Die zahlreichen Schilderungen über Integrationsprobleme in der Öffentlichkeit lassen vermuten, dass bei den türkischstämmigen Migranten in Deutschland keine zufriedenstellende Assimilation neuer Gewohnheiten stattgefunden hat.
Die vorliegende Arbeit folgt der Frage, ob es bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund einen Rückzug in ihre ethnische Community gibt und wenn ja, ob dieses eine Reaktion auf erfahrene Diskriminierung und Stigmatisierung durch die deutsche Gesellschaft ist. Die These, die es zu überprüfen gilt, ist, dass Türken in Deutschland sowohl einer latenten als auch einer manifesten Diskriminierung durch einen Großteil der Gesellschaft ausgesetzt sind. Ihre Integrationsbemühungen finden keinen fruchtbaren Boden, wodurch sich die Betroffenen unter ihresgleichen zurückziehen, um Bestätigung und Rückhalt zu erfahren. Dieser Rückzug wird von der Gesellschaft als Beleg für die gescheiterte Integration und zur Legitimierung weiterer Diskriminierungen begriffen, wodurch ein Teufelskreis aus Diskriminierung und Rückzug entsteht.
Hierzu soll zunächst einführend das Konzept der reaktiven Ethnizität vorgestellt werden, bevor anhand empirischer Beispiele geprüft wird, ob ein Rückzug der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe unter ihres gleichen vorliegt. Es folgt die Darstellung des Konzeptes Stigma von Goffman. Daran anschließend wird mittels eines Theorievergleiches erörtert, ob reaktive Ethnizität als eine allgemeinsoziologische Reaktion auf erfahrene Stigmatisierung betrachtet werden kann. Abschließend zeigt das Fazit eine zusammenfassende Darstellung der Erkenntnisse, gibt eine Antwort auf die leitenden Fragen der Arbeit und schließt mit dem Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf und Ansatzmöglichkeiten ab.
Inhalt
1. Einleitung
2. Reaktive Ethnizität – eine theoretische Annäherung
2.1 Re-Traditionalisierung
2.2 Bedeutung der Religion
2.3 Bedeutung der Familie
2.4 Fazit
3 Reaktive Ethnizität in der Empirie
3.1 Von der kurzzeitigen Gastarbeit zur Niederlassung in Deutschland
3.2 Bestandsaufnahme zum Integrationsprozess türkischstämmiger Migranten in Deutschland
3.3 Diskriminierungserfahrungen und ihre Folgen
3.4 Die Kopftuch-Debatte aus Sicht von türkischen Migrantinnen
4. Stigma- eine theoretische Annäherung
4.1 Erste Begriffsbestimmungen
4.2 Formen der Identität
4.3 Sozialisation und Umgangsstrategien der Betroffenen mit Stigmatisierung
4.4 Folgen von Stigmatisierungen in sozialen Interaktionen
4.5 Stigmatisierte unter ihresgleichen
5. Theorievergleich
5.1 Gegenstandsbereich
5.2 Problemhinsicht
5.3 Problemlösung
5.4 Fazit
6. Resümee
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Aufgrund der stark gestiegenen Anzahl an Flüchtlingen, die insbesondere seit dem Jahr 2015 in Deutschland Asyl suchen, ist in der Gesellschaft eine hitzige Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen von Integration der Zugewanderten ausgebrochen. Unter dem Begriff „Flüchtlingskrise“ wird in Medien und Politik kontrovers diskutiert. Die Sorge vor Überfremdung und religiösem Fanatismus der Asylbewerben fanden Ausdruck bis in die Mitte der Gesellschaft.
Um die Zukunft vorhersagen zu können, ist es sowohl alltagsweltlich als auch in der Wissenschaft eine gängige Methode, in der Vergangenheit nach vergleichbaren Situationen und deren Verlauf zu suchen. Aktuell stellt sich angesichts der hohen Zahl an Flüchtlingen die Frage, wo es ein zahlenmäßig ähnlich schwerwiegendes Phänomen an Zuwanderung gab und wie damit umgegangen wurde. Welche Anstrengungen wurden zur Förderung der Integration der neuen Mitbürger unternommen und wie entwickelte sich die Situation?
Der über einer Million Flüchtlingen im Jahr 2015 lässt sich als Vergleichsdimension beispielsweise die Einwanderung von über 600.000 Migranten aus der Türkei in die Bundesrepublik gegenüberstellen. Wenngleich sich diese Migration im Rahmen des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland über zwölf Jahre erstreckte, erscheint es durch den Familiennachzug eine ähnlich große Rolle in der deutschen Gesellschaft eingenommen zu haben. Aktuell stellen Personen mit dem Migrationshintergrund Türkei 17,4% der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung dar (Statistisches Bundesamt 2014, 7). Zurzeit leben etwa 1,5 Millionen Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2015, 83). Durch die verstärkte Migration im Zuge der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens im Oktober 1961 blickt die Bevölkerungsgruppe der Türkisch-stämmigen auf eine lange und kontinuierliche Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik zurück, die mittlerweile vielfach bis in die dritte Generation reicht. Aufgrund dessen eignet sie sich besonders, um langfristige Integrationsverläufe in den Blick zu nehmen.
Ein Blick in die Medien erweckt den Eindruck, dass die Integration gescheitert sei[1] und auch ein Großteil der Bevölkerung begreift die türkischstämmigen Mitbürger nach wie vor als Ausländer. Der Autor Thilo Sarrazin erlangte mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ große Aufmerksamkeit. In seinem Kapitel über Zuwanderung und Integration prangert er die mangelnde Integrationsbereitschaft von Migranten mit muslimischem Glauben und das Verbleiben unter ihresgleichen an (Sarrazin 2010, 294ff.) Laut Sarrazin übernehme eine aus westlicher Sicht autoritäre, vormoderne und antidemokratische Ausrichtung des Islams eine zentrale Rolle im Leben der Migranten und verhindere dadurch den Willen zur Integration (ebd., 266f.). An dieser Stelle habe die Bevölkerung das Recht, die Assimilation – sprich die Übernahme von Handlungsweisen, Wissen, Werten sowie eine emotionale Identifikation mit dem Aufnahmeland (Han 2005, 65) – zu fordern, um so gesellschaftliche Werte zu wahren (Sarrazin 2010, 308ff.). Der Assimilationsprozess sei die notwendige Grundlage für gelingende Integration. Sarrazin erfährt in der Öffentlichkeit ein geteiltes Echo auf seine Thesen und löst damit kontroverse und emotional aufgeladene Diskussionen aus. Hierbei werden die unterschiedlichen Auffassungen über gelungene Integration deutlich. Diese reichen von der Befürwortung vollständiger Assimilation der Migranten bis zur Forderung einer liberalen Aufnahme- und Integrationspolitik.
Die zahlreichen Schilderungen über Integrationsprobleme in der Öffentlichkeit lassen vermuten, dass bei den türkischstämmigen Migranten in Deutschland keine zufriedenstellende Assimilation neuer Gewohnheiten stattgefunden hat. Die vorliegende Arbeit folgt der Frage, ob es bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund einen Rückzug in ihre ethnische Community gibt und wenn ja, ob dieses eine Reaktion auf erfahrene Diskriminierung und Stigmatisierung durch die deutsche Gesellschaft ist. Die These, die es zu überprüfen gilt, ist, dass Türken in Deutschland sowohl einer latenten als auch einer manifesten Diskriminierung durch einen Großteil der Gesellschaft ausgesetzt sind. Ihre Integrationsbemühungen finden keinen fruchtbaren Boden, wodurch sich die Betroffenen unter ihresgleichen zurückziehen, um Bestätigung und Rückhalt zu erfahren. Dieser Rückzug wird von der Gesellschaft als Beleg für die gescheiterte Integration und zur Legitimierung weiterer Diskriminierungen begriffen, wodurch ein Teufelskreis aus Diskriminierung und Rückzug entsteht.
Hierzu soll zunächst einführend das Konzept der reaktiven Ethnizität vorgestellt werden, bevor anhand empirischer Beispiele geprüft wird, ob ein Rückzug der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe unter ihres gleichen vorliegt. Es folgt die Darstellung des Konzeptes Stigma von Goffman. Daran anschließend wird mittels eines Theorievergleiches erörtert, ob reaktive Ethnizität als eine allgemeinsoziologische Reaktion auf erfahrene Stigmatisierung betrachtet werden kann. Abschließend zeigt das Fazit eine zusammenfassende Darstellung der Erkenntnisse, gibt eine Antwort auf die leitenden Fragen der Arbeit und schließt mit dem Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf und Ansatzmöglichkeiten ab.
2. Reaktive Ethnizität – eine theoretische Annäherung
Ein Rückgriff auf das Konzept der reaktiven Ethnizität in der Diskussion um die gescheiterte Integration von Gastarbeitern bietet sich an, da es neue Perspektiven eröffnet. Traditionsorientierten Migranten den Willen nach Integrationsbereitschaft abzuerkennen ist eine einfache These, die sich auf Alltagsbeobachtungen stützt und nicht hinreichend nach den Ursachen fragt. Ist von vorn herein bei den Zugewanderten kein Interesse an Integration vorhanden oder scheitern ihre Bemühungen und sie ziehen sich als Reaktion auf den ausbleibenden Erfolg in ihre ethnische Community zurück? Genau an dieser Stelle setzt das Konzept der reaktiven Ethnizität an.
Unter reaktiver Ethnizität ist dabei zu verstehen, dass Migranten „als Reaktion auf Diskriminierung und Segregation seitens der Mehrheitsgesellschaft ethnische Identität mobilisieren und Selbstsegregation betreiben“ (Heckmann 2015, 272). Anschließend an diese allgemeine Definition soll im Folgenden anhand von den Kategorien „Re-Traditionalisierung“, „Religion“ und „Familie“ das Konzept detailliert erläutert werden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird das Konzept mithilfe der Ergebnisse empirischer Studien auf seine Gültigkeit in Bezug auf türkischstämmige Migranten in Deutschland geprüft.
Die Kategorisierungen „Tradition“, „Religion“ und „Familie“ orientieren sich dabei an der Ausrichtung des Buches „Wir und die Anderen“ von Elisabeth Beck-Gernsheim. Mit ihrer Streitschrift aus dem Jahre 2007 leistet die studierte Soziologin einen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs „Deutschland als Einwanderungsland“. Hierzu greift sie das Konzept „reactive ethnicity“ der US-amerikanischen Forscher Alejandro Portes und Rubén G. Rumbaut auf. Portes und Rumbaut veröffentlichten im Jahre 2001 das Buch „Legacies“ mit den Ergebnissen ihrer Langzeitstudie über Kinder von Immigranten in den USA. Dabei stellten sie insbesondere bei den mexikanischen Einwanderern zweiter und dritter Generation ein hohes Maß an reaktiver Ethnizität fest, das sich auf andauernde und kontinuierliche Benachteiligung der Bevölkerungsgruppe zurückführen lasse (Portes und Rumbaut 2001, 273). Die Forscher formulieren die Erkenntnis, “[reactive ethnicity] is less a sign of continuing loyalty to the home country than a reaction to hostile conditions in the receiving society“ (ebd., 284). Diesen Blickwinkel auf die Ursachen von verstärkter Traditionsorientierung, insbesondere bei den Nachkommen der Zuwanderer, greift Beck-Gernsheim auf und wendet ihn auf die in Deutschland lebenden Türken an.
2.1 Re-Traditionalisierung
Das Bild, das eine Mehrheit der Deutschen von Migranten hat, ist geprägt von der Ansicht, die Zugewanderten seien auch in der neuen Heimat traditionsorientiert, familien- und gemeinschaftsverbunden und leben ihre Religion intensiver aus als die einheimische Bevölkerung. Gestärkt werden diese Alltagswahrnehmungen durch die Darstellung von ausländischen Mitbürgern in den Medien, da Bilder von Frauen mit Kopftuch, kinderreichen Familien und Moscheen dominieren (Beck-Gernsheim 2007, 19). Doch wie traditionsorientiert und wertegebunden sind die türkischstämmigen Migranten wirklich? Und welche Gründe lassen sich dafür anführen?
Viele Studien kommen zu denselben Ergebnissen – Migranten sind stärker traditionsorientiert als die Mehrheitsgesellschaft der Deutschen (ebd., 21). Doch wie drückt sich diese Traditionsorientierung aus und welche Funktion übernimmt sie? Diese Fragen beantwortet die Forschung zumeist nicht. Beck-Gernsheim greift die Ergebnisse auf und führt hierzu verschiedene Gründe zur Erklärung an.
Am Beispiel der Rückkehrorientierung ließe sich reaktive Ethnizität im Bereich der Traditionsorientierung besonders eindrucksvoll darstellen. Eine faktische Rückkehr in das Heimatland würde, je länger der Aufenthalt in Deutschland dauert, immer unrealistischer. Dennoch hat das Festhalten an dem Vorhaben eine „wichtige soziale, kulturelle und psychische Funktion“ (ebd., 22). Der Historiker Cord Pagenstecher beschäftigt sich in seinem Artikel „Illusion der Rückkehr“ ausführlich mit der Rückkehrabsicht und ihrer Funktion für Gastarbeiter. Er diagnostizierte insbesondere zwei Motive, die mit dem Aufrechterhalten der Rückkehrabsicht verbunden sind. Zum einen fungiert sie als „Abwehrstrategie gegen Ausgrenzung und Unsicherheit“ (ebd.). Durch die Orientierung am Heimatland werde ein anderer Bezugsrahmen und Zufluchtsort geschaffen, der identitätsstiftend und gemeinschaftsfördernd für die Migranten in der als fremd empfunden Aufnahmegesellschaft ist (ebd.). Die offene Bekundung der Rückkehrabsicht werde weitergehend als Loyalität zur Minderheitsgesellschaft empfunden und diene als Verweis auf die gemeinsamen Wurzeln (ebd.). Damit erfüllt das Artikulieren der Absicht eher eine symbolische Funktion anstelle eines faktisch angestrebten Ziels.
Zunächst erscheint die steigende Traditionalisierung von Migranten im Aufnahmeland paradox, da diese durch den Wohnortwechsel augenscheinlich aus dem traditionellen Kontext herausgelöst sind. Beck-Gernsheim verweist auf das Heimweh als Grund (Beck-Gernsheim 2007, 23). Man beginne erst in der Fremde zu spüren, was man an seinem Herkunftsland geschätzt habe und vermisse dieses. Ein ablehnendes Aufnahmeklima im neuen Land würde dieses Sehnsucht noch verstärken (ebd.). Dadurch käme es zu einem „imaginary homeland […] einem Heimatland im Kopf […], das mit den tatsächlichen Lebensbedingungen in der Heimat oft nur entfernte Ähnlichkeit aufweist“ (ebd.). Durch das verklärte Bild über die Heimat wird, wie beim Festhalten an der Rückkehrorientierung, eine Ausflucht aus dem belastenden Alltag gefunden. Wie bereits Portes und Rumbaut in ihrem Werk „Legacies“ gelangt auch Beck-Gernsheim zu der Erkenntnis, dass Rückbesinnung auf traditionelle Werte oftmals primär eine Reaktion auf die aktuelle Situation im Aufnahmeland, als eine steigende Loyalität und Bindung an das Herkunftsland ist (ebd., 25).
Ein besonders interessantes Phänomen in Bezug auf die steigende Traditionsorientierung von Menschen mit Migrationshintergrund lässt sich bei Angehörigen späterer Generationen von Zugewanderten beobachten. Im Rahmen einer symbolischen Ethnizität schaffen sie eine Kombination aus traditionellen und modernen Symbolen in ihrem alltäglichen Leben. Es sei der Wunsch, „etwas Besonderes und Eigenes zu finden […] [sich] eine kleine persönliche Nische zurecht zu basteln“ (ebd., 27). Hier drückt sich somit, neben der Reaktion auf Diskriminierung, ein weiterer Grund für Rückbesinnung auf traditionelle Werte aus. Dieses gilt aber primär für Mitglieder der dritten und vierten Generation von Zuwanderern, die sich bereits zu großen Teilen als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft begreifen (ebd.).
2.2 Bedeutung der Religion
Als zentraler Aspekt der Traditionsorientierung findet sich die Bedeutung von Religion für das alltägliche Leben der Migranten. Dieser wird aufgrund ihres Stellenwertes ein eigenes Kapitel in Beck-Gernsheims Arbeit gewidmet. Entgegen dem Trend der Modernisierung und der Säkularisierung, wie sie insbesondere in den westlichen Ländern zu finden ist, spielt die Religion im Leben vieler Zugewanderter eine zentrale Rolle. Ähnlich wie bereits bei anderen Perspektiven des Traditionsbewusstseins, diagnostizieren auch bei der Religion verschiedene Studien eine im Vergleich zum Heimatland steigende Bedeutung des Glaubens (Beck-Gernsheim 2007, 29). Werden aber die Gründe für diese Orientierung hinterfragt, zeichnet sich ein Bedeutungswandel ab. Der Religion wird nicht mehr nur die Praktizierung des Glaubens zugeschrieben, sondern sie bekommt eine soziale Funktion. „[Es] ist Treffpunkt, Begegnungsort, Sammelplatz derer, die in der Fremde sich durchschlagen müssen“ (ebd., 30). Die Treffen im religiösen Kontext bieten die Möglichkeit zum Austausch und zur gegenseitigen Unterstützung, wie Beck-Gernsheim erläutert hat. Insbesondere Zuwanderer, die neu in ein Land kommen, wissen, dass sie in der religiösen Gemeinschaft unmittelbar Kontakt zu ihrer ethnischen Community finden werden (ebd., 30f.).
Weitergehend dient die Religion als ein „Anker der Identität“ (ebd., 32). Der Glaube bekommt in der neuen Heimat eine besondere Bedeutung, da er als Merkmal der eigenen Gruppe dient und abgrenzend zu den Freiheiten der säkularisierten Gesellschaft wirkt (ebd., 32f.). Viele religiösen Praktiken werden neu aufgeladen. Ein Großteil der Migranten, die den Glauben als wichtigen Bestandteil des Alltags betrachten, formuliert, dass beispielsweise das Tragen des Kopftuches als soziales Signal gegenüber der von ihnen als intoleranten Mehrheitsgesellschaft empfunden wird (Beck-Gernsheim 2007, 35). So entsteht eine „Form der kulturellen islamischen Identität, die die Negativ-Zuschreibungen von Seiten der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufnimmt und ins Positive umwendet“ (ebd.).
Wie bereits bei der Einbindung traditioneller Elemente in Kombination mit Aspekten der Moderne bei Migranten dritter und vierter Generation findet auch eine allmähliche Umdeutung der Religion statt. Als Fazit seiner empirischen Studie „Religion und Identität“ formuliert der Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer, dass es zu einer „Pluralität von moslemischen Identifikationen und Handlungsstrategien“ (ebd., 37) kommt, die nicht mehr mit dem statischen, monolithischen Bild des Islams vereinbar ist.
2.3 Bedeutung der Familie
Ein weiteres, weit verbreitetes Alltagsbild in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist die stereotype Annahme der großen, hierarchisch strukturierten Familie, in der Migranten zusammenleben. Beck-Gernsheim fügt diese Komponente in das Konzept der reaktiven Ethnizität ein, da es sich auch hier nicht um ein aus dem Herkunftsland importiertes Beziehungsgeflecht handelt, sondern die familiäre Bindung ein Produkt der Migrationssituation darstellt. Dabei wird „der Binnenraum der Familie […] aufgewertet als Zufluchtsort und schützender Raum“ (Beck-Gernsheim 2007, 39), wo die Mitglieder der Ablehnung und Diskriminierung des Aufnahmelandes entfliehen können. Der Familienverband gewinnt durch die Unkündbarkeit der Beziehung an Bedeutung und wird zum Ort der Identitätsfindung und -stabilisierung (ebd.).
Beck-Gernsheim reflektiert die Situation der Familie in der neuen Umgebung kritisch, indem sie darauf hinweist, „was die Migranten an Anpassungsleistungen tagtäglich erbringen und wie viele sich bemühen, die Anforderungen der neuen Umwelt mit ihren Gewohnheiten und Erwartungen zusammenzubringen“ (ebd., 41).
Gegen die generelle Annahme, Frauen und Mädchen seien in ihren Familien bevormundet und würden zwangsverheiratet, spricht sich ein Großteil der Migrantinnen aus. Sie erleben „die Familie nicht als Ort der Unterdrückung, sondern als erlebte und lebendige Gemeinschaft, als Ort der Verhandlungen und Unterstützung“ (ebd., 42). Die elterliche Kontrolle wird von den jugendlichen Migranten als positiver Ausdruck von Schutz und Sorge verstanden (ebd.). Der Vorwurf der arrangierten Zwangsehe unterstelle einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern, den es so nicht gebe (ebd.). Abgesehen von einem abweichenden Lebensstil der Deutschen, die beispielweise in der Disco nach geeigneten Partnern Ausschau halten, bleiben die Jugendlichen mit Migrationshintergrund eher unter ihresgleichen. Zusätzlich „sind junge Männer und Frauen türkischer Herkunft selbst durchaus offen für einen gewissen Einfluß seitens der Familie und Eltern, wenn es um Partnerwahl geht“ (ebd., 43).
Ein weiterer Aspekt, der Familien mit Migrationshintergrund zu Verwandtschaftsverhältnissen innerhalb Deutschland unterscheidet ist die Trennung, die sie zeitweise auf sich nehmen muss. Am Beginn der Gastarbeiterbewegung stand die Annahme „wer seine Familie liebt, der verläßt sie […] um anderswo die Grundlage für eine bessere Zukunft zu schaffen“ (ebd., 46). Aufgrund dieser belastenden Erfahrungen unterliegt die Beziehung einer anderen Stärke als die einheimischer Familien.
2.4 Fazit
Abschließend lässt sich festhalten, dass eine verstärkte Rückbesinnung bei Migranten auf die traditionelle Werte des Herkunftslandes nicht zwangsläufig einher geht mit einer höheren Identifikation ebendieser. Vielmehr ist sie Ausdruck und Reaktion auf Vorurteile und daraus resultierende Diskriminierung durch die Gesellschaft im Aufnahmeland.
Das Konzept der reaktiven Ethnizität blickt hinter die Kulissen der Alltagsbilder, die im Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft vorherrschen und deckt dadurch Verhaltensweisen auf, die zumeist nur äußerlich dem Klischee der gescheiterten Integration aufgrund mangelnder Bereitschaft entsprechen. So lässt sich eine stärkere religiöse Orientierung oder eine starke Familienbindung zwar bejahen, aber nicht einfach eins zu eins auf die Werte des Heimatlandes übertragen. Das Konzept verdeutlicht, dass in vielen Bereichen die Traditionen umgedeutet wurden und eine soziale Funktion erlangt haben. Beim Praktizieren des Glaubens ist beispielweise die ursprüngliche Bedeutung weiter in den Hintergrund getreten um anstelle dessen die soziale Funktion der Gemeinschaft zu erfüllen. Identifikation und Loyalität mit der Minderheit zu zeigen scheinen die ursächlichen Bestrebungen bei der Rückorientierung zu traditionellen Verhaltensweisen zu sein.
Die Erkenntnis, die hieraus gewonnen werden kann, lautet: Zuwanderung von Migranten verläuft nicht in den Kategorien „schwarz“ und „weiß“, es gibt kein „entweder – oder“, sondern ein „dazwischen“. Die ausländischen Mitbürger, insbesondere die der zweiten und dritten Generation, kommen allein schon durch institutionelle Gegebenheiten wie der Schulpflicht oder dem Besuch auf dem Amt, aber auch durch Freizeitaktivitäten, Einkaufen oder den Gang zum Arzt mit der neuen Kultur in Berührung. Es bilden sich auf Dauer sogenannte „kulturelle Zwischenwelten“ (Beck-Gernsheim 2007, 44) aus, in denen eine Vermischung beider Kulturen stattfindet. Das Konzept der reaktiven Ethnizität ermöglicht an dieser Stelle einen differenzierten Blick auf die Praktiken der ausländischen Mitbürger abseits des alltäglichen Zwei-Klassen-Denkens.
Im folgenden Kapitel soll neben einer Bestandsaufnahme zur aktuellen Situation erlebter Diskriminierung auf Seiten türkischstämmiger Migranten vor allem anhand vom qualitativen Studien das Konzept der reaktiven Ethnizität auf die Gültigkeit in der Bundesrepublik geprüft werden.
3 Reaktive Ethnizität in der Empirie
Studien aus den 90-er Jahren kommen einstimmig zu dem Ergebnis, dass türkischstämmige Migranten in Deutschland schlechter integriert sind als andere Gruppen von Zugewanderten (Diehl und Schnell 2006, 787). Damit wäre die anfängliche These, dass bei dieser Bevölkerungsgruppe ein Verhalten im Sinne der reaktiven Ethnizität vorliegt, bestätigt. Claudia Diehl, Professorin für Soziologie an der Universität Konstanz mit Forschungsschwerpunkt Migration und Ethnizität aber kritisiert, die quantitativen Studien könnten keine ausreichende empirische Basis für ihre Thesen nachweisen (Diehl und Schnell 2006, 787). Das wachsende Bewusstsein über die Tatsache, dass Deutschland sich zu einem Einwanderungsland entwickelt hat, brachte eine neue Flut an Studien über bisherige Integrationsverläufe, die ihre Erkenntnisse auf selbsterhobene empirische Daten stützten und daher einen differenzierteren Blick auf die Situation der Migranten bieten als die Studien aus den 90-er Jahren. Trotzdem lässt sich auch bei den aktuellen Studien die Kritik anführen, dass die quantitativen Erhebungen nur einen oberflächlichen Eindruck von den Gründen für einen Rückzug in die ethnische Community vermitteln. Neben der Frage, ob eine reaktive Ethnizität im Rahmen des zuvor beschriebenen Konzeptes vorliegt ist es im zweiten Schritt wichtig zu fragen, warum dieses Verhalten von den Migranten praktiziert wird. Zu diesem Zweck wird im Folgenden, nach einer quantitativen Bestandsaufnahme, auf verschiedene qualitative Forschungen zurückgegriffen, die zunächst einen allgemeinen Eindruck über erfahrene Diskriminierung und den Rückzug in die ethnische Community bei türkischstämmige Migranten in Deutschland geben sollen. Im zweiten Teil wird reaktive Ethnizität anhand konkreter Erfahrungen im Rahmen der Kopftuchdebatte explizit gemacht. Qualitative Forschungen eignen sich an dieser Stelle besonders, da sie alltagsnah das Erleben der Betroffenen aufgreifen und durch das Aufdecken von Gemeinsamkeiten in den Schilderungen der Einzelnen im weiteren Forschungsprozess übergreifende Verhaltensmuster der Gruppe aufzeigen können. Die vorliegenden Studien richten ihren Blick dabei primär auf die zweite Generation, sprich die in Deutschland geborenen oder in den ersten Lebensjahren zugezogenen Kindern der Einwanderer. Diese sind von klein auf in der Bundesrepublik sozialisiert worden und weisen – insbesondere durch die Institution Schule – einen intensiveren Bezug zu Deutschland auf (Weiss 2007, 33).
3.1 Von der kurzzeitigen Gastarbeit zur Niederlassung in Deutschland
Vor der Darstellung von Diskriminierungserfahrungen muss darauf hingewiesen werden, dass die Integrationsbemühungen seitens der zugewanderten Türken sowie Anstrengungen zur Einbeziehung durch die aufnehmende Gesellschaft in einem besonderen Kontext stattfinden. Bereits die Bezeichnung als „Gastarbeiter“, wie die durch Anwerbeabkommen für wirtschaftliche Zwecke rekrutierten Männer und Frauen aus dem Ausland genannt werden, macht die Annahme eines temporären Aufenthaltes deutlich. Deutschland als aufnehmendes Land sah in den ausländischen Arbeitskräften eine zeitlich begrenzte Unterstützung der Wirtschaft zu Hochzeiten und erwartete eine Rückkehr der Arbeitnehmer, wenn diese nicht mehr gebraucht würden. Auch die rekrutierten Beschäftigten – oftmals junge, gesunde Frauen und Männer – sahen in ihrem Auslandsaufenthalt die Möglichkeit, schnell gutes Geld zu verdienen, um damit für sich und ihre Familie in der Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Rückkehr war damit beidseitig fester Bestandteil in der Planung der Gastarbeiterschaft (Treibel 2008, 129ff.). Durch die feste Rückkehrorientierung hielten sich insbesondere in der aufnehmenden Gesellschaft die Integrationsbemühungen in Grenzen. Die ausländischen Arbeitnehmer wohnten in Gemeinschaftsunterkünften und passten sich nur partiell und wie es für die Erreichung ihrer Ziele notwendig war, an die Aufnahmegesellschaft an (ebd., 131f.).
[...]
[1] Siehe hierzu z.B.: Spiegel 37/2010: „Das Staatsversagen: Warum Deutschland an der Integration scheiterte.“