Dashcams werden oft in Autos zum Zwecke der Beweissicherung von Betreibern installiert, denn diese Geräte tragen dazu bei, die Betreiber vor etwaigen nachteiligen Behauptungen vor Gericht zu schützen. Auf der anderen Seite können Dashcams sowohl den Fahrtverlauf als auch die an dem Vorgang nicht beteiligten Personen abbilden mit der Folge, dass die Grundrechte der Betroffenen tangiert werden können. Trotzdem werden Dashcams heutzutage in Deutschland immer beliebter und die Anzahl der angebrachten Aufzeichnungskameras nimmt weiter zu.
Erstmals traf das Amtsgericht Nienburg eine Entscheidung über die Verwertbarkeit der Dashcam-Aufnahmen im Strafverfahren. Sie übte einen starken Einfluss auf die nachfolgende Rechtsprechung im Bereich der Straf- bzw. Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus. Entscheidend ist, unter welchen Voraussetzungen die Verwertbarkeit von Autokamera-Aufnahmen zu bejahen (oder verneinen) ist. Diese konkreten Voraussetzungen sind im Gesetz zu verankern, um Unklarheiten auszuräumen.
Inhaltsverzeichnis
A. Einleitung
B. Einführung in die Problematik von Dashcam-Aufnahmen
I. Beweiserlangung von Privatpersonen
II. Die Spärentheorie
C. Meinungsstreit
I. Die die Verwertbarkeit ablehnende Auffassung
1. Anwendbarkeit des § 6 b BDSG
2. Überwiegen des Persönlichkeitsrechts bei der Interessenabwägung
3. Vorliegen einer allgegenwärtigen Überwachungsgefahr
II. Die die Verwertbarkeit bejahende Auffassung
1. Unanwendbarkeit des § 6 b BDSG
2. Vorrang des Interesses an der effektiven Strafverfolgung
3. Unbeachtlichkeit des späteren Missbrauchs der Aufzeichnung
4. Keine Möglichkeit einer rechtswidrigen Überwachung durch Dritte
D. Stellungsnahme
I. Tendenz bisheriger Rechtsprechung
II. Interessenabwägung durch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
II. Die konkreten Voraussetzungen für die Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen als Beweismittel im Strafverfahren
E. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
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A. Einleitung
Unter dem Begriff Dashcam (= Dashboard Camera = Armaturenbrett-Kamera = On-Board-Kamera) versteht man eine kleine Videokamera, die an der Front- bzw. Windschutzscheibe oder auf dem Armaturenbrett eines Fahrzeugs befestigt wird und während der Fahrt das Verkehrsgeschehen aufzeichnet[1]. Dashcams werden oft in Autos zum Zwecke der Beweissicherung von Betreibern installiert, denn diese Geräte tragen dazu bei, die Betreiber vor etwaigen nachteiligen Behauptungen vor Gericht zu schützen[2]. Auf der anderen Seite können Dashcams sowohl den Fahrtverlauf als auch die an dem Vorgang nicht beteiligten Personen abbilden mit der Folge, dass die Grundrechte von den Betroffenen tangiert werden können. Trotzdem werden Dashcams heutzutage allerdings in Deutschland immer beliebter und die Anzahl der angebrachten Aufzeichungskamera nimmt weiter zu. Ob der Einsatz von Dashcams nun erlaubt oder verboten ist, wird europaweit unterschiedlich handgehabt[3].
Die Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen ist indes höchstrichterlich noch nicht geklärt. Es bestehen nur noch vereinzelt Rechtsprechungen von Instanzgerichten, wobei hier auch zwischen den verschiedenen Gerichtsbarkeiten Uneinigkeiten bestehen. Um auf die Verwertbarkeit von Dashcams im Strafverfahren einzugehen, ist es zwingend notwendig, sich zunächst mit den eigenartigen Besonderheiten des Strafprozessrechts auseinander zu setzen.
Dafür werden zunächst die verschiedenen Diskussionen in der Literatur erörtert (Teil B.), die der nachfolgende Hauptpunkt voraussetzt. Danach wird der Meinungsstreit zu dieser Problematik in Teil C. näher geschildert. Anschließend folgt die eigene Stellungnahme (Teil D.) sowie einen Ausblick (Teil E.).[4]
B. Einführung in die Problematik von Dashcam-Aufnahmen
I. Beweiserlangung von Privatpersonen
Das Gericht muss zwar die Wahrheit erforschen, diese Aufklärungspflicht ist doch durch die Beweiserhebungsverbote zu begrenzen. Denn die Wahrheit wird nicht um jeden Preis erforscht[5] und sie muss vielmehr mit der durch das Grundgesetz gestalteten Rechtsordnung übereinstimmen[6]. Dies gilt jedoch nicht, wenn eine Privatperson ein Beweis gewinnt, weil in diesem Fall ein Missbrauch der Strafgewalt des Staates nicht tatsächlich ausgeübt wird. Deshalb ist ein durch Privatpersonen rechtswidrig erlangtes Beweismittel nicht automatisch ausgeschlossen[7]. Im Gegenteil ist es nach der herrschenden Meinung vor Gericht verwertbar[8]. Auch in diesem Fall ist die Beweiserlangung freilich nach der vorherrschenden Meinung verboten, wenn Beweismittel in der extremen Weise gegen die Menschenwürde erhalten werden, erhebliche Eingriffen in die Intimsphäre vorliegen oder Privatpersonen als ein „verlängerter Arm“[9] durch den Auftrag von Strafverfolgungsbehörden Beweismittel erlangen[10].
Das in dieser Arbeit zu prüfende Problem mit Dashcams lässt sich der Beweisgewinnung von Privatpersonen zuordnen, weil Autofahrer zu privaten Zwecken zur Beweissicherung das Verkehrsvergehen aufzeichnen[11].
II. Die Spärentheorie
Bei dem Beweiserlangen von Privatpersonen handelt es sich um ein selbständiges Beweiserhebungsverbot, das eine vorangegangene Rechtsverletzung nicht voraussetzt[12]. Vor Gerichte steht das Recht des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung dem Interesse der Allgemeinheit an der Strafverfolgung entgegen. Ob die Beweiserlangung von Privatpersonen in das Persönlichkeitsrecht des Angeklagten eingreift, hängt nach dem Bundesverfassungsgericht von der Stufe des Eingriffs ab[13]. Nach dieser Spähren- oder Dreistufentheorie seien drei Sphären der Persönlichkeit folgendermaßen zu unterscheiden: Der „Sozialbereich“, die „schlichte Privatsphäre“ und die „Intimsphäre“ (Kernbereich privater Lebensgestaltung). Während die erste Stufe keine besonderen Verletzungen verursacht, führt ein Eingriff in die dritte Sphäre zu einem, welcher sich unter keinem Fall rechtfertigen lässt. Bei Eingriffen in die zweite Sphäre bedarf es einer Güterabwägung. Umstritten ist, wie klar man die Grenze zwischen der zweiten und dritten Stufe setzen kann[14]. Bei der Abwägung sind die Schwere des Tatvorwurfs sowie die Unverzichtbarkeit des Beweismittel einerseits und der Rang des Grundrechts sowie die Schwere des konkreten Eingriffs andererseits zu berücksichtigen[15].
Da durch die Dashcam-Aufzeichnung weder Eingriffe in die Intimsphäre noch in den offenen Sozialbereich erfolgen, ist die Verwertbarkeit von der Aufzeichnung anhand einer umfassenden Interessenabwägung zu prüfen.[16]
C. Meinungsstreit
I. Die die Verwertbarkeit ablehnende Auffassung
1. Anwendbarkeit des § 6 b BDSG
§ 6 b BDSG regelt, unter welchen Voraussetzungen die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung) zulässig ist. Im Bereich der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit liegen einige Rechtsprechungen vor, die die Verstöße gegen § 6 b Abs. 1 BDSG annehmen. Die Anwendbarkeit des § 6 b BDSG auf Dashcam-Aufzeichnungen sei zu bejahen, da es sich bei dem Aufnehmen, Abspeichern und Nutzen der Aufnahmen nicht um eine ausschließlich persönliche oder familiäre Tätigkeit, sondern um ein öffentliches Verhalten handele[17]. Die Verwendung von Dashcams im Straßenverkehr hängt mit dem Zweck der Dokumentation des Verhaltens anderer zusammen, so dass sie niemals privater Natur sei[18]. Die Vorschrift sei nach der Auslegung auch auf mobile Kameras anwendbar, wenn diese mobilen Kameras erkennbar seien[19].
2. Überwiegen des Persönlichkeitsrechts bei der Interessenabwägung
Eine Videoüberwachung ist nur zulässig, soweit sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke erforderlich ist und keine Anhaltspunkte bestehen, dass schutzwürdige Interessen der Betroffenen überwiegen (§ 6 b Abs. 1 Nr. 3 BDSG). Auch in diesem Fall kommt es auf die Interessenabwägung an, um die Zulässigkeit der Verwertung der Aufnahmen zu prüfen. Demnach ist die Videoüberwachung zulässig, wenn (i) konkret festgelegte Zwecke bestehen, (ii) die Videoüberwachung erforderlich ist und (iii) die Interessen des Überwachenden die Interessen der Betroffenen überwiegen.
Nach dem Verwaltungsgericht Ansbach sei das Wort „konkret festgelegte Zwecke“ streng zu interpretieren. Allgemeine Umschreibungen wie „zur Gefahrenabwehr“ oder „zur Verfolgung von Straftaten“ seien daher nicht ausreichend. Dabei lasse sich die Kontrollfunktion des Tatbestandsmerkmals nicht verwirklichen[20]. Eine Videoüberwachung sei auch nicht erforderlich, denn Ermittelung und Verfolgung einer Straftat seien eigentlich Aufgabe der Polizei und nicht von Privatleuten[21]. Zudem sei der Einsatz der Kamera unverhältnismäßig, wenn die betroffenen Personen keinen zurechenbaren Anlass dafür gegeben hatten[22]. Deshalb überwiege das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Personen, die im Straßenverkehr zufällig aufgenommen wurden, die Verfolgungszwecke der Anwender von Dashcams[23]. Aus diesem Grund verstöße die permanente, anlasslose Überwachung des Straßenverkehrs durch eine in einem PKW installierte Dashcam gegen § 6 b BDSG und verletze rechtswidrig die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer[24]. Nach dem neuerdings ergangenen Urteil vom Amtsgericht München gilt dies auch für Ordnungswidrigkeiten. Das permanente, anlasslose Filmen des vor und hinter dem geparkten Fahrzeug greife in das Recht unbeteiligter Personen in schwerwiegender Weise ein[25].
3. Vorliegen einer allgegenwärtigen Überwachungsgefahr
Schließlich würde die Zulassung von Dashcams als Beweismittel dazu führen, dass der Einsatz von Autokameras üblich werde. Dies führte zu einer privat organisierten, dauerhaften und flächendeckenden Überwachung im öffentlichen Verkehr[26]. Dies führe eine übermäßige Kontrolle durch Bürger untereinander herbei[27].
II. Die die Verwertbarkeit bejahende Auffassung
Erstmals traf das Amtsgericht Nienburg eine Entscheidung über die Verwertbarkeit der Dashcam-Aufnahmen im Strafverfahren[28]. Sie übte einen starken Einfluss auf die nachfolgende Rechsprechung im Bereich der Straf- bzw. Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit aus. Im Folgenden wird auf Basis vorgenannten Urteils die die Verwertbarkeit bejahende Auffassung besprochen.
1. Unanwendbarkeit des § 6 b BDSG
Das Amtsgericht Nienburg lehnte die Anwendung des § 6 b BDSG auf Dashcam-Aufzeichnungen mit der Begründung ab, dass die Vorschrift nur für den ortfesten Betrieb einer Kamera gelte. Der Umstand der Beobachtung durch Kameras und die verantwortliche Stelle seien laut § 6 b Abs. 2 BDSG erkennbar zu machen. Da bewegliche Kameras die betroffenen Personen auf die bevorstehende Aufzeichnung nicht hinweisen können, seien sie in der Vorschrift nicht einbezogen[29]. Mit Blick auf den Wortlaut der Norm („Die Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mit optisch-elektronischen Einrichtungen (Videoüberwachung)“) sei die Auslegung nämlich unmöglich, dass diese Regelung auch für mobile Kameras gelte.
Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgarts, das auf die Frage zur Verwertbarkeit der Videoaufnahme in einem Bußgeldverfahren einging, enthalte zudem § 6 b BDSG, insbesondere in Absatz 3 Satz 2, kein gesetzlich angeordnetes Beweisverwertungsverbot für das Straf- und Bußgeldverfahren[30]. Selbst wenn der Betrieb einer Dashcam gegen § 6 b BDSG verstoßen sollte, ergebe sich daraus nicht zwingend ein Beweisverwertungsverbot im Bußgeldverfahren[31].
2. Vorrang des Interesses an der effektiven Strafverfolgung
Das Amtsgericht Nienburg bejahte eine Verwertbarkeit der Dashcam-Aufnahmen aus folgenden Gründen: Wenn eine Kameraaufzeichnung zulässig angefertigt werde, dürfe sie im Strafverfahren verwertet werden. In diesem Fall handele es sich wiederum um die oben bereits genannte Sphärentheorie des Bundesverfassungsgerichts, weil das Problem des Spannungsverhältnis zwischen der Verwertbarkeit von Beweismitteln einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Dritter andererseits hierbei gleich liege[32]. Das Gericht nahm auch die Anwendung der Sphärentheorie an. Da diese Aufnahme Vorgänge aus dem öffentlichen Straßenverkehr aufgezeichnet habe, sei der absolute Kernbereich der persönlichen Lebensführung nicht betroffen, mit der Folge, dass hier die zweite Stufe betroffen sei und bei der eine Einzelfallabwägung zwischen den entgegengesetzten Interessen – dem öffentlichen Interesse an der effektiven Strafverfolgung und dem Interesse an der aus allgemeinen Persönlichkeitsrecht stammenden Unverletzlichkeit des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – vorzunehmen sei[33].
Dem Gericht nach überwiege das allgemeine Interesse an der Effektivität der Strafverfolgung im vorliegenden die schutzwürdigen Belange sowie das Grundrecht des Angeklagten. Bei der Interessenabwägung hatte das Gericht zu prüfen, ob der Einsatz der Dashcam geeignet, erforderlich und verhältnismäßig war. Da die Dashcam-Aufnahme in diesem Fall nur für den Zweck der Beweissicherung zum Einsatz gekommen sei, sei es geeignet gewesen. Die Verwertung der Aufzeichnung sei zudem erforderlich gewesen, weil Zeugenaussagen oft ungenau bzw. unergiebig seien und Sachverständigengutachten kostenaufwändig seien. Somit stünden keine anderen Beweismittel zur Verfügung. Die Verwertung sei auch verhältnismäßig gewesen, weil das Dashcam-Video nicht den Angeklagten oder die Insassen der Fahrzeuge, sondern nur sein Fahrzeug oder die sich im öffentlichen Straßenverkehr ereignete Vorgänge abgebildet habe; darüber hinaus bestand zum Zeitpunkt der Verwertung der Dashcam-Aufnahme der dringende Verdacht, dass der Angeklagten zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu verurteilen und ihm die Fahrerlaubnis zu entziehen gewesen sei. Nach alledem gewinne das Interesse des Bürgers an der Sicherheit des Straßenverkehrs den Vorrang vor dem Recht des Angeklagten auf informationelle Selbstbestimmung[34].
3. Unbeachtlichkeit des späteren Missbrauchs der Aufzeichnung
Gegen den oben geschilderten Ansatz wird eingewandt, dass die Gefahr bestehe, dass die Aufzeichnung später unzulässig online veröffentlicht oder zu anderweitigen Zwecken missbraucht werden könne[35]. Das Amtsgericht Nienburg hielt diese Gefahr für unbeachtlich. Denn die Sorge vor einer überall vorhandenen Datenerhebung und einem sogennanten „Orwell’schen Überwachungsstaat“ bestehe abstrakt. Die Gefahr des Missbrauchs von anfänglich zulässigen Beweismitteln liege immer vor. Deswegen lasse sich nicht behaupten, dass eine solche Gefahr per se die Verwendung rechtmäßiger technischer Hilfsmittel zur effektiven Strafverfolgung dominiere[36]. Bei der Problematik handele es sich lediglich um eine rechtspolitische Frage, nämlich wie die missbräuchliche Nutzung der Daten verhindert werden kann[37].
4. Keine Möglichkeit einer rechtswidrigen Überwachung durch Dritte
Ein weiterer denkbarer Einwand besteht darin, dass es sich hierbei um eine unzulässige Überwachung durch Dritte handelt. Das Amtsgericht Nienburg verneinte dies mit der Begründung, dass der Betreiber der Dashcam nur den Zweck der Beweissicherung bzw. Verteidigung verfolge. Der Zweck steht keinen Zusammenhang mit einer unzulässigen Überwachung. Außerdem sei er in der Regel zugleich Verletzter einer Straftat, so dass keine Zweifel an einer Verwertung der Aufnahmen zum Zweck der rechtswidrigen Überwachung bestünden[38].
D. Stellungsnahme
I. Tendenz bisheriger Rechtsprechung
Aus der bisherigen Rechtsprechung ist zu erkennen, dass Gerichte im Bereich der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit früher tendenziell die Auffasung vertraten, den Einsatz von Dashcams abzulehnen. Das Amtsgericht Nienburg und Oberlandesgericht Stuttgart – siehe oben – greifen aber im Strafverfahren bzw. Bußgeldverfahren den Gedanken auf, dass eine sehr kurze und rein anlassbezogene Aufzeichnung verwertet werden dürfe und keinem Beweisverwertungsverbot unterliege, wenn es um Verfolgung schwerwiegender Verkehrsordnungswidrigkeiten gehe. Nach dem Urteil vom Amtsgericht Nienburg hielten einige Gerichte eine Verwertung von Dashcam-Aufnahmen auch im Zivilprozess unter den der Rechtsprechung vom Amtsgericht Nienburg ähnlichen Voraussetzungen für möglich[39]. Das Amtsgericht München ließ neuerdings umgekehrt das Beweisverwertungsverbot in einem Bußgeldverfahren mit der ähnlichen Begründung zu[40].
Daraus ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung, dass die beiden entgegensetzten Meinungen miteinander vereinbar sind. Die beiden Ansichten überschneiden sich schließlich in einem Punkt, unter welchen Voraussetzungen die Verwertbarkeit von Autokamera-Aufnahmen zu bejahen (oder verneinen) ist. Entscheidend ist nämlich die Zulässigkeitsprüfung anhand einer am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierten Abwägung zwischen Beweissicherungsinteressen und Persönlichkeitsrechten im Anschluss an das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
II. Interessenabwägung durch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Bezogen auf die Anwendbarkeit des § 6 b BDSG entsteht zwar Uneinigkeit, sie hat doch aus praktischer Sicht eine eher nachrangige Bedeutung. Falls man einerseits die Anwendung anerkennt, ist gemäß § 6 b Abs. 1 Nr. 3 BDSG im Einzelfall zu prüfen, ob die Verwendung von Dashcam-Aufzeichnungen schutzwürdige Interessen der Betroffenen wesentlich überwiegen. Diese Interessenabwägung nach der Sphärentheorie findet aber auch nach der Ansicht statt, dass das BDSG keine Anwendung finden soll, denn es sind Privatpersonen, die die Beweise erlangen[41]. Infolgedessen handelt es sich darum, welchem Interesse große Bedeutung beigemessen wird.
Die Güterabwägung findet gemäß Prinzip der Verhältnismäßigkeit statt. Sowohl der Gesetzgeber als auch der Rechtsanwender muss dies beachten[42]. Die Prüfung findet in drei Stufen statt: Prüfung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (= Zumutbarkeit)[43]. Dies ist immer im Einzelfall zu klären.
Zuerst hat man den geeigneten Zweck der konkreten Maßnahme zu untersuchen. Wenn eine im Fahrzeug angebrachte Kamera nur verwendet wird, um bei einem etwaigen Verkehrsunfall einige für den Autofahrer vorteilhafte Beweise zu sichern und zu dokumentieren ist diese Maßnahme als für den verfolgten Zweck als geeignet zu erachten. Nicht zu folgen ist der Ansicht, dass die nachträgliche Veröffentlichung der Daten im Internet möglicherweise zur Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts, u. a. des Rechts am eigenen Bild von Unbeteiligten führen würde und dies bei der Einzelfallabwägung zu berücksichtigen sei. Denn dieser Missbrauch steht in keinem Zusammenhang mit der Geeignetheit der Maßnahme. Der verfolgte Zweck selbst wird damit nicht unzulässig. Es reicht aus, dass ein solches Verhalten als ein gesondertes Delikt etwa gemäß BDSG sanktioniert wird. Der verfolgte Zweck könnte indes unzulässig sein, wenn der Betreiber von vornherein mit einer oben genannten Absicht Verkehrsvorgänge aufnehmen würde. Dies ist aber in der Regel nicht der Fall.
[...]
[1] Hoffmann-Benz, jurisPR-VerkR 10/2015 Anm. 1.
[2] Zur übrigen vielfältigen Zwecken vgl. Kranig, jurisPR-DSR 1/2015 Anm. 2.
[3] Zur gegenwärtigen Lage in Europa Hoffmann-Benz, jurisPR-VerkR 10/2015 Anm. 1.
[4] Aufgrund des begrenzten Umfangs der Arbeit werden die weitgehenden Diskussionen nur kurz erwähnt.
[5] BGH, Urt. v. 14.06.1960 - 1 StR 683/59 = BGHSt 14, 358, 365.
[6] Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 454; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 19.
[7] Volk/Engländer, Grundkurs, § 28 Rn. 35.
[8] Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 478; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 395; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 65. Zur entgegensetzten Argumentationen näher Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 397 f.
[9] Dazu Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 24 Rn. 65.
[10] Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 479-481; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 400-401.
[11] Zustimmend Jäger, in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, Vorbemerkungen zu §§ 133 ff., Rn. 36a; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 402.
[12] Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 23, Rn. 45; Volk/Engländer, Grundkurs, § 28 Rn. 36.
[13] BVerfG, Beschl. V. 31.01.1973 - 2 BvR 454/71 = BVerfGE 34, 238, 245. Zur kritischen Beurteilung Kühne, in: LR-StPO, Einleitung Abschnitt L, Rn. 89-94.
[14] Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 389; Volk/Engländer, Grundkurs, § 28 Rn. 38.
[15] Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 471. Ebenso vgl. BGH, Urt. v. 21.02.1964 - 4 StR 519/63 = BGHSt 19, 325, 331; BGH, Urt. v. 14.06.1960 - 1 StR 683/59 = BGHSt 14, 358, 365.
[16] Das Bundesdatenschutzgesetz (Stand: Neugefasst durch Bek. v. 14.1.2003 I 66; zuletzt geändert durch Art. 10 Abs. 2 G v. 31.10.2017 I 3618).
[17] VG Ansbach, Urt. v. 12.08.2014 - AN 4 K 13.01634, Rn. 8.
[18] Witte, jM 2016, 477, 479.
[19] Ausfühlich Witte, jM 2016, 477, 480 ff.; Lohse, VersR 2016, 953, 958.
[20] VG Ansbach, Urt. v. 12.08.2014 - AN 4 K 13.01634, Rn. 10.
[21] VG Ansbach, Urt. v. 12.08.2014 - AN 4 K 13.01634, Rn. 11.
[22] VG Ansbach, Urt. v. 12.08.2014 - AN 4 K 13.01634, Rn. 12.
[23] Allerdings könnte das Interesse an der Verwendung solcher Videos als Beweismittel die schutzwürdigen Interessen des Betroffenen überwiegen, wenn der Zweck der Autokamera zur Sicherung von Beweismitteln im Falle etwaiger Verkehrsunfälle hinreichend konkret wäre. Zur Bejahung dieser Möglichkeit vgl. AG München, Beschl. v. 13.08. 2014 - 345 C 5551/14, Rn. 32.
[24] AG München, Beschl. v. 13.08.2014 - 345 C 5551/14, Rn. 40; zustimmend Niehaus, NZV 2016, 551, 555.
[25] AG München, Urt. v. 09.08.2017 - 1112 OWi 300 Js 121012/17. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Zu dieser Rechtsprechung URL = http://www.dr-bahr.com/news/dashcamaufzeichnungen-sind-datenschutzverletzung-ordnungswidrigkeit.html (Stand 11. November 2017).
[26] AG München, Beschl. v. 13.08.2014 - 345 C 5551/14, Rn. 31; LG Memmingen, Urt. v. 14.01.2016 - 22 O 1983/13, Rn. 37.
[27] Zu dieser Problematik eingehend Cornelius, NJW 2016, 2280, 2282; Niehaus, NZV 2016, 551, 556. Zur Unzulässigkeit einer Totalüberwachung Eschelbach, in: SSW-StPO, § 100d Rn. 35.
[28] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14.
[29] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 16.
[30] OLG Stuttgart, Beschl. v. 04.05.2016 - 4 Ss 543/15, Rn. 15; zustimmend LG Hagen, Urteil vom 03.07.2017 – 46 KLs 25/16, Rn. 77; Popp, jurisPR-ITR 20/2017 Anm. 2.
[31] Vgl. BGH, Urt. V. 12. 04.1989 - 3 StR 453/88 = BGHSt 36, 167, 173: „Aus der rechtswidrigen Erlangung eines Beweismittels durch einen Dritten folgt nicht ohne weiteres die Unverwertbarkeit dieses Beweismittels im Strafverfahren“.
[32] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 23; Ebenso auch LG Hagen, Urt. v. 03.07.2017 - 46 KLs 25/16, Rn. 77.
[33] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 24.
[34] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 21, 25.
[35] Zu dieser Diskussion insbesonders AG München, Urt. v. 14.08.2014, 345 C 5551/14, Rn. 22.
[36] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 22.
[37] Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, § 100h, Rn. 1a.
[38] AG Nienburg, Urt. v. 20.01.2015 - 4 DS 155/14, Rn. 26, 27.
[39] Etwa vgl. LG Landshut, Beschl. v. 01.12.2015 - 12 S 2603/15; LG Traunstein, Urt. v. 01.07.2016 - 3 O 1200/15; LG München I, Beschl. v. 14.10.2016 - 17 S 6473/16; AG Kassel, Urt. v. 12.06.2017 - 432 C 3602/14; OLG Stuttgart, Urt. v. 17.07.2017 - 10 U 41/17 (anders LG Rottweil, Urt. v. 30.01.2017 - 1 O 104/16); OLG Nürnberg, Beschl. v. 10.8.2017 - 13 U 851/17.
[40] Siehe Fußnote 25.
[41] Umgekehrt lässt sich ein Betreiber gemäß § 6 b BDSG Bußgeld durch eine Datenschutzbehörde verhängen, auch wenn seine Dashcam-Aufnahme im Einzelfall nach einer Interessenabwägung verwertbar sind. Hierzu Albrecht/Wessels, jurisPR-ITR 2/2016 Anm. 3.
[42] Näher Kühne, in: LR-StPO, Einleitung Abschnitt I, Rn. 102.
[43] Siehe dazu ferner Hassemer, Winfried, Warum Strafe sein muss, S. 158-170; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 406 f.