Gesellschaften haben viele Probleme zu lösen. Sie müssen den Individuen einer Gesellschaft selbst in Krisenzeiten Halt geben und eine gewisse Ordnung bieten. Ein zentrales Problem ist hierbei die Integration von Gesellschaften. Durch das normative System der Gesellschaft, wird eine Integration erst ermöglicht. Die geteilten Werte und Normen einer Gesellschaft fördern den Zusammenhalt und vermitteln die intermediären Gruppen- und Sozialisationsinstanzen. Wenn die Wahrnehmung dieser sozialen Normen getrübt ist, bzw. eine Verwirrung über diese Normen herrscht, entsteht ein abweichendes Verhalten. Je stärker die Verwirrung über die Normen, desto häufiger tritt ein abweichendes Verhalten auf, welches zum Schluss, als letzter Ausweg, im Selbstmord endet. Der Selbstmord soll jedoch nicht, wie bei vielen anderen Arbeiten, ausschließlich als Problem eingestuft werden. Vielmehr soll er als Indikator betrachtet werden. Als ein Hilfsmittel, die Problematik moderner Gesellschaften aufzudecken und eine mögliche Prävention herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vorliegende Hausarbeit die Frage, welchen Problemen Gesellschaften gegenüberstehen und in wie fern die Untersuchung des Selbstmordes Aufschluss darüber geben kann. Schon Èmile Durkheim war sich um die Indikatorfunktion des Selbstmordes bewusst und beschäftigte sich, nicht zuletzt aufgrund seines ausgeprägten Krisenbewusstseins, mit den Problemen einer Gesellschaft und dessen Verhinderung. Um diesen Problemen nachzugehen, wird als Primärliteratur das Werk „Der Selbstmord“ (1897) von Èmile Durkheim betrachtet.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Gliederung
2. Der Zeitgenössische Kontext
3. Durkheims Vorgehen und seine Intention
4. Außergesellschaftliche Faktoren
5. Selbstmordtypen der Gesellschaften und ihre Form der Integration
5.1 Der egoistische Selbstmord
5.2 Der altruistische Selbstmord
5.3 Der fatalistische Selbstmord
5.4 Der anomische Selbstmord
6. Das gesell. Problem der 'Unordnung' und Durkheims Lösungsansätze
7. Aktualität
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
10. Anhang (Abbildung)
1. Einleitung
Gesellschaften haben viele Probleme zu lösen. Sie müssen den Individuen einer Gesellschaft selbst in Krisenzeiten Halt geben und eine gewisse Ordnung bieten. Ein zentrales Problem ist hierbei die Integration von Gesellschaften. Durch das normative System der Gesellschaft, wird eine Integration erst ermöglicht. Die geteilten Werte und Normen einer Gesellschaft fördern den Zusammenhalt und vermitteln die intermediären Gruppen- und Sozialisationsinstanzen. Wenn die Wahrnehmung dieser sozialen Normen getrübt ist, bzw. eine Verwirrung über diese Normen herrscht, entsteht ein abweichendes Verhalten. Je stärker die Verwirrung über die Normen, desto häufiger tritt ein abweichendes Verhalten auf, welches zum Schluss, als letzter Ausweg, im Selbstmord endet. Der Selbstmord soll jedoch nicht, wie bei vielen anderen Arbeiten, ausschließlich als Problem eingestuft werden. Vielmehr soll er als Indikator betrachtet werden. Als ein Hilfsmittel, die Problematik moderner Gesellschaften aufzudecken und eine mögliche Prävention herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die vorliegende Hausarbeit die Frage, welchen Problemen Gesellschaften gegenüberstehen und in wie fern die Untersuchung des Selbstmordes Aufschluss darüber geben kann. Schon Èmile Durkheim war sich um die Indikatorfunktion des Selbstmordes bewusst und beschäftigte sich, nicht zuletzt aufgrund seines ausgeprägten Krisenbewusstseins, mit den Problemen einer Gesellschaft und dessen Verhinderung. Um diesen Problemen nachzugehen, wird als Primärliteratur das Werk „Der Selbstmord“ (1897) von Èmile Durkheim betrachtet.
1.1 Gliederung
Zu Beginn dieser Arbeit wird die Gesellschaft zu Zeiten Durkheims näher untersucht. Vor diesem Hintergrund sollen die Motive Durkheims, sich mit dem Selbstmord zu beschäftigen, herausgestellt werden. Seine grundsätzlichen Ansichten zu dieser Thematik und auch die zeitgenössischen Daten, auf die er sich stützt werden im Zuge dessen genannt. Zunächst werden die außergesellschaftlichen Faktoren betrachtet und in wie fern diese als Ursachen herangezogen werden können. Darauffolgend werden die einzelnen Selbstmordtypen, nach Durkheim, erklärt und mit Zitaten aus Durkheims Studie illustriert. Im Anschluss werden die Probleme, welche zu einer Unordnung in der Gesellschaft führen, aufgeführt und mögliche Vorschläge, zu dessen Verhinderung, seitens Durkheim, skizziert. Im Anschluss sollen Durkheims Überlegungen in die Gegenwart versetzt werden und überprüft werden, in wie weit sich diese in der heutigen Zeit äußern. Enden wird diese Hausarbeit mit einem Fazit, welches eine Beantwortung der Ausgangsfrage enthält.
2. Der Zeitgenössische Kontext
Émile Durkheim lebte von 1858 bis 1917 in Frankreich. Zum Ende des 19. Jahrhunderts/ Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Unruhen und es herrschte eine Zeit des Umbruchs, was es den vorhandenen Wissenschaften nicht leicht machte, Lösungsansätze für die Krise in der Gesellschaft zu finden. Dieses Krisenbewusstsein, welches Durkheim inne hatte, und die Zeit des Umbruchs führten Durkheim zunächst zu der Frage, wie der Zusammenhalt der Gesellschaft, ihre Ordnung und ihre Integration überhaupt möglich sei (vgl. Kaesler 2005: 185ff.). Die Zeit um die Jahrhundertwende hatte einen eigentümlichen Krisencharakter: die Überreste der alten Welt mussten zuerst beseitigt werden, die neue Welt musste ihre Form und eine neue Ordnung finden, damit das „malaise collectif“1 verschwinden kann (vgl. König 1998: S. 188). Die damalige Gesellschaft befand sich nicht nur in einem Umbruch sondern auch in einem Zustand der moralischen Krise. Im 18. Jahrhundert wurde der Selbstmord zwar als ein rein moralisches Problem gesehen, welcher mit der Zeit dann zunehmend, in der Gesellschaft, auch als soziales Problem wahrgenommen wurde (vgl. Bohnen 2000: S. 43f). Zu dieser Zeit wurde die Selbstmordentwicklung immer häufiger zum Gegenstand gesellschaftsanalytischer Forschungen. Die ansteigende Selbstmordrate wurde in dieser Zeit als „Krankheitssymptom“ gedeutet (vgl. a. a. O., S.44). Dieses „Krankheitssymptom“ wurde Durkheims Forschungsgegenstand in seiner Selbstmordstudie.
3. Durkheims Vorgehen und seine Intention
Die Selbstmordstudie nimmt Bezug auf Durkheims vorheriges Werk „Die Regeln der soziologischen Methode“ (1895). Darin heißt es „Soziales kann nur aus Sozialem erklärt werden“ (vgl. König 1998: S.21). Zunächst sollte also geklärt werden, weswegen Durkheim gerade den Selbstmord als Forschungsgegenstand ausgewählt hat. Ist der Selbstmord als solcher denn etwas Soziales, das sich aus Sozialem erklären lässt? Ist er nicht viel eher als eine Handlung auf individueller Ebene zu verstehen? Folglich müsste der Selbstmord eher in den Bereich der Psychologie fallen. Durkheim grenzt seine Studie jedoch deutlich von der Arbeit eines Psychologen ab. Ihm ist zwar bewusst, dass die Untersuchung des Selbstmordes durchaus Gegenstand der Psychologie sein könnte, eines ist ihm „aber sicher, daß er auch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet werden kann“ (Durkheim 1973: S. 30). Voraussetzung dafür sei aber, so betont Durkheim, dass die Selbstmorde als Gesamtheit und nicht als Einzelphänomene betrachten werden (vgl. a.a.O: S. 30). Hierzu bedient sich Durkheim an offiziellen statistischen Veröffentlichungen europäischer Länder im Zeitraum von 1841 bis 1887 und an sekundären Studien über den Selbstmord. Statistiken enthüllen dabei für Durkheim erst den Charakter des Selbstmordes als soziales Phänomen. Der Selbstmord ist demnach eine Kollektiverscheinung und als diese muss er auch untersucht werden. In diesem Zusammenhang spricht Durkheim von der „sozialen Selbstmordrate“ (a.a.O.: S. 156), welche es zu untersuchen gilt. Er selbst führt keine empirischen Erhebungen durch, sondern nutzt die vorhandenen Statistiken und Studien als Grundlage für seine Selbstmordstudie, welche er mit Anwendung der vergleichenden Methode sowie des indirekten Experiments ausarbeitet. Bei den von Durkheim verwendeten Statistiken wird ersichtlich, dass jede Gesellschaft kollektiv mit einer Tendenz zum Selbstmord belastet ist (vgl. a.a.O.: S. 35). Zum einen wollte Durkheim mit der Selbstmordstudie die Notwendigkeit der Soziologie als Wissenschaft unterstreichen. Zum anderen die Ursachen finden, die „es ermöglichen, nicht auf ein einzelnes Individuum, sondern auf eine Vielzahl von Menschen einzuwirken. Deshalb beschäftigt er [der Soziologe] sich nur mit jenen Selbstmordfaktoren, die einen sichtbaren Einfluß auf die Gesamtgesellschaft haben“ (a.a.O.: S. 37). Nicht nur der Selbstmord soll verhindert werden, schließlich ist er ‘nur‘ ein Symptom. Das bekämpfen von Symptomen heilt die Krankheit als solche nicht. Durkheim möchte vielmehr die sozialen Ursachen für den Selbstmord ausfindig machen und diese verhindern. Um diese Ursachen zu finden geht Durkheim zunächst auf außergesellschaftliche Faktoren ein.
4. Außergesellschaftliche Faktoren
Zunächst betrachtet Durkheim den Zusammenhang von Selbstmord und außergesellschaftlichen Faktoren. Diese Faktoren, die Durkheim untersucht, sind: psychopathische Zustände, psychologisch normale Zustände, Rasse, Erblichkeit, kosmische Faktoren und Nachahmung des Selbstmordes. Hierbei kam er jedoch zu dem Schluss, dass diese Faktoren die Selbstmordrate nicht erklären oder gar begründen können. Jede soziale Gruppe hat, nach Durkheim, eine eigene spezifische Tendenz zum Selbstmord (vgl. Durkheim 1973: S. 153).
Faktoren wie Familienkummer, physischer Schmerz, Reue oder Trunkenheit, welche in der damaligen Zeit einen großen Einfluss auf die Selbstmordforschung und die Ursachenfindung hatten, können nicht als wirkliche Ursachen herangezogen werden. Bewiesen hat Durkheim es „dadurch, daß die relative Zahl der Fälle, denen die Statistik diese angenommenen Ursachen unterschiebt, fast immer gleichbleibt, während die absoluten Zahlen dagegen beträchtlich schwanken“ (a.a.O.: S. 158). Die tatsächlichen Ursachen müssen demnach von einem allgemeinen Zustand der Gesellschaft abhängen. Der Selbstmord wird also durch soziale Ursachen erklärt. Im Zuge dessen untersucht Durkheim die sozialen Milieus, in denen die Selbstmörder leben, womit er eine Klassifizierung von vier verschiedenen Selbstmordtypen aufstellt. Diese werden im Folgenden näher erläutert.
5. Selbstmordtypen der Gesellschaften und ihre Form der Integration
5.1 Der egoistische Selbstmord
Einer dieser vier Selbstmordtypen ist der egoistische Selbstmordtyp. Bei diesem fehlt es dem Individuum an Kollektivbewusstsein und Integration. Durkheim beschreibt den Zustand als „Zustand, in dem das individuelle Ich sich mit Erfolg gegenüber dem sozialen Ich und auf Kosten desselben behauptet“ (a.a.O.: S. 232). Das Individuum erfährt eine übermäßige Vereinzelung und es mangelt an moralischer Unterstützung, die es normalerweise über den Austausch von Erfahrungen innerhalb einer Gemeinschaft erhält (vgl. a.a.O.: S. 232). Eine zu schwache Bindung zu Gruppen führt zu einer Entfremdung des Individuums, womit es dem Schutz der Gemeinschaft entgeht und die Gesellschaft keine Kontrolle mehr auf das Individuum ausüben kann. Hierbei ist die Anzahl der Frauen meist deutlich geringer als die Anzahl der Männer, welche sich umbringen. Dies führt Durkheim darauf zurück, dass Frauen ein instinktiveres Verhalten haben. Dieser Selbstmordtyp ist in modernen und individualistischen Gesellschaften weit verbreitet. Vor diesem Hintergrund zieht Durkheim den Vergleich zwischen Protestanten und Katholiken. Protestanten begehen häufiger Selbstmord als Anhänger anderer Konfessionen. „So stellen also überall ohne jede Ausnahme die Protestanten mehr Selbstmörder als die Gläubigen anderer Religionen“ (a.a.O.: S. 165). Dieses Phänomen begründet Durkheim mit der Tatsache, dass die protestantischen Kirchen eine geringere Integrationskraft und einen höheren Bildungsgrad aufweisen, der sie zwingt ihren Weg zu Gott weitgehend alleine zu finden (vgl. Kaesler, Vogt 2007: S. 104). Diese geringe soziale Kontrolle führt zur Desintegration und deshalb auch zu höheren Selbstmordraten. Besonders im Judentum oder auch im katholischen Glauben erfährt das Individuum durch die Gemeinschaft einen stärkeren Zusammenhalt und ein höheres Maß an Kontrolle.
5.2 Der altruistische Selbstmord
Der altruistische Selbstmord ist konträr zu dem egoistischen Selbstmord. Bei dem egoistischen Selbstmord zählt das Ich, wohingegen im Altruismus nur das Kollektiv zählt. „Wenn der Mensch aus der Gesellschaft herausgelöst wird, begeht er leicht Selbstmord. Das tut er auch, wenn er zu sehr in sie verstrickt ist“ (Durkheim 1973: S. 242). Eine zu geringe, aber auch eine zu ausgeprägte Individualität kann folglich zu einem Selbstmord führen. Bei dem altruistischen Selbstmord tötet sich das Individuum nicht aus egoistischen Gründen, sondern es fühlt sich durch gegebene Umstände dazu verpflichtet. Der Selbstmord wird also als Opfer für die Gesellschaft begangen, über die sich das Individuum definiert (vgl. a. a. O.: S. 244). Diese Art des Selbstmordes ist jedoch überwiegend in „primitiven“2 Völkern zu finden und einer archaischen "Kollektivpersönlichkeit" (vgl. a. a. O.: S.255). Unterschieden wird, bei diesem Selbstmordtyp, zwischen drei Kategorien; Selbstmorde begangen von Menschen, die entweder sehr alt oder krank sind, Selbstmorde von Frauen, die durch den Tod des Mannes bewegt sind und zuletzt Selbstmorde, welche durch Diener begangen werden, deren Herren gestorben sind (vgl. a.a.O.: S. 244). Durkheim unterteilt den altruistischen Selbstmord in drei Gattungen; dem obligatorischen altruistischen Selbstmord, indem die Gesellschaft auf das Individuum Druck ausübt damit sie sich umzubringen, dem fakultativem altruistischen Selbstmord, bei dem es als achtenswert gilt Selbstmord zu begehen und dem überspitzten altruistischen Selbstmord, indem sich das Individuum versucht seines irdischen Seins zu entledigen, da er dieses als Qual empfindet (vgl. a.a.O.: S. 255). In moderneren Gesellschaften ist der altruistische Selbstmord besonders im Militär verstärkt anzutreffen (vgl. a.a.O.: S. 256). Überwiegend aufgrund von Überidentifikation mit den kollektivistischen Idealen. Soldaten nehmen sich in dieser Hinsicht häufiger das Leben als Offiziere, da diese sich ihrem eigenen Wert bewusster sind (vgl. a.a.O.: S. 264). In anderen Bereichen von modernen Gesellschaften hingegen, ist diese Art des Selbstmordes eher seltener anzutreffen.
5.3 Der fatalistische Selbstmord
Der fatalistische Selbstmord ist motiviert dadurch, dass das Individuum sich selbst einer unvermeidlich trostlosen Zukunft gegenüber sieht, welche keinen anderen Ausweg mehr bietet. Diese Ausweglosigkeit entsteht durch die übermäßige Kontrolle, also einer Überreglementierung der Gesellschaft. „Selbstmord derjenigen, denen die Zukunft mitleidlos vermauert wird, deren Triebleben durch eine bedrückende Disziplin gewaltsam erstickt wird. Es ist der Selbstmord der zu jungen Eheleute, der Selbstmord der kinderlos verheirateten Frau“ (Durkheim 1973: S. 318). Dieser Typus wird jedoch nur kurz in einer Fußnote angeführt, da Durkheim diesem Selbstmordtyp nur wenig Bedeutung für die Gegenwart zuschreibt.
5.4 Der anomische Selbstmord
Dem anomischen Selbstmord, welcher konträr zu dem fatalistischen Selbstmord ist, kommt eine große Bedeutung zu. Er kennzeichnet die Ursache von einem zentralen Zustand in modernen Gesellschaften, die Anomie. Die Anomie ist der Zustand einer gestörten Ordnung in einer Gesellschaft. In diesem Zustand herrscht ein Mangel an gesellschaftlichen Regeln innerhalb einer Gesellschaft, welcher die Individuen zunehmend verwirrt. Durch diese Regellosigkeit nimmt der Lebenswille der Individuen ab und das Frustrationspotential wie auch die Selbstmordrate steigen. Durkheim nahm zunächst an, es gäbe einen beobachtbaren Zusammenhang zwischen der Selbstmordrate und den Wirtschaftskrisen, da jedoch die Selbstmorde nicht nur in Zeiten von Krisen besonders hoch waren, sondern auch während der Hochkonjunktur, suchte Durkheim einen neuen Ansatz. Dies führte Durkheim zu der Betrachtung der Bedürfnisse eines Menschen (vgl. a.a.O.: S. 285). Die Bedürfnisse der Menschen und die verfügbaren Mittel zu ihrer Befriedigung sollten bestenfalls im Gleichgewicht stehen, denn desto stärker das Gleichgewicht erschüttert wird, desto höher ist auch die anomische Selbstmordrate.
„Niemand kann sich wohlfühlen, ja überhaupt nur leben, wenn seine Bedürfnisse nicht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln einigermaßen im Einklang stehen […]. Ein Bedürfnis aber, das nur unter Leiden befriedigt werden kann, wird kaum neu entstehen. Ein Drang, der niemals befriedigt wird, muß schließlich verkümmern, und da der Drang zu leben sich notwendig aus allen anderen Bedürfnissen ergibt, muss auch er schwächer werden, wenn die anderen nachlassen“ (Durkheim 1973: S. 279).
Die Bedürfnisse verkümmern mit der Zeit, wenn sie nicht befriedigt werden. Wenn hingegen bei einer Hochkonjunktur bessere Lebensverhältnisse vorherrschen steigen auch die Bedürfnisse, die dann umso schwerer zu befriedigen sind, stetig an. Dies führt dazu, dass sich trotz guter Verhältnisse keine Befriedigung einstellen kann und althergebrachte Regeln ihre Autorität verlieren (vgl. a.a.O.: S. 289). In dem Fall verlieren die Individuen den Blick auf die wirklich nötigen Bedürfnisse.
„In diesem Sinne erleiden sie einen Identitätsverlust per Entgrenzung; es fehlt an normativer und kognitiver Orientierung: ein Mangel, der die “Leidenschaften“ (wieder) ansteigen lässt und die Neigung sowohl zur Selbsttötung als auch zur Anwendung von Gewalt gegen andere erhöht“ (Thome/Birkel 2008: S. 36).
[...]
1 „kollektives Unwohlsein“
2 Im Original „sociétés inférieures“ – (niedere Gesellschaften)