Neben den Manns gibt es kaum einen anderen Familienclan, der seit mehreren Jahrhunderten derart im Zentrum des öffentlichen Interesses steht. Als Schriftstellerfamilie sind sie selbst Teil einer von ihnen mit verfassten Familiensaga geworden, die eine lange und interessante Vorgeschichte hat.
Und doch ist wenig ist bekannt über den brasilianischen Ursprung der Familie Mann, die üblicherweise ausschließlich dem deutschen Sprachraum, ja der deutschen Mentalität und Kultur überhaupt zugeordnet wird, und auch in der Wissenschaft wurde dieses Thema bisher kaum beachtet.
Dennoch ist es gerade die Tatsache, dass die Manns sich seit jeher zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent bewegt haben – genauso wie der daraus entstandene Mangel an Identität und die fehlenden Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis – die das literarische Schaffen fast aller Familienmitglieder nachhaltig beeinflusst hat und die Präsenz dieser Familie in der Öffentlichkeit an Modernität und Aktualität gewinnen lässt.
Aus diesem Grund beschäftigt sich diese Arbeit mit ebenjener Thematik. Neben einer Darstellung der biographischen Umstände und deren literarischer Verarbeitung von Julia Mann selbst soll nicht nur untersucht werden, inwieweit die brasilianische Herkunft der Mutter Leben und vor allem Werk der berühmten Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann beeinflusst hat, sondern auch, wie zeitgenössische Autoren dieses Motiv literarisch adaptieren und verarbeiten.
Inhalt
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1. Julia Mann
2.1.1. Biographischer Bezug zu Brasilien
2.1.2. Aus Dodos Kindheit
2.2. Heinrich Mann
2.2.1. Interesse an Brasilien
2.2.2. Zwischen den Rassen
2.3. Thomas Mann
2.3.1. Brasilien: Mutterland
2.3.2. Literarische Verarbeitung
2.4. Verarbeitung in zeitgenössischer Literatur
2.4.1. Frido Mann: Brasilien-Trilogie
2.4.2 João Silvério Trevisan: Ana em Veneza
3. Resümee
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Neben den Manns gibt es kaum einen anderen Familienclan, der seit mehreren Jahrhunderten derart im Zentrum des öffentlichen Interesses steht. Als Schriftstellerfamilie sind sie selbst Teil einer von ihnen mit verfassten Familiensaga geworden, die eine lange und interessante Vorgeschichte hat.
Und doch ist wenig ist bekannt über den brasilianischen Ursprung der Familie Mann, die üblicherweise ausschließlich dem deutschen Sprachraum, ja der deutschen Mentalität und Kultur überhaupt zugeordnet wird, und auch in der Wissenschaft wurde dieses Thema bisher kaum beachtet. Es handelt sich offensichtlich um ein Gebiet, „das bis heute im Rahmen des mittlerweile sehr populär gewordenen Spezialgebiets der […] Literaturwissenschaft, der Schriftstellerfamilie Mann, relativ wenig und nur oberflächlich berücksichtigt wurde: die Auseinandersetzung von Thomas und Heinrich Mann mit der eigenen fremdländisch-exotischen Herkunft, die der Präsenz und Wirkung ihrer brasilianischen Mutter Julia da Silva Bruhns […] zu verdanken ist.“[1]
Dennoch ist es gerade die Tatsache, dass die Manns sich seit jeher zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Kontinent bewegt haben – genauso wie der daraus entstandene Mangel an Identität und die fehlenden Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis – die das literarische Schaffen fast aller Familienmitglieder nachhaltig beeinflusst hat und die Präsenz dieser Familie in der Öffentlichkeit an Modernität und Aktualität gewinnen lässt.
Aus diesem Grund beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit ebenjener Thematik. Neben einer Darstellung der biographischen Umstände und deren literarischer Verarbeitung von Julia Mann selbst soll nicht nur untersucht werden, inwieweit die brasilianische Herkunft der Mutter Leben und vor allem Werk der berühmten Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann beeinflusst hat, sondern auch, wie zeitgenössische Autoren dieses Motiv literarisch adaptieren und verarbeiten.
2. Hauptteil
2.1. Julia Mann
2.1.1. Biographischer Bezug zu Brasilien
Ausgangspunkt für die globale Heimatlosigkeit der Manns ist der in Deutschland bisher nahezu unbekannte Umstand, dass die Mutter der beiden namenhaften deutschen Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann brasilianische Wurzeln hat: als Julia da Silva-Bruhns-Mann wird sie am 14.08.1851 an der brasilianischen Atlantikküste „unter Affen und Papageien“[2], wie sie es später selbst zu beschreiben pflegt, als Tochter einer kreolisch-brasilianischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren und verbringt ihre ersten Lebensjahre in der kleinen Stadt Paraty, 250 Kilometer südlich von Rio de Janeiro gelegen.
Ihren Ursprung auf dem südamerikanischen Kontinent, mit dem sich die „Exotik und Zufälligkeit schon an[kündigen], die das Leben von Julia prägen soll[en]“ [3], hat Julia ihrem Vater zu verdanken, dem aus Lübeck stammenden Johann Ludwig Hermann Bruhns, der sich zwanzig Jahre zuvor als einer der zahlreichen Deutschen als Kaufmann und Plantagenbesitzer in Brasilien niedergelassen hat.[4] Als João Luiz Germano wird er im Kaffee- und Zuckerhandel reich und heiratet 1847 die von einer portugiesischen Auswandererfamilie abstammende Dona Maria Luiz da Silva, mit der der fünf Kinder bekommt.[5]
Den Umständen entsprechend wächst Julia Mann „in einem Paradies heran“.[6] Das Haus in Paraty – in einem „sonnigen [und] tropischen Küstengebiet“[7] zwischen Urwald und Meer gelegen – existiert noch heute fast unverändert. In ihren erst nach ihrem Tod veröffentlichten Memoiren, die im nächsten Kapitel noch ausführlicher besprochen werden, erinnert sie sich an diesen „Ort ihrer sorglosen und glücklichen frühen Kindheit“[8] an dem sie „behütet von ihrer Neger-Amme“ und zusammen mit ihren Geschwistern ihre frühen Lebensjahre verbringt.[9]
Die unbeschwerte Zeit in Brasilien soll allerdings nur bis zu Julias siebtem Lebensjahr anhalten: im Jahr 1858 kehrt Johann Ludwig Hermann Bruhns nach dem frühen Kindbetttod seiner Frau zwei Jahre zuvor mit seinen drei Söhnen und zwei Töchtern sowie der schwarzen Amme Anna in seine Heimatstadt Lübeck zurück[10] um seinen Kindern – nach eigener Aussage – „Bildung und eine bessere Zukunft zu gewährleisten“.[11] Mit ihrer Schwester wird Julia nach einem kurzen Aufenthalt im Haus der Großmutter von jetzt an in einem Mädchen-Pensionat untergebracht.[12]
Wie u.a. in ihren später verfassten Memoiren zum Ausdruck kommt, stellt die „unfreiwillige Verpflanzung vom tropischen Kinderparadies Paraty in das hanseatisch-protestantische Lübeck“[13] einen furchtbaren Schock für die Siebenjährige dar[14] und hat eine ganze Reihe von belastenden Verlusten zur Folge, die ihr ganzes weiteres Leben prägen sollen: nach dem Tod der Mutter und der Entwurzelung aus der brasilianischen Heimat das allmähliche Entgleiten der portugiesischen Muttersprache, die durch Deutsch, Englisch und Französisch ersetzt wird; der Wegfall der katholischen religiösen Identität durch den erzwungenen Übertritt zum Protestantismus; und schließlich der Verlust des Vaters, der 1866 mit dem Kindermädchen Anna ohne Julia nach Brasilien zurückkehrt.[15] Der abrupte Wechsel in die ihr völlig fremde Welt ist für Julia nur schwer zu verkraften und bewirkt einen „Schaden [in] ihrer kindlichen Seele, die – so scheint es – nie wieder heilt[…]“.[16]
Mit knapp achtzehn Jahren heiratet Julia den Lübecker Senator Johann Thomas Heinrich Mann, und spätestens von da an ist sie gezwungen, sich dem Verhaltenskodex der Lübecker Gesellschaft anzupassen. Obwohl sie später eine deutschnationale Identität annimmt, wird sie ihre brasilianische Herkunft nie vergessen; die saudade nach der Heimat blitzt immer wieder auf und ihr Leben wird bis zum Schluss ruhelos bleiben. Mit ihrer südlich-brasilianischen Ausstrahlung und ihrer ungewöhnlichen Musikalität übt Julia Mann erheblichen Einfluss auf ihre Söhne Thomas und Heinrich aus, die später – zum Exil in Amerika genötigt – selbst die Erfahrung des Heimats- und Identitätsverlusts machen werden.[17]
2.1.2. Aus Dodos Kindheit
Julias frühe Mädchenjahre in Brasilien lassen sich fast ausschließlich aus ihren erst viele Jahre später geschriebenen Memoiren rekonstruieren: In Aus Dodos Kindheit, im Jahr 1903 „während d[er]für sie glücklichsten Zeit […], ziemlich zeitgleich mit den >>Buddenbrooks<< ihres Sohnes“[18] entstanden und 1958 erstmals veröffentlicht, erinnert sie sich an ihre frühe Kindheit im Paradies.
In dieser kleinen Autobiographie berichtet sie über sich selbst in der dritten Person und benennt sich mit ihrem früheren Spitznamen Dodo: „Im Urwalde, nahe dem Atlantischen Ozean, südlich des Äquators, war es, wo Dodo das Licht der Welt erblickte.“[19] Julia beschreibt sich als aufgewecktes und an der Welt stark interessiertes Kind, das „barfuß“ und „im Hemdchen“ zwischen „Meeresstrand“ und dem „Rand des Urwalds“ umherläuft und wegen ihres hellen Haars in besonderer Gunst bei dem geliebten Kindermädchen Anna steht: „Von fünf Kindern war Dodo das […] einzige, welches, gleich dem Pai, blondes und leicht gelocktes Haar hatte. Ihre schwarze Amme hatte viel Freude an dem Haar der Kleinen […].“[20] Sie bezeichnet sich als „Freiheitsliebende“,[21] berichtet von ihren kindlichen Abenteuern und Ausflügen in die Umgebung von Paraty und beschreibt die reichhaltige tropische Natur mit ihren duftenden Pflanzen und exotischen Früchten.[22] Interessant ist an dieser Stelle auch, dass Julia – trotz des baldigen Verdrängens der portugiesischen Muttersprache durch das Deutsche – in ihren Memoiren immer wieder portugiesische Begriffe einstreut: so erzählt sie liebevoll von Pai und Mai, von diversen Speisen wie „Mengão“ oder „Pinhão“, vom „Beija-flor“[23] und von Brasilien als der „Ilha“ (S. 18), um nur einige Beispiele zu nennen.
Die Beschreibung der unbeschwerten Kindheit geht weiter bis zum plötzlichen Tod der Mutter: „Kaum sechs Jahre alt, erlitt Dodo den härtesten Verlust, der ein Kind treffen kann: ihre Mai starb! Durch ihr ganzes Leben ging mit ihr der bittere Schmerz um die so früh verlorene Mai!“[24] Die Beschreibung der Übersiedlung nach Deutschland, die zwei Jahre später stattfindet, zeugt davon, wie schwer der siebenjährigen Julia dieser Umbruch fällt: „Welche Kontraste schnitten nun in […] Dodos Leben ein! Die sonnige Heimat, wo sie in ungezwungenem Dasein meist in der prachtvollen Natur ihre früheste Kindheit verbrachte; die Liebe ihrer Mai, ihrer Anna, der Großeltern auf der Ilha und aller, die sie drüben als kleines Kind gekannt und mit denen sie gespielt hatten – das lag nun für immer weit dahinten; und jetzt, wie auf eine andere Welt versetzt, taten fremdes Land, Klima, Leute, Sprache und Sitte an sie heran!“[25] Auch die Abwesenheit des Vaters, der wieder nach Brasilien zurückkehrt, macht der jungen Julia zu schaffen: „Auch der liebe Pai kam nicht sobald wieder. Er mußte [sic!] wieder lange drüben bleiben und Geld verdienen […].“[26]
Ab hier beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Dodo. Brasilien aber wird sie nie vergessen – im Gegenteil, wie die Worte zeigen, mit denen sie die Memoiren schließt: „Je älter Dodo wird, desto mehr und lieber gedenkt sie ihrer Kindheit und sucht immer sehnsüchtiger, den Schleier, der sich immer dichter davorlegt, zu durchforschen; immer märchenhafter, unerreichbarer und schattenhafter aus einer versunkenen Welt taucht Dodos Kindheit vor ihren Augen auf, unwiederbringlich […].“[27]
Insgesamt ist der Bericht nicht nur deutlich von Verklärung geprägt, „sondern auch ein schmerzlich sehnsüchtiger Rückblick auf ihre für immer verlorene Heimat, auf ihr unbeschwertes Dasein vor allem in der tropischen Natur, auf die Liebe ihrer >Mai<, […] ihrer schwarzen Amme Anna, ihrer Großeltern […] und ihrer vielen Spielkameradinnen“.[28]
Trotz der idealisierenden Sichtweise schildert das Buch auf durchaus anschauliche und eindrucksvolle Weise das Leben in Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Kindes; und mehr noch als das ermöglicht es ein tieferes Verständnis für die vielen tragischen Ereignisse in der Familie Mann, für die Zerrissenheit und Verlorenheit, die nicht nur Julias Leben, sondern auch das ihrer Kinder prägen.
2.2. Heinrich Mann
2.2.1. Interesse an Brasilien
„Als ich Frankreich wohnte, besuchte mich ein brasilianischer Diplomat mit seiner Frau […]. Wir saßen schon eine Weile im Gespräch, da erwähnte ich, daß [sic!] meine Mutter von Brasilien nach Deutschland gekommen sei, einst um 1860. […] >>Jetzt weiß ich, warum wir uns gleich verstanden haben<<, sagte der Mann. Ich sah ihn an und dachte: >>Mama hätte auch dort bleiben können, ich wäre vielleicht, was er ist!“.[29]
Das vorangestellte Zitat zeigt, dass Heinrich Mann sich des brasilianischen Einschlags ins seinem Blut schon immer bewusst und zu einer Auseinandersetzung mit diesem Thema durchaus bereit ist; deshalb überrascht es wenig, dass der Schriftsteller die südamerikanische Herkunft der Mutter literarisch zu verarbeiten versucht. Am deutlichsten tritt dieses Interesse, das unter anderem durch Heinrichs Begegnung mit der ebenfalls aus Südamerika stammenden Inés Schmied – mit der er eine mehrere Jahre überdauernde Liaison eingeht – ausgelöst wird,[30] in seinem zwischen 1904 und 1907 verfassten Roman Zwischen den Rassen hervor.
Zur Entstehungszeit des Werkes ist der „berühmteste Bruderzwist der deutschsprachigen Literatur“[31] bereits in vollem Gang – Thomas Mann hat sich durch die 1901 erschienenen „Buddenbrooks“ bereits als Autor ersten Rangs etabliert, während Heinrich von ihm derzeit als „unseriöser Vielschreiber“[32] verachtet wird.
Wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, ist Heinrich seinem berühmten jüngeren Bruder Thomas mit seiner Vorgehensweise beim Verfassen von Zwischen den Rassen allerdings um einige Jahre voraus: während letzterer die Herkunft der Mutter zunächst eher verschweigt, greift der Ältere sie literarisch offensiv auf.[33]
In direkte Berührung mit dem Geburtsland seiner Mutter soll Heinrich allerdings erst viel später kommen – nämlich erst während seiner Zeit im nordamerikanischen Exil, in der er Briefkontakt mit dem nach Brasilien exilierten Österreicher Karl Lustig-Prean pflegt. Brasilianischen Boden wird er selbst allerdings nie betreten.
[...]
[1] Weise, Christina: Thomas Mann und Brasilien. Untersuchungen zur Produktion und Rezeption. Schriftliche Hausarbeit im Rahmen der Magisterprüfung an der Philosophischen Universität zu Köln, 2012, S. 3-4.
[2] Kuschel, Karl-Josef (u.a.): Mutterland. Die Familie Mann und Brasilien. Düsseldorf: Artemis & Winkler Verlag 2009, S. 14.
[3] Weise (2009), S. 7.
[4] Vgl. Mann, Julia: Ich spreche so gerne mit meinen Kindern. Hrsg. von Rosemarie Eggert. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1994, S. 309.
[5] Vgl. Kuschel (2009), S. 23.
[6] Krüll, Marianne: Die Frauen im Schatten von Heinrich und Thomas Mann. In: Emma, Julia/August 2000, S. 2.
[7] Kuschel (2009), S. 14.
[8] Kuschel (2009), S. 14.
[9] Krüll (2000), S. 2.
[10] Vgl. Mann (1994), S. 309.
[11] Zit. nach Kuschel (2009), S. 25.
[12] Vgl. Krüll (2000), S. 2.
[13] Kuschel (2009), S. 26.
[14] Vgl. Krüll (2000), S. 2.
[15] Vgl. Kuschel (2009), S. 26.
[16] Krüll (2000), S. 2.
[17] Vgl. Kuschel (2009), S. 28 ff.
[18] Kuschel (2009), S. 30.
[19] Mann (1994), S. 7.
[20] Mann (1994), S. 8.
[21] Mann (1994), S. 10.
[22] Vgl. Mann (1994), S. 7-14.
[23] Vgl. Mann (1994), S. 8-10.
[24] Mann (1994), S. 14.
[25] Mann (1994), S. 18.
[26] Mann (1994), S. 18.
[27] Mann (1994), S. 49.
[28] Kuschel (2009), S. 30.
[29] Zit. nach Kuschel (2009), S. 39.
[30] Vgl. Kuschel (2009), S. 41.
[31] Kuschel (2009), S. 40.
[32] Kuschel (2009), S. 40.
[33] Vgl. Kuschel (2009), S. 39 ff.