Welche Rolle spielen Medienpraktiken zur Schaffung kultureller Identitäten? Kann der Umgang mit meinem Laptop bei dieser Arbeit zu meinem Selbstverständnis als Studentin beitragen? Wenn ja, gibt es dafür erforschte Gesetzmäßigkeiten und Kausalzusammenhänge? Und wie groß ist die Beeinflussung tatsächlich?
Für die Entwicklung einer anthropologischen Sichtweise wird die Forschungsfrage in die Phänomenbereiche Identität als Konzept, der Beschaffung Medienpraktiken und die Bearbeitung des regionalen Beispiels aufgeteilt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Identität
2.1 Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit
2.2 Hypothesenbildung
3 Medienpraktiken
3.1 Eigenschaften und Hierarchien
3.2 Hypothesenerweiterung
4 Nigeria
4.1 Begründung der Auswahl
4.2 Raubkopien als Indikator infrastruktureller Beeinflussung
4.3 Bollywood als Inspiration und Partner für Hausa
4.4 Nollywoods Beitrag zur Neufindung nationaler Identität
5 Abschlussgedanken
5.1 Fenster, Spiegel oder Nadelöhrt?
5.2 Fazit
Literaturverzeichnis
Fenster, Spiegel oder Nadelöhr? Eine Erörterung der Rolle von Medienpraktiken zur Schaffung kultureller Identitäten in Nigeria.
1 EINLEITUNG
Welche Rolle spielen Medienpraktiken zur Schaffung kultureller Identitäten?
Kann der Umgang mit meinem Laptop bei dieser Arbeit zu meinem Selbstverständnis als Studentin beitragen? Wenn ja, gibt es dafür erforschte Gesetzmäßigkeiten und Kausalzusammenhänge? Und wie groß ist die Beeinflussung tatsächlich?
Für die Entwicklung einer anthropologischen Sichtweise wird die Forschungsfrage in drei große Phänomenbereiche aufgeteilt. Um Identität als Konzept zu verstehen, wird ein neu verknüpfter Konsens ausgewählter Quellen entlang der Grammars of Identity/Alterity von Gerd Baumann (2004) ausnuanciert, zu Hypothesen weiterentwickelt und in Einzel- aspekten im Laufe der Arbeit aufgegriffen, um ein rundes aber keineswegs vollständiges Bild zu schaffen. Es folgen Denkanstöße für eine Bandbreite möglicher Medienpraktiken und Bearbeitungsansätze, v. a. entlang der Arbeit der Forschungsgruppe um Dang-Ahn (2010), die durch Nick Couldry und Mark Hobart, den Begründern der Erforschung von Medienpraktiken, ergänzt und relativiert werden. Darauf aufbauend werden die Hypothe- sen aus der Betrachtung kultureller Identität weiterentwickelt und erweitert. Die Anwen- dungsbeispiele aus Nigeria wurden exemplarisch anhand der erarbeiteten Hypothesen ausgewählt, mit unvoreingenommenem Blick analysiert, bei fortschreitender Bearbeitung auf Grund der begrenzten Ausführungsmöglichkeiten stark selektiert.
Unter Berücksichtigung der drei Bereiche kann die Rolle von Medienpraktiken zur Schaf- fung kultureller Identitäten für diesen Umfang hinreichend differenziert erörtert werden.
2 IDENTITÄT
Was ist kulturelle Identität und wie kann sie beeinflusst werden?
2.1 Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und Zugehörigkeit
Der interdisziplinär geführte Diskurs über die Beschaffenheit und Reichweite menschli- cher Identität unterscheidet zwischen einem philosophisch starken, über alle Kulturen und Epochen unveränderlichen Identitätsbegriff (Hall 1996: 3) und einem philosophisch schwachen, der im Dialog mit der Umwelt durch Beeinflussung entsteht (Gingrich 2004: 4). Diese Arbeit berücksichtigt, bedingt durch ihr Erkenntnisinteresse, ausschließlich den schwachen Identitätsbegriff: Obwohl Chris Baker (1999: 10) die Existenz einer Kern- identität auf Grund sozialer und kultureller Prägung von Kindesalter an verneint, Stuart Hall in ihr eine ebenso idealistische (1996: 3) wie veraltete (1996: 1) Suche nach unzer- störbarer Einheit sieht und Andre Gingrich (2004: 4) sie einer Protestbewegung gegen die klassische Identitätsbeschreibung zuordnet, könnte es hier durchaus von Vorteil sein, die starke Identität von Individuen und Gruppen zu kennen, um den Grad der möglichen Beeinflussung durch Medienpraktiken abschätzen zu können. Da jedoch nahezu alle Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit Identität beschäftigen, die Suche nach einer starken Identität kritisieren (Hall 1996: 1), wird die Bedeutung von Medienpraktiken bei der Beeinflussung von schwachen Identitäten untersucht, als gäbe es keinen inneren Kern. Als wichtigste Prämisse gilt ihre Veränderlichkeit, die Gerd Baumann (2004: 19) als Raum für „different modalities of selfing/othering“ beschreibt.
Identifikation, der unmittelbare Prozess der Identitätsfindung, geschehe nur durch die Fä- higkeit zur Abgrenzung von der Alterität (Hall 1996: 4). Baumann entwickelte 2004 „[G]rammars“ (Baumann 2004: 18) zur analytischen Handhabe, die drei in Komplexität aufsteigende Ebenen der Identitätsbildung auffächern und in Auszügen in dieser Arbeit Anwendung finden werden. Die erste Grammar postuliert das Eingrenzen des Selbst, „Selfing“ (Baumann 2004: 19), und gleichzeitig das Ausgrenzen der Alterität, „Othering“ (ebd.), durch einen nuancierten Spiegeleffekt, bei dem multi-dimensional und auf höchst intellektueller Stufe Kritik und Wertschätzung an der fremden Kultur umgekehrt als Wertschätzung und Kritik der eigenen Kultur angewendet werden. Positive Ausprägun- gen der eigenen Kultur finden sich negativ zugehörig in der fremden wieder, wie z. B. die Eigenschaften „aufgeklärt“ (Baumman 2004: 20) und „abergläubig“ (ebd.). Gingrich kritisiert den Diskurs als zu sehr auf die Identifikation durch Unterschiede fokussiert und betont die Bildung von Zugehörigkeiten (2004: 4).
Identifikation geschieht folglich im Dualismus aus Selfing/Othering und Zugehörigkeit, der „recognition of some common origin or shared characteristics with another person or group“ (Hall 1996: 2), die zu einer Verbrüderung des Subjekts mit dem Identifikations- objekt führe (ebd.). Baumanns dritte Grammar - sie sei hier aus inhaltlichen Gründen vorgezogen - ordnet die Identitätsbildung durch Abgrenzung kognitiv unterlegenen Sub- jekten zu, während das überlegene die übergeordnete Gemeinsamkeit erkennen könne (Baumann 2004: 25). Unterschiede seien „not situational or contextual […], it is a fiction caused by your own low horizon” (ebd.).
Eine kognitive Bedingung für die Inklusion von Wahrnehmungen in individuelle und kol- lektive Identitäten beschreibt Ulric Neisser: Eine Situation könne nur dann ins Gedächtnis eingehen, wenn sie anderen Erinnerungen schematisch genug ähnele, um eingeordnet zu werden, sich aber dennoch genug unterscheide, um eigenständig relevant zu bleiben (Neisser 19681962: 357). Wie verhalten sich Abgrenzung und Zugehörigkeit außerhalb des Kognitiven zueinander?
Aufbauend auf Evans-Pritchards Forschungen über die Nuer im Sudan entwickelt Baumann die zweite Grammar, die genau diese Frage aufgreift. Die Sozialstruktur der Nuer sei eine große Pyramide, in der je nach Konflikt eine Identifikationsverschiebung vorgenommen werde. Subjekte und Subjektgruppen könnten zugleich Verbündete sein und Feindschaften ausleben, da Konflikte auf unterschiedlichen Ebenen entstünden und ausgetragen würden. „Identity and alterity are thus a matter of context” (Baumann 2004: 23) und können einen tiefgründig gespaltenen Charakter ausweisen (Hall 1996: 2).
Abschließend sollen hier zwei Anmerkungen Halls Erwähnung finden, die direkt im Anschluss in die Hypothesenbildung einfließen werden. Identifikation werde unendlich laufend konstruiert und sei dadurch auf eine Aufrechterhaltung oder Verwandlung mittels „material and symbolic ressources“ angewiesen (ebd.). Ein Teil der Abgrenzung bzw. der Zugehörigkeit fände zudem im Imaginativen statt, was für das Individuum dadurch keineswegs weniger real erscheine (Hall 1996: 4; Shohat/Stam 2005: 124).
2.2 Hypothesenbildung
Aus den oben erarbeiteten Charakteristiken der Identitätsbildung leiten sich folgende Hypothesen für die Bearbeitung des Beispiels ab:
Die Bollywood-Welt kann ein ambivalentes Gegenüber darstellen, zu dem sich ihre Nutzer zugehörig fühlen und abgrenzen können. Rezipienten können solche Wahrnehmungen nur verarbeiten, wenn diese Neissers kognitiven Bedingungen entsprechen. Im Falle Nigerias gilt es, Überschneidungen und Unterschiede zum Realitätsbild der Bollywoodfilme zu suchen und zu beurteilen, inwiefern sich die Bedingungen erfüllen. Bollywoodfilme füttern als fiktive Erzählform vor allem die imaginative Realitätsbildung und unterstreichen damit die konstruierte Wirklichkeit als Quelle kultureller Identitäten, wodurch diese ebenfalls individuell konstruiert werden.
Medien sind auf Grund ihrer permanenten Erreichbarkeit und ihrer Themenvielfalt eine besonders geeignete Ressource zur laufend erneuten Identifikation. Diese Hypothese kann hier jedoch nur unter Vorbehalten stehen und wird im nächsten Punkt genauer er- läutert.
3 MEDIENPRAKTIKEN
Was sind Medienpraktiken und wie können sie Einfluss nehmen?
3.1 Eigenschaften und Hierarchien
„Medienpraktiken zu erforschen, bedeutet herauszufinden, was Menschen mit Medien tun und was Medien mit Menschen machen“ (Dang-Anh et al. 2017: 7). Um Interaktionen von Menschen und Medien zu ergründen, konzentriere man sich „auf das immerwährende Rauschen von Medien im praktischen Umgang mit ihnen“ (Dang-Anh et al. 2017: 12), also auf die Momente, in denen Medien als Akteure in Erscheinung treten, z. B. durch technische Störungen bei einem Skype-Gespräch (ebd.). Larkin unterstreicht die Wichtigkeit von Fehlfunktionen für Individuum und Gesellschaft in Nigeria (Larkin 2004: 304). Da es die Grundlage für eine Beeinflussung ist, als beeinflussender Faktor - wenngleich oft unbemerkt - wahrgenommen zu werden, werden in dieser Arbeit nur solche medien-orientierten Praktiken (Couldry/Hobart 2010: 78) angeführt, in denen ein „Rauschen“ (Dang-Anh et al. 2017: 12) nachgewiesen werden kann.
Die interdisziplinäre Forschungsgruppe um Mark Dang-Anh entwickelte aufbauend auf Nick Couldrys Gedanken zu Medienpraktiken als neues Paradigma der Medienforschung (Couldry 2010) Eigenschaften von Medienpraktiken, die eine Bandbreite an Analyseaspekten auffächern und in gekürzter Form als Grundgerüst horizontaler Ausprägungen der untersuchten Medienpraktiken dieser Arbeit dienen:
- Medienpraktiken seien situiert, fänden also unter bestimmten Umständen statt, die sich in wechselseitigem Zusammenhang beeinflössen. Medienpraktiken seien nicht nur Folge, sondern auch Verursacher einer Situation (Dang-Anh et al. 2017: 18). § Sie seien körperlich, involvierten „verschiedene Sinne auf jeweils spezifische Weise“, wobei der Körper zu einem gewissen Grad der Enkulturation unterworfen sei (Dang-Anh et al. 2017: 19). Dies zeigt sich bei der Rezeption kopierter Video- aufnahmen durch eine Adaption an die durch die Medienpraktik verschlechterten sensorischen Wahrnehmbarkeit, sodass die Bild- und Tonqualität Teil des Medien- inhalts empfunden wird (Larkin 2004: 307).
- Sie seien infrastrukturiert, also in mediale Infrastrukturen eingebunden. Diese seien oft nicht (direkt) sichtbar, könnten aber über von Medienpraktiken hinterlassene Spuren aufgespürt werden (Dang-Anh et al. 2017: 24). Die Handelsroute von Raubkopien indischer Filme führe durch Dubai, was durch die im Inhalt konservierte dubaianische Werbung ersichtlich würde. Anhand von chinesisch überschriebenen arabischen Untertiteln könne man Spuren der Piraterie US-amerikanischer Filme nachvollziehen (Larkin 2004: 296).
- Sie seien historisch, hätten also eine Vorgänglichkeit, zu der durchaus ein ambiva- lentes Verhältnis möglich sei (Dang-Anh et al. 2017: 24). Im Falle Nigerias sei hier auf die Verknüpfung von Kino und Imperialismus als Legitimation von Rassismus und Unterwerfung hingewiesen (Shohat/Stam 2005).
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