Struktur und Rechtsfolgen des § 20 StGB, dargestellt am Beispiel der krankhaften seelischen Störung
Krankheit und Strafrecht
Zusammenfassung
„Krankheit und Strafrecht“ sind in keiner anderen strafrechtlichen Norm im Strafgesetzbuch (StGB) so eng verknüpft wie in den §§ 20, 21 StGB. Derjenige handelt ohne Schuld, „wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Aufgrund einer seelischen Störung kann also die Schuldunfähigkeit festgestellt werden.
An keiner Stelle im StGB wird die Schuld definiert. Dafür spricht die gesetzliche Überschrift des § 20 StGB von Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Diese liegt unter den in der Norm genannten Voraussetzungen vor. Was beispielsweise unter einer krankhaften seelischen Störung oder Schwachsinn, der Unfähigkeit nach der Unrechtseinsicht zu handeln, zu verstehen ist, bleibt nach dem Wortlaut des Gesetzes ebenso - wie der Begriff der Schuld - unbestimmt. Der Wortlaut der Norm ist wenig aussagekräftig.
Durch die hohe Bedeutung der Frage der Schuldunfähigkeit erwartet der Rechtsanwender eine Symbiose, ein schlüssiges Ineinandergreifen von Krankheit und dem Strafrecht und den verschiedenen dahinterstehenden Disziplinen. In der vorliegenden Seminararbeit, sollen alle Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB aus wissenschaftlicher Sicht beleuchtet und deren Verhältnis zueinander geklärt werden.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
A. Quo vadis § 20 StGB?
B. Der Tatbestand des § 20 StGB und seine Konsequenzen
I. Prinzip und Inhalt strafrechtlicher Schuld
II. Regelungsstruktur und Rechtsfolgen in der Theorie
1. Regelungsstruktur
a) Zweistufiger Aufbau
aa) Erstes Stockwerk: Prägnante Vorstellung der Eingangsmerkmale
(1) Krankhafte seelische Störung
(2) Tiefgreifende Bewusstseinsstörung
(3) Schwachsinn
(4) Schwere andere seelische Abartigkeit
bb) Zweites Stockwerk: Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit
(1) Einsichtsunfähigkeit
(2) oder Steuerungsunfähigkeit
b) Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit
c) Entsprechender Aufbau von § 21 StGB
2. Mögliche Konsequenzen fehlender Schuldfähigkeit im Hauptverfahren
C. Das Merkmal der krankhaften seelischen Störung
I. Begriffe der krankhaften seelischen Störung
1. Störung
2. Seelisch
3. Krankhaft und Krankheit
II. Deskriptive Feststellung mithilfe von Klassifikationen
III. Fallgruppen der krankhaften seelischen Störung
1. Sog. endogene Psychosen
2. Sog. exogene Psychosen
a) Beispiele exogener Psychosen
b) Alkoholrausch als exogene Psychose
D. Anwendungsprobleme der Praxis beim Alkoholrausch
I. Feststellung des Alkoholrausches anhand von Kriterien
1. Die Tatzeit-ВАК als Kriterium
a) Feststellung mit Blutprobe
b) Feststellung ohne Blutprobe
2. Die psychodiagnostischen Kriterien
Π. Schwachstellen der Kriterien
1. Schwächen der BAK
a) Schwächen mit Blutprobe
b) Schwächen ohne Blutprobe
c) Resümee zu den BAK-Schwächen
2. Schwächen der psychodiagnostischen Kriterien
IIF Gewichtung der Tatzeit-BAK
1. Verhältnis der Tatzeit-BAK zu psychodiagnostischen Kriterien
2. Verhältnis der Tatzeit-BAK zu anderen Störungen
IV. Bedeutung der BAK für die Schuldunfähigkeit
1. Anknüpfung an fiktive Schwellenwerte
2. Unsicherheitsbewältigung zu Lasten der Empirie
3. Einstufige Anwendung in der Praxis
V. Rechtsfolge der alkoholbedingten Schuldunfähigkeit
E. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
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A. Quo vadis § 20 StGB?
״Krankheit und Strafrecht“ sind in keiner anderen strafrechtlichen Norm im Strafgesetzbuch (StGB) so eng verknüpft wie in den §§ 20, 21 StGB. Derjenige handelt ohne Schuld, ״wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden BewußtseinsStörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seeli- sehen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. Aufgrund einer seelischen Störung kann also die Schuldunfähigkeit festgestellt werden.
An keiner Stelle im StGB wird die Schuld definiert. Dafür spricht die gesetzliche Überschrift des § 20 StGB von Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen. Diese liegt unter den in der Norm genannten VoraussetZungen vor. Was beispielsweise unter einer krankhaften seelischen Störung oder Schwachsinn, der Unfähigkeit nach der Unrechtseinsicht zu handein, zu verstehen ist, bleibt nach dem Wortlaut des Gesetzes ebenso - wie der Begriff der Schuld - unbestimmt. Der Wortlaut der Norm ist wenig aussagekräftig. Ein Laie wird deshalb (wie so oft) die Entscheidung eines Richters hierzu kaum vorhersehen können. Der Unterschied besteht hier jedoch darin, dass es um die Kernfrage des Strafrechts geht. Schuldig oder nicht schuldig - damit wird auchjeder im Recht Ungeübte eine Vorstellung assoziieren können.
Durch die hohe Bedeutung der Frage der Schuldunfähigkeit erwartet der Rechtsanwender eine Symbiose, ein schlüssiges Ineinandergreifen von Krankheit und dem Strafrecht und den verschiedenen dahinterstehenden Disziplinen.
In der vorliegenden Seminararbeit, sollen alle Tatbestandsmerkmale des § 20 StGB beleuchtet und deren Verhältnis zueinander geklärt werden. Daraufhin soll aufgezeigt werden, welche Konsequenzen die Feststellung der Schuldunfähigkeit im Hauptverfahren überhaupt hat.
Insbesondere steht der Umgang der Rechtspraxis mit der Norm im Mittelpunkt und wie von dieser versucht wird, bestehende Schwierigkeiten bei der Anwendung zu bewältigen. Das Merkmal der krankhaften seelischen Störung wird hierzu vertieft behandelt und soll exemplarisch als Indikator für die Schwierigkeiten der Norm herangezogen werden. Dazu wird aufgezeigt, wie die einzelnen Begrifflichkeiten der krankhaften seelischen Störung isoliert zu verstehen sind.
Die Feststellung des Tatbestandsmerkmals der krankhaften seelischen Störung und welche Fallkonstellationen hierunter konkret zu subsumieren sind, wird darauf nachfolgend ausgearbeitet. Dabei soll in der Arbeit punktuell aufgezeigt werden, wie Unsicherheiten und Ungenauigkeiten bei der Anwendung entstehen, sodass die These entsteht, dass § 20 StGB und dessen Anwendung eine Unsicherheitszone darstellen. Denn bei vielen Sachverhalten wird die Norm von der Rechtspraxis nur mit großen Unsicherheiten angewendet werden können. Es bestehen zweifellos Schwierigkeiten bei der Rechtsanwendung, in der das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Disziplinen eine Rolle spielt.
In der Literatur werden kritische Eindrücke vermittelt. So wird der § 20 StGB als ״Produkt einer traurigen Geschichte“1 beschrieben, mit ״miss- glückten Eingangsmerkmalen“2, der wegen seines Wortlautes eine ״Stirn- mige Systematik“3 verhindere, welche durch die ״Unmöglichkeit einer In- terpretation“4 gekennzeichnet sei. Dies ist ein insgesamt vernichtendes Urteil, welches für die Struktur und Rechtsfolgen der Norm von Bedeutung sein kann.
Wegen Übersichtlichkeit und entsprechender Schwerpunktsetzung werden gewisse Thematiken nicht aufgegriffen. So wird das Verhältnis des § 20 StGB zu § 17 StGB5 oder § 3 JGG6 nicht thematisiert. Eine AuseinanderSetzung mit der ״actio libera in causa“ (alic)7 oder mit der Strafbarkeit wegen Vollrausches gern. § 323 StGB ist nicht Bestandteil der Arbeit, da Schuldunfähigkeit im Mittelpunkt Stehen soll. Die Arbeit untersucht dabei ausschließlich die Schuld(un)fähigkeit von Erwachsenen. Entwicklungsphasen der Schuldunfähigkeit bleiben unberücksichtigt.
B. Der Tatbestand des § 20 StGB und seine Konsequenzen
Zunächst soll die strafrechtliche Schuld kurz erläutert werden. Daraufhin werden die Struktur und die Rechtsfolgen des § 20 StGB in der Theorie vorgestellt. Hiervon eingeschlossen wird ein kurzer Blick auf die Struktur des § 21 StGB sein, da diese nicht nur systematisch gesehen die Nachbarnorm ist, sondern auch eine gewisse dogmatische Verwandtschaft vorzuweisen hat.
I. Prinzip und Inhalt strafrechtlicher Schuld
Die Schuld ist kein exklusiver strafrechtlicher Begriff. In den Disziplinen wie bspw. der Theologie, Philosophie und Psychologie nimmt sie eine wichtige Rolle ein.8 Im Folgenden wird lediglich auf die strafrechtliche Schuld Bezug genommen.
Das Schuldprinzip - keine Strafe ohne Schuld - bildet das Leitprinzip des gesamten Strafrechts9 Dieses ist nicht in der Verfassung ausdrücklich normiert, wird jedoch aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet und als Ausfluss der Menschenwürde und der allgemeinen Handlungsfreiheit begriffen.10 Die Strafe setzt voraus, dass das Unrecht der Tat dem Täter vorgehalten und zum Vorwurf gemacht werden kann.11 Der BGH führte bereits 1952 aus, dass eine (Kriminal-)Strafe Schuld voraussetze und Schuld als Vorwerfbarkeit zu begreifen sei.12 Dem Täter wird vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten habe, obwohl er sich hätte rechtmäßig verhalten können. Er hätte statt dem Unrecht das Recht wählen können, hat dies aber aus freiverantwortlicher Entscheidung nicht getan.13 Das Unrecht der Tat wird dem Täter also zugerechnet, d.h. ihm als Individuum vorgeworfen. Eine seelische Störung i.s.v. § 20 StGB kann dies entfallen lassen. Es genügt daher für das Grundverständnis an dieser Stelle, die Schuld als zurechenbare Freiheits- und damit Rechtsgutverletzung zu verstehen.14 Weitere Definitionsansätze hierzu werden begründet und vertreten.15 Diese lassen sich in ihren verschiedenen Standpunkten jedoch letztlich alle auf die Kernfrage zurückführen, ob die Schuld von der Willensfreiheit des Menschen abhängig gemacht werden soll.16
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der volljährige Bürger in der Regel schuldfähig ist.17 Als Ausnahme zu dieser Regelvermutung wird derj enige, der bei Tatbegehung schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB war, straflos gestellt.18 Nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten wird die Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB geprüft.19
II. Regelungsstruktur und Rechtsfolgen in der Theorie
1. Regelungsstruktur
a) Zweistufiger Aufbau
§ 20 StGB wird überwiegend in ein sog. erstes und ein zweites Stockwerk unterteilt.20 Ein Zurechnungsausschluss soll durch den ״diagnostischen Filter“ dieser zweistufigen Überprüfung ermöglicht werden.21 Nachdem das erste und zweite Stockwerk festgestellt wurden, schließt sich hieran eine normativ-wertende Beurteilung eines Richters an. Deshalb liegt in der Sache eigentlich eine Dreistuflgkeit vor.22
aa) Erstes Stockwerk: Prägnante Vorstellung der Eingangsmerkmale
Im ersten Stockwerk werden die Störungen aufgezählt, sog. ״Eingangs- merkmale“.23 Die Eingangsmerkmale können als juristische Verarbeitung der Konfliktlösung verschiedener Wissenschaftskonzepte verstanden werden, die so in einen Einklang gebracht werden.24 Die Differenzierung zwi- sehen Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit wird durch die in der Person liegenden Zustände bestimmt.25 Es gibt vier seelische Störungen, die im Wortlaut der Norm genannt werden.
(1) Krankhafte seelische Störung
Die krankhafte seelische Störung ist ein psychischer Defekt, welcher eine nachweisbare oder vermutete somatische Ursache hat.26 Folglich ist dieser Defekt eine psychische Abweichung aufgrund körperlicher Ursachen.
(2) Tiefgreifende Bewusstseinsstörung
Durch die Bewusstseinsstörung als Beeinträchtigung der Bewusstseinsfähigkeit kommt es zu Trübungen oder zum teilweisen Ausschalten des Selbst- oder Außenweltbewusstseins.27 Dabei besteht keine pathologische Ursache wie bei der krankhaften seelischen Störung.28 Tiefgreifend müsse die Bewusstseinsstörung sein, um die Störungen im Bereich des ״Norma- len“ ausschließen zu können.29 Diese ist erst dann anzunehmen, wenn sie das Persönlichkeitsgefüge in einer der krankhaften seelischen Störung vergleichbarer Weise beeinträchtigt.30 Beispiele einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung können u.a. Schlaftrunkenheit, Hypnose oder vor allem der - praktisch wichtigste und schwierigste Anwendungsfall - Affekt : 31 sein.
(3) Schwachsinn
Schwachsinn ist die zu beobachtende Intelligenzschwäche, die keinen pathologischen Befund hat.31 Wichtigster Anhaltspunkt ist der Intelli-
genzquotient (IQ). Es gibt drei Stufen der Intelligenzschwäche: die Debilität (IQ 50 bis 69), die Imbezillität (IQ 30 bis 49) und die Idiotie (IQ unter 30).32
(4) Schwere andere seelische Abartigkeit
Unter dem Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit fallen Normabweichungen, die nicht unter den ersten drei Eingangsmerkmalen subsumiert werden, sodass es ein Auffangmerkmal ist.33 Genau wie die tiefgreifende Bewusstseinsstörung und das Merkmal des Schwachsinns sind die Abweichungen nicht pathologisch bedingt.34 Die Abartigkeit ist ״schwer“, wenn sie im Einzelfall nicht weniger von der Durchschnittsnorm abweicht als die krankhafte seelische Störung.35 36 In der Praxis haben sich Fallgruppen herausgebildet, welche in stoffgebundene und nicht Stoffgebundene Suchtstörungen, Triebstörungen und sonstige PersönlichkeitsStörungen unterteilt werden können. Konkrete Störungen (abhängig vom Einzelfall) sind etwa Spiel sucht, Sexuelle Trieb Störungen und Kleptoma- me.
Soweit eine psychische Störung festgestellt wurde, muss diese im zweiten Stockwerk die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht, die sog. Einsichtsfähigkeit, oder die Fähigkeit nach dieser Einsicht zu handeln, die sog. Steuerungsfähigkeit, ausschließen. Erforderlich ist somit ein kausaler Zusammenhang zwischen Störung und Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit.37
bb) Zweites Stockwerk: Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit
In einem zweiten Schritt muss die individuelle und tatbezogene Unfähigkeit festgestellt werden. Als Kurzformel wird daher von einer ״doppelten Unfähigkeit“ gesprochen.38
(1) Einsichtsunfähigkeit
Die Einsichtsfähigkeit betrifft die intellektuelle Kompetenz.39 Wenn ein Täter nicht in der Lage ist, das Unrecht seines Verhaltens zu erkennen - aufgrund eines bzw. mehrerer Eingangsmerkmale(s) - dann ist er nicht einsichtsfähig. Dies wird angenommen, wenn der Täter aufgrund einer Störung die äußeren Umstände seines Verhaltens oder die Strafwürdigkeit seines Verhaltens nicht erkannt hat.40
(2) oder Steuerungsunfähigkeit
Die Steuerungsfähigkeit betrifft die voluntative Kompetenz.41 Die Steuerungsfähigkeit ist eine Eignung, mögliche Vor- und Nachteile der Tat gegeneinander abzuwägen und sich danach für ein normgemäßes Verhalten entscheiden zu können.42 Diese ist ausgeschlossen, wenn der Täter aufgrund der psychischen Störung nach Aufbringung aller Widerstandskräfte außerstande ist, eine normgemäße Motivation zu bilden. Er kann seinen Willen nicht durch rationale Erwägungen bestimmen.43 Die Frage der Steuerungsfähigkeit stellt sich erst, wenn die Einsichtsfähigkeit festgestellt wurde. Fehlt diese, kann im Rahmen der Steuerungsfähigkeit nicht danach gefragt werden, ob eine Person überhaupt nach dieser Einsicht hätte handein können.44
b) Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit
Bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt es auf die jeweilige Tat und den Zeitpunkt ihrer Begehung im Sinne des § 8 StGB an.45 Entscheidend ist also der Zeitpunkt des Handelns, nicht des Erfolgseintritts. Es kann durchaus Vorkommen, dass bezüglich einer Tat Schuldunfähigkeit und bezüglich einer zeitgleich begangenen anderen Tat Schuldfähigkeit bestehen. Der Täter kann demnach auch partiell schuldunfähig sein.46
c) Entsprechender Aufbau von § 21 StGB
§21 StGB wird ebenfalls wie § 20 StGB zweistufig bzw. zweistöckig auf- gebaut.47 Im Unterschied zu § 20 StGB muss jedoch nicht eine der Fähigkeiten des zweiten Stockwerks ausgeschlossen, sondern lediglich vermindert sein. Hier genügen also geringere Anforderungen. Die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit muss erheblich vermindert sein.48 Die Rechtsfolge bei Vorliegen von § 21 StGB ist kein Schuldausschluss, sondern ein fakultāti- ver Strafmilderungsgrund.49 Es können Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden, obwohl der Täter für schuldig gesprochen wird.50
2. Mögliche Konsequenzen fehlender Schuldfähigkeit im Hauptverfahren
Wenn die Voraussetzungen des § 20 StGB vorliegen, ist die Rechtsfolge, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung im Urteil mangels Schuld freigesprochen wird.51 Es wird also keine Strafe verhängt (S.3). Die Tat bleibt wegen §§ 26, 27 und 29 StGB rechtlich bedeutend.
Es können jedoch Maßregeln der Besserung und Sicherung angeordnet werden. Wenn die Voraussetzungen aus §§ 63, 64 StGB vorliegen, so kann der Schuldunfähige stationär in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Wenn die VoraussetZungen aus §§ 69, 70 StGB gegeben sind, können die dort genannten ambulanten Maßregeln, namentlich die Entziehung der Fahrerlaubnis oder das Berufsverbot, angeordnet werden.
Die Nebenfolgen aus §§73 ff. StGB können trotz der Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung, welche am 01.07.2017 in Kraft getreten ist, weiter angeordnet werden, da die alten Grundsätze trotz terminologischer Änderungen fortgelten.52 Registerrechtliche Konsequenz ist, dass die Schuldunfähigkeit nach § 11 BZRG eingetragen wird. Die Löschung der Eintragung richtet sich gern. § 24 Abs. 3 BZRG.
c. Das Merkmal der krankhaften seelischen Störung
Nachfolgend Stehen die einzelnen Begrifflichkeiten des Tatbestandsmerkmals der krankhaften seelischen Störung, die allgemein vorgesehenen Schritte zur Feststellung der Schuldfähigkeit und die Praxisfallgruppen im Mittelpunkt der Betrachtung.53
I. Begriffe der krankhaften seelischen Störung
Die krankhafte seelische Störung muss nachgewiesen oder vermutet eine körperliche Ursache haben (S.5). Dies ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu den anderen Eingangsmerkmalen, da diese keine körperliche Ursache haben (S.5f.). Gekennzeichnet ist diese Störung dadurch, dass sie den Betroffenen im Kernbereich seiner Persönlichkeit beeinträchtigt und dadurch geeignet ist, die Fähigkeit rationalen Handelns zumindest teilweise aufzuheben.54
1. Störung
Aus der Überschrift der Norm folgt, dass alle Eingangsmerkmale seelische Störungen darstellen. Sie werden durch die verschiedenen Begrifflichkei- ten und teilweise benannten Adjektive konkretisiert. Der Begriff der Störung ist dabei weit zu verstehen und damit ein Oberbegriff55 Die Störung ist zunächst ein offener Begriff, sodass sie krankhafte/nichtkrankhafte, angeborene/später entstandene und vorüb ergehende/dauerhafte Zustände umfasst. Durch diese Begriffsverwendung sollte der juristische und psychiatrische Sprachgebrauch angeglichen werden.56 Der entgegengesetzte Begriff ist die Ungestörtheit, der im Sinne des ״durchschnittlich Normalen“ zu verstehen ist.57 Dadurch ergibt sich die Definition der Störung als eine Abweichung vom ״durchschnittlichen Normalen“.
[...]
1 mj Schild, § 20 Rn. 21 ff.
2 Frister, JuS 2013, 1057 (1059).
3 Schreiber/Rosenau, 2015, 90 (98).
4 mJSchild, § 20 Rn. 69 ff.
5 Zum Verhältnis der Normen zueinander: SK!Sch ìlei, § 20 Rn. 26 ff.
6 Zum Verhältnis der Normen zueinander: MüKo StGB /Streng, § 20 Rn. 156 ff.
7 Umfangreich hierzu: MüKo StGB !Streng, § 20 Rn. 114 ff.
8 Hirsch, ZStW 106 (1994), s. 746.
9 Meier, s. 185.
10 BVerfGE 20, 323 (331); 25, 269 (285); Kindhäuser, § 21 Rn. 2.
11 Meier, s. 185.
12 BGHSt 2, 194 (200).
13 Ebd.
14 Zabel, Schuldtypisicrung als Begriffsanalyse, s. 242 ff; Zabel, s. 136.
15 Überblick der vertretenen Konzeptionen: LK/Sch (ich. § 20 Rn. 15 ff, Kindhäuser, § 21 Rn. 5 ff. Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse, s. 242 ff.;
16 Verrel, s. 16.
17 НК-GSIVerrel/Linke, § 20 Rn. 1; MüKoStGB/.SVra?20 § ״ Rn. 2.
18 M ü K. o s t G в /Streng, § 20 Rn. 2.
19 НК-GS IVerrel/Linke, § 20 Rn. 16.
20 u.a. BGH NStZ-RR 2017, 165 (166); MüKoStGB/.SVra?20 § ״ Rn. 12 ff; s/s /Per- ron Weißer. § 20 Rn. 1; НК-GS IVerrel/Linke, § 20 Rn. 2; muSchild, § 20 Rn 33 ff.; Streng, Rn. 842 ff.; Zabel, s. 139.
21 Zabel, s 139.
22 mJSchild, § 20 Rn. 33; Zabel, s. 138 f.
23 Ebd.
24 Zabel, s. 141.
25 Zabel, s. 138 f.
26 НК-GSIVerrel/Linke, § 20 Rn. 6.
27 BGH MDR/H 83, 447”
28 BGH NStZ 83, 280; Sl&IPerron/Weißer, § 20 Rn. 13.
29 BGH NStZ 83, 280, 90, 231.
30 S/S/Perron/Weißer, § 20 Rn. 13; ΐΙΚ-GS/Verrel/Linke, § 20 Rn. 7.
31 UK-GK/Verrel/Linke, § 20 Rn. 7f.
32 BGH NStZ 1997, 199.
33 Fischer, § 20 Rn. 35; zur Messung der Intelligenz: MüKo StGB /Streng, § 20 Rn. 39.
34 S/S/Perron/Weißer, § 20 Rn. 19; BeckOK StGB/Eschelbach § 20 Ra 47.
35 LKJSchöch, § 20 Rn. 68.
36 LKStGB/Kühl, § 20 Rn. 11a.
37 Fischer, § 20 Rn. 40 ÍF.; weitere Störungen ebd.
38 BGH NStZ 91, 527; Stv 86, 14; S/S/Perron/Weißer, § 20 Rn. 25.
39 Zabel, s. 139; mJSchild, § 20 Rn. 43.
40 НК-GSIVerrel/Linke, § 20 Rn. 14.
41 BGH NStZ-RR 2016, 77; BGH NJW 1986, 2893.
42 HK-GS/Verrel/Linke, § 20 Rn. 14.
43 ร/รเPerron/Weißer, § 20 Rn. 29.
44 BGHSt 14, 30 (32); 23, 176 (190); LKStGB/Ш?/, § 20 Rn. 12; SlSIPerron/Weißer, §20 Rn. 29.
45 BGH NStZ-RR 06, 167 (168), 07, 105 (106); s/sเPerron/Weißer, § 20 Rn. 25; Fischer, § 20 Rn. 44b.
46 mJSchild, § 20 Rn. 106.
47 BGHSt 14, 114 (116); MüKoStGB/.SVra?20 § ״ Rn. 2.
48 Streng. Rn. 916; MüKoStGB/Streng, § 21 Rn. 9. s/s/Perron/Weißer, § 21 Rn. 2 ff.
49 LKStGB/Ш?/, § 21 Rn. 2.
50 LKStGB/Kühl, § 21 Rn 4
51 S/S /Perron/Weißer, § 20 Rn. 26; mJSchild, § 21 Rn. 33.
52 HK-GS/Verrel/LinL·, § 20 Rn. 26.
53 Fischer, § 20 Rn. 68; BeckOK StGB!Heuchemer, § 73 Rn. 1; § 74 Rn. 1.
54 BT-Dr IV/650, s. 138.
55 BT-Dr IV/650, s 137
56 BT-Dr IV/650, s 137 f. ; LKStGB/Ш?/, § 20 Rn. 3.
57 s/s ! Perron/Weißer, § 20 Rn. 7.