrecht).[9]
Wer genau diese Staatsbürgerrechte besitzen muss, um von einer umfassenden Partizipationsmöglichkeit und somit von einer Demokratie reden zu können, soll in dieser Arbeit am Beispiel der modernen westlichen Demokratien gemessen werden. In den meisten westlichen demokratischen Staaten sind Ausländer, Kinder (unter 18) oder geistig Unmündige Personen von diesen Rechten ausgeschlossen. Bis 1971 besassen zum Beispiel auch Frauen in der Schweiz noch kein allgemeines Wahlrecht, was hier aber natürlich nicht als Massstab genommen werden soll.[10]
Ein heute selbstverständlicher Teil der Partizipation ist das Stimmengleichgewicht. Damit ist gemeint, dass unabhängig von der Rasse, Geschlecht, Religion oder sonstigen irrelevanten Merkmalen jeder Bürger über dasselbe Stimmengewicht verfügen sollte (z.B. ein Wähler eine Stimme).[11] Dieses Prinzip kann aber durch ein föderales Element ergänzt werden, indem den politischen Untereinheiten (Kantone, Provinzen etc.) in einer zweiten Kammer unabhängig von ihrer effektiven Bevölkerungszahl das gleiche Stimmrecht zugesprochen wird.
2.1.2 Politischer Wettbewerb
Dieses Kriterium gehört in das Gebiet der modernen Demokratietheorie. Die Idee eines Volkswillens bzw. allgemeinen Willens (volonté générale) nach Rousseau[12] wird heute im besten Fall weitgehend bezweifelt. Neben der Frage, ob ein solcher überhaupt existiert, stellt sich die weit kompliziertere Frage, wie ein solcher ermittelt werden könnte. Zudem bietet das Konzept auch eine hohe Missbrauchsgefahr.[13]
Die modernen Konzepte stimmen daher weitgehend darin überein, dass eine weitere Bedingung für eine Demokratie der Wettbewerb um die politische Macht ist. Dieser offene, pluralistische Wettkampf (die Wahlen) sollte durch organisierte Gruppen (Parteien) innerhalb etablierter und allgemein akzeptierter Spielregeln geführt werden.[14]
Die wichtigsten Spielregeln werden an dieser Stelle den Kriterien des Freedom House in Washington, D.C. entnommen werden, welches einen Demokratieindex erstellt hat, um eine Schätzung des Standes der politischen Rechte und Bürgerrechte zu ermöglichen.[15]
- Sind die gesetzlichen Grundlagen gegeben, dass sich Interessengruppen in Parteien oder anderen politischen Vereinigungen ihrer Wahl organisieren können und gewährleistet das politische System die Wahl und Abwahl dieser Gruppen?
- Gibt es eine signifikante Opposition und eine realistische Chance für diese Opposition im Rahmen des politischen Wettbewerbs die Regierung abzulösen?
- Ist die Wahl der Bürger frei von Druck durch das Militär, ausländische Mächte, totalitäre Parteien, religiöse Hierarchien, wirtschaftliche Verbände oder andere einflussreiche Interessengruppen?
2.1.3 Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechte
Rechtsstaatlichkeit bedeutet nicht nur die Durchsetzung gesetzlicher Normen, sondern vielmehr die Vorherrschaft des Rechts. Die gleiche Anwendung der Gesetze gegenüber allen Bürgern einschliesslich der Mitglieder der Regierung und Verwaltung oder anderen öffentlichen Institutionen. Gleicher und ungehinderter Zugang zu den Gerichten für alle Bürger. Freiheit der Judikative von politischer Einflussnahme. Und schliesslich der Vorrang der Verfassung, geschützt durch ein Verfassungsgericht. Natürlich umfasst der Begriff der Rechtsstaatlichkeit noch vielmehr als die hier nur rudimentär aufgelisteten Kriterien, doch sollten diese für die vorliegende Arbeit ausreichend sein.[16]
Untrennbar mit dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit verbunden sind die verschiedenen politischen Rechte und Bürgerrechte, also die sogenannten Freiheitsrechte. Hierzu zählen, Meinungs- und Redefreiheit, Informations- und Pressefreiheit und Vereinigungs-, Versammlungs- sowie Organisationsfreiheit, um nur einige Wenige zu nennen.[17] Insbesondere das Recht zur Kritik an Beamten, der Verwaltung oder dem herrschenden politischen, sozialen und ökonomischen System im Rahmen der Rede- und Pressefreiheit sind gemäss Dahl essentiell.[18]
Schliesslich gehört auch die Gewaltenteilung nach allgemeiner Überzeugung zu einem modernen Rechtsstaat. Die genaue Ausgestaltung der Trennung der drei Gewalten (Legislative, Exekutive und Judikative) soll an dieser Stelle nicht dargestellt werden. Auch inwiefern eine Überschneidung der Kompetenzen im Rahmen der horizontalen Kontrolle der Regierung notwendig ist, ist Teil demokratietheoretischer Untersuchungen und nicht Thema dieser Arbeit.
2.2 Soziokulturelle Voraussetzungen
Was für Funktionsvoraussetzungen brauchen Demokratien, damit sie stabil sind und gedeihen können? Von der Vorstellung, dass eine Demokratie nur in kleinen Gemeinwesen möglich sei, haben sich die modernen Demokratietheorien zwar getrennt, doch auch heute geht die herrschende Lehre von gewissen soziokulturellen Voraussetzungen aus.
2.2.1 Das Standardmodell
Die folgenden Kriterien können gemäss Schmidt als modernisierungstheoretisches Standardmodell bezeichnet werden. Bei Erfüllung dieser Kriterien sei die Wahrscheinlichkeit einer funktionsfähigen Demokratie – im Sinne von Dahl – besonders gross.[19]
1) Aufteilung bzw. Neutralisierung staatlicher Exekutivgewalt, vor allem die effektive Kontrolle polizeilicher und militärischer Gewalt,
2) eine ‚MDP-Gesellschaft‘[20], d.h. eine moderne, pluralistische Politstruktur, in der die ‚Machtressourcen‘ in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft breit gestreut sind,
3) eine weitgehend säkularisierte Politische Kultur, die offen für Kompromiss und geregelte Konfliktaustragung ist und zugleich nicht durch Autoritätshörigkeit bestimmt wird, und
4) eine der Demokratie förderliche internationale Lage bzw. demokratieverträgliche aussenpolitische Abhängigkeiten.
2.2.2 Bildung
Bildung scheint ein weiterer Schlüsselfaktor bezüglich der Stabilität bzw. Funktionalität einer Demokratie zu sein. Die etablierten westlichen Demokratien weisen eine durchschnittliche Alphabetisierung von 96% auf, wohingegen weniger demokratische oder sogar diktatorische Länder, Werte von 74% bzw. 46% aufzeigen.[21] Die kausale Beziehung lässt sich durch eine Erweiterung des Horizonts durch höhere Bildung ableiten. Durch Bildung ist man eher in der Lage die Notwendigkeit von Normen und Regeln zur Toleranz zu verstehen, man kann extremistischen Doktrinen eher widerstehen und sie erhöht die Befähigung bei Wahlen rationale Entscheidungen zu treffen.
Wenngleich ein hoher Bildungsstand gewiss keine ausreichende Bedingung für eine funktionierende Demokratie ist, so kann sie zumindest als notwendige oder nützliche bezeichnet werden. Wie das Schicksal der Weimarer Republik aber gezeigt hat, spielt die Art der Bildung dabei eine entscheidende Rolle. Wenn das Ziel der Bildung vor allem diszipliniertes Training und weniger persönliche Entwicklung ist, kann sie auch kontraproduktiv sein.[22]
2.2.3 Zivilgesellschaft bzw. Sozialkapital
Putnam ist ein Verfechter der Zivilgesellschaft und des sogenannten Sozialkapitals, als essentielle Elemente einer funktionierenden Demokratie.
„That democratic self-government requires an actively engaged citizenry has been a truism for centuries I consider [...] that the health of our public institutions depends, at least in part, on widespread participation in private voluntary groups – those networks of civic engagement that embody social capital.“[23]
Demokratie bedeutet ‚Volksherrschaft‘. Wir haben gesehen, dass der moderne Demokratiebegriff von der klassischen Vorstellung einer direkten Volksherrschaft abgekommen ist. Die meisten Demokratien sind heute repräsentativer Natur. Eine direkte Folge davon ist, dass eine moderne Demokratie vom Engagement ihrer Bürger abhängig ist. Eine geringe Wahlbeteiligung führt zu demokratisch fragwürdigeren Ergebnissen. Je weniger Menschen sich politisch engagieren oder interessieren, desto mehr Einfluss gewinnen diejenigen, welche es tun. Meist führt dies zu extremeren Positionen und radikaleren Entscheidungen, da diese Gruppen meist klare Interessen haben oder sogar antidemokratisch sein können. Daher ist es für Putnam essentiell, dass sich ein grosser Teil der Bürger engagiert. Für ihn geht es nicht nur um Wahlbeteiligung, sondern um ein allgemeines Interesse an der ‚öffentlichen Sache‘. Durch Vereinsbildungen, Petitionen, politische Kampagnen, soll die Zivilgesellschaft als weiteres Kontrollorgan der Politik funktionieren und gleichzeitig extremen Gruppierungen nicht das Feld überlassen. Denn die grosse Masse habe eine eher gemässigte Einstellung, welche sie aber häufig nicht artikuliert. Dies muss sich ändern, damit eine funktionierende Demokratie besteht.[24]
2.3 Demokratie und Religion – das Böckenförde-Paradoxon
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das grosse Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“[25]
Dieses als Böckenförde-Paradoxon bekanntgewordene Zitat, sollte die Angewiesenheit des freiheitlichen Staates auf die religiöse, genauer: christliche Gesinnung seiner Bürger unterstreichen. Zentraler Begriff ist hierbei die Sittlichkeit. Nur die (christliche) Religion sei demnach imstande die für die Erhaltung des Staates notwendige Sittlichkeit der Bürger zu gewährleisten.[26]
Auch Tocqueville betrachtete die christliche Offenbarungsreligion als sittliche Garantin der Demokratie, weil eine säkularisierte moralische Orientierung niemals die Klarheit einer religiösen erzeugen könne und somit vielmehr der schwankenden Gesinnung der Öffentlichkeit ausgesetzt wäre.[27]
Es ist nicht verwunderlich, dass viele Autoren die Verbindung zwischen Christentum und Demokratie als konstitutionell bzw. untrennbar betrachten. Es kann kaum bestritten werden, dass sich die moderne Demokratie in der westlichen Zivilisation entwickelt hat, welche sich gleichzeitig weitgehend über christliche Werte definiert.[28]
Es kann somit festgehalten werden, dass vor allem die christliche Religion, durch ein Wertesystem, welches in vielen Belangen parallel zum demokratischen verläuft, einen prägenden Einfluss auf die Demokratie hatte. Doch inwiefern das Christentum eine notwendige Bedingung für eine Demokratie ist, wird dadurch nicht geklärt. Grundlegende Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Toleranz können zwar christlich begründet werden, müssen dies aber keineswegs. Vielmehr haben sich in vielen Kulturen verschiedenste Religionen mit einem ähnlichen Wertesystem gebildet, was zumindest die Vermutung zulässt, dass solche Werte als allgemein erstrebenswert gelten können.
Wenngleich die modernen demokratischen Werte bzw. Ideen ursprünglich dem Christentum entsprungen sein mögen, so haben sie sich mit der Zeit zumindest in den säkularisierten westlichen Demokratien von diesem direkten Zusammenhang gelöst. Religion und hier vor allem das Christentum als einzige Möglichkeit zur Erhaltung von Demokratie und Liberalismus zu bezeichnen, erscheint mir daher als dramatische Übertreibung. Eine Umkehrung der These führt eher zu brauchbaren Ergebnissen. Namentlich die Frage wieweit Religion etwas zum normativen Gehalt der Demokratie beitragen kann.[29]
Der Dalai Lama und viele andere buddhistische Gelehrte, sowie westliche Autoren preisen die Kompatibilität der buddhistischen und der liberal-demokratischen Prinzipien und Werte, wie Gerechtigkeit, Mitgefühl, Respekt und Gleichheit.[30] Die Beziehung zwischen Buddhismus und Demokratie scheint eine ähnliche wie die des Christentums mit der Demokratie zu sein, mit der Ausnahme, dass die moderne Demokratie im christlichen Abendland begründet wurde. Aber genauso wie wohl fast jede Religion mit demokratischen Werten in Einklang gebracht werden kann (wenn man sich nur Mühe gibt), kann dieselbe Religion auch ein völlig anderes politisches System unterstützen, aufrechterhalten oder wie im Fall Tibets vor 1951 sogar selber bilden.[31] Religion, welcher Art auch immer, als konstitutionellen Faktor einer Demokratie zu bezeichnen, erscheint in diesem Sinne zumindest als zweifelhaft. Ohne Zweifel kann eine Religion durch Vermittlung von Werten für eine funktionierende Demokratie förderlich sein.
Doch neben diesem theoretisch positiven Einfluss der Religion auf eine Demokratie, gibt es auch eine klar negative Beziehung. Je grösser die Bedeutung der Religion innerhalb einer Gesellschaft ist, desto grösser sind auch die Gefahren von Intoleranz. Diese simple Tatsache ergibt sich bereits dadurch, dass die Idee einer Religion immer auf etwas Heiligem beruht. Wie kann man also Ideen, Werte und Symbole, welche man als heilig erachtet, anders als als absolut gültig beurteilen? Die unweigerliche Folge ist ein gewisses Mass an Intoleranz gegenüber anderen Ideen, welche denen der eigenen Religion widersprechen. Dies ist wohl mit ein Grund, warum die meisten westlichen Gesellschaften eine Trennung zwischen privatem und öffentlichem Interesse eingeführt haben und die Religion auf den ersten Teil beschränken.[32] Ein gewisser Grad der Säkularisierung ist somit nötig um eine Demokratie vor dem Glauben der Menschen an absolute Wahrheiten zu schützen.
[...]
[1] The official website of the Central Tibetan Administration (2002), Online im Internet.
[2] Vgl. Berg-Schlosser (2004), S. 30.
[3] Böckenförde (1987), S. 14.
[4] Vgl. Schumpeter (1993), S. 384.
[5] Vgl. Berg-Schlosser (2004), S. 30.
[6] Vgl. Schmidt (1995), S. 169ff.
[7] Vgl. Schmidt (1995), S. 11.
[8] Schmidt (2000), S. 309.
[9] Vgl. Schmidt (1995), S. 265.
[10] Vgl. Schmidt (1995), S. 269.
[11] Vgl. Dahl (1989), S. 129, 222f.
[12] Vgl. Rousseau (2003), S. 2ff.
[13] Vgl. Schmidt (1995), S. 73ff.
[14] Vgl. Berg-Schlosser (2004), S. 30.
[15] Vgl. Freedom House (2004), Online im Internet.
[16] Vgl. Morlino (2004), S. 9f.
[17] Vgl. Morlino (2004), S. 19.
[18] Vgl. Dahl (1989), S. 222f.
[19] Schmidt (1995), S. 299f.
[20] Dahl (1989), S. 251.
[21] Lipset (2003), S. 57.
[22] Lipset (2003), S. 58.
[23] Putnam (2003), S. 157.
[24] Vgl. Putnam (2003), S. 158ff.
[25] Böckenförde (1991), S. 112.
[26] Vgl. Haus (2003), S. 48.
[27] Vgl. Tocqueville (1987) II, S. 34ff.
[28] Vgl. Ruloff (2001), S. 10.
[29] Vgl. Haus (2003), S. 63ff.
[30] Vgl. Boyd (2004), S. 44ff; Vgl. Dalai Lama (1998), S. 186f.
[31] Das politische System Tibets vor 1951 wird allgemein als Theokratie bezeichnet mit dem Dalai Lama als absolutem weltlichem und geistlichem Oberhaupt. Die gesamte Verwaltung war mit genauso vielen Mönchen wie Laien besetzt und die drei grössten Klöster Tibets (Sera, Ganden und Derepung) mit über 20'000 Mönchen übten einen gewaltigen Einfluss auf die Politik der Regierung aus. Vgl. Goldstein (1989).
[32] Dreyfus (2002), S. 53.