Der Surrealismus steht wie keine andere Bewegung für die Sehnsucht nach Freiheit. Es ging darum, alte Fesseln abzulegen und zu neuen Ufern aufzubrechen - sowohl im gesellschaftlichen Sinne als auch in dem der Ästhetik und des Denkens. In der Literatur versuchte man, nie dagewesene Formen und Methoden zu finden, man wollte das Unterbewusstsein sprechen lassen und die Imagination wieder zum Leben erwecken. Der Vernunft und dem Verstand schwor man ab, ihnen stellte man Traum, Zufall und Wahnsinn entgegen. Nichts war den Surrealisten zu schade, um nur ein bisschen Überraschung und Unordnung in die Wirklichkeit zu bringen. Doch wie weit ist es überhaupt möglich, solche Motive in der Literatur umzusetzen? Wie weit ist es möglich, einem Text, der unter Aufgabe jeglicher Kontrolle des Verstandes verfasst wurde, eine Intention einzuverleiben?
Dieser Fragestellung soll sich die nachfolgende Arbeit widmen. Dazu werden erst einmal der Surrealismus und seine Motive anhand des ersten Manifestes und anderer Werke der Surrealisten selbst herausgearbeitet. Darauf aufbauend wird dann explizit auf die surrealistische Literatur und weiter auf die Umsetzung der Motive in der Literatur und die dabei auftretenden Schwierigkeiten eingegangen. Die schließlich folgende Analyse von Bretons Werk "Löslicher Fisch" orientiert sich an Marcel Angenots Dissertation "Rhétorique du surréalisme" und zeigt noch einmal im Speziellen, in welcher Form sich die Ziele der Surrealisten in ihrer Literatur wiederspiegeln. Das abschließende Fazit widmet sich dann der Beantwortung der Fragestellung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Surrealismus
a. Historische Einordnung
b. Die Surrealität und das Wunderbare
3. Literatur des Surrealismus und ihre Ziele
a. Wunderbare Bilder
b. Ziele der surrealistischen Literatur
4. Die automatische Niederschrift oder „écriture automatique“
a. Entstehung
b. Analyse
5. „Löslicher Fisch“ („poisson suluble“)
a. Desorientierung der Sprache
b. Bilder
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Surrealismus steht wie keine andere Bewegung für die Sehnsucht nach Freiheit. Es ging darum alte Fesseln abzulegen und zu neuen Ufern aufzubrechen- sowohl im gesellschaftlichen Sinne, als auch in dem der Ästhetik und des Denkens.1 In der Literatur versuchte man nie dagewesene Formen und Methoden zu finden, man wollte das Unterbewusstsein sprechen lassen und die Imagination wieder zum Leben erwecken.2 Der Vernunft und dem Verstand schwor man ab3, ihnen stellte man Traum4, Zufall5 und Wahnsinn6 entgegen. Nichts war den Surrealisten zu schade um nur ein bisschen Überraschung und Unordnung in die Wirklichkeit zu bringen7. Doch wie weit ist es überhaupt möglich solche Motive in der Literatur umzusetzen? Wie weit ist es möglich einem Text, der unter Aufgabe jeglicher Kontrolle des Verstandes verfasst wurde, eine Intention einzuverleiben?
Dieser Fragestellung soll sich die nachfolgende Arbeit widmen. Dazu werden erst einmal der Surrealismus und seine Motive anhand des ersten Manifestes und anderer Werke der Surrealisten selbst herausgearbeitet. Darauf aufbauend wird dann explizit auf die surrealistische Literatur und weiter auf die Umsetzung der Motive in der Literatur und die dabei auftretenden Schwierigkeiten eingegangen. Die schließlich folgende Analyse von Bretons Werk Löslicher Fisch orientiert sich an Marcel Angenots Dissertation Rhétorique du surréalisme und zeigt noch einmal im Speziellen in welcher Form sich die Ziele der Surrealisten in ihrer Literatur wiederspiegeln. Das abschließende Fazit widmet sich dann der Beantwortung der Fragestellung.
2. Der Surrealismus
a. Historische Einordnung
Der erste Weltkrieg hinterließ bei den Menschen eine tiefgreifende Unzufriedenheit.8 „Alles schien in Frage gestellt: die Autorität des Staates […], die Moral des Bürgertums, […], selbst die Integrität eines beträchtlichen Teils der Intellektuellen“.9 Man wollte sich nicht mehr „mit einer Welt ab[…]finden, die diesen Krieg möglich gemacht hatte“10 und forderte radikales Umdenken.11 Aus dieser Missstimmung heraus entstanden in Europa, vor allem in Frankreich, verschiedene Strömungen, zu denen auch der Dadaismus und der Surrealismus gehörten.12 Zwar waren beide Gruppen für ihre abwertende Haltung gegenüber der allgemeinen Situation bekannt, jedoch zeigte sich spätestens 1922, wie unterschiedlich eigentlich die Vorstellungen und Ansprüche waren.13 Während es die Dadaisten bei provokanten Aussagen und der ironischen Untergrabung bürgerlicher Werte beließen14, versuchten die Surrealisten mithilfe „skandalös[er], […], zuweilen politische[r], […], öffentlich wirksame[r] Intervention[en]“15 das Denken der Menschen zu revolutionieren.16 „Beißend [und] aggressiv“17 stellte man sowohl den Umgang mit Sexualität, Geisteskrankheit und Glauben, als auch den Sinn der Kunst und Literatur in Frage.18
Einer der bedeutendsten Verfechter dieser Ansicht war André Breton.19 Zusammen mit seinen Freunden Louis Aragon und Philippe Soupault gründete er Anfang 1919 die Zeitschrift „Littérature“.20 Schon im Herbst erschien darin das erste surrealistische Werk Les Champs magnétique, das auch gleichzeitig Bretons ersten Erfahrungen mit dem automatischen Schreiben, der wichtigsten Darstellungsmethode des Surrealismus, wiederspiegelte21
Nach einigen gemeinsamen Projekten mit den Dadaisten trennten sich die Gruppen 1922 aufgrund diverser Meinungsverschiedenheiten.22 Zudem stießen zwei weitere wichtige Mitglieder zu der Gruppe um Breton: René Crevel und Robert Desnos.23 Durch den Eintritt der beiden in „die Littérature-Gruppe“24 begann für die Surrealisten die „Époche de sommeils“25.26 In dieser Phase widmeten sich die Surrealisten wieder verstärkt der Produktion von Texten, die vor allem auf der Grundlage des automatischen Schreibens basierten.27 Mit Bretons erstem Manifeste du surréalisme 1924 „war die surrealistische Bewegung […] begründet“28 und die Gruppe konzentrierte sich verstärkt auf die Politik.29 Man schloss sich 1925, nach einigen Diskussionen, den Kommunisten im Widerstand gegen einen erneuten Krieg an.30 Trotzdem hörten die Debatten um die politische Zugehörigkeit des Surrealismus nicht auf, weil man die surrealistischen Werte einfach nicht mit politischen Zielen vereinen konnte.31 Die Auseinandersetzungen verschärfte sich, da die politische Lage in Frankreich immer kritischer wurde und eine klare politische Zugehörigkeit forderte.32 Spätestens mit dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich im Jahre 1940 zerschlug sich die Gruppe, sowohl geografisch, als auch politisch.33 Den Surrealismus in seiner alten Form gab es jetzt nicht mehr.34
b. Die Surrealität und das Wunderbare
Da Logik und Verstand sich bisher nicht bewährt hatten, rückten sie für die Surrealisten vorerst in den Hintergrund.35 Stattdessen konzentrierte man sich auf Imagination, Wahnsinn, Träume und das Wunderbare.36 Wie der Name „Surrealismus“ schon vermuten lässt, glaubte man an „eine[…] Art Überrealität“37, welche sich aus einer Verschmelzung von Wunderbarem und Realität ergeben sollte.38 Hauptziel des Surrealismus war es diese absolute Realität zu erlangen, indem man die Grenzen zwischen „Objektivität und Subjektivität“39, zwischen „Außen- und Innenwelt“40 aufhob.41 Jedoch gestand sich Breton schon in seinem ersten Manifest ein, dass dieser surrealistische Endzustand höchstwahrscheinlich nie erreicht werden würde.42
Trotzdem begab man sich alltäglich auf die Suche43 nach dem Moment, in dem sich die Wirklichkeit mit dem Wunderbaren kreuzte, der Surrealität.44 Anders als in der Theologie definierte sich das surrealistische Wunderbare nicht als etwas Übernatürliches45, sondern wurde als eine Seite der Realität46 gesehen, die jedoch versteckt lag.47 Nur wenn man die Wirklichkeit in „ein[em] surrealistische[…][n] Licht“48 betrachtete, also offen für die Erfahrung der Surrealität war und in der Lage war die Wirklichkeit aus einer gewissen Distanz zu betrachten49, würde man das Wunderbare auch erleben.50 Sei es „in den Gewölben der Metro, wo die goldenen Pferde der Schokoladenmarke Poulain ausreiten““51 oder „in der Avenue der l’Opera bei Barclay […], wenn sich die Krawatten in Trugbilder verwandel[te]n“52. Das Wunderbare durchzog in Form von „unerwartete[r] Unordnung, [als] […] überraschende Verschiebung der Proportionen“53 und als Erfahrung von Freiheit54 die Wirklichkeit.55 Folglich war es also nicht die Abkehr von der Realität, die die Surrealisten forderten, sondern lediglich ein besseres Verständnis und eine kritischere Betrachtungsweise dieser.56
Inspiriert von Freud widmen sich die Surrealisten zudem verstärkt dem Unterbewusstsein des Menschen.57 Sie waren der Meinung, dass ein „beträchtlicher Teil der psychischen Tätigkeit“58 von Verstand und Logik unterdrückt würde59 und forderten mehr Freiheit für den Geist.60 Aufgrund dieser Annahme wurde es zur größten Aufgabe der surrealistischen Bewegung einen ungefilterten Zugang zum menschlichen Unterbewusstsein zu erlangen. Diese Überlegungen bildeten auch die Grundlage für Bretons endgültige Definition des Surrealismus in seinem ersten Manifest. Diesen beschreibt er nämlich in erster Linie weniger als revolutionäre Bewegung, sondern als „rein[…] psychische]…][n] Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Art und Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht“61 sozusagen ein „Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegungen.“62 Weiter führt er „de[…][n] Glauben an […] vernachlässigte[r] Assoziationsformen“63 und „die Allmacht des Traumes“64 als grundlegende Bestandteile des surrealistischen Denkens an.
Das Ziel, auf welches all diese Überlegungen der Surrealisten hinausliefen, war eine „geistige Revolution“65.66 „Geistig“ deshalb, weil man weniger darauf abzielte die sichtbaren Verhältnisse zu ändern, sondern durch Bewusstseinskrisen an das Denken der Menschen herankommen wollte.67 Man wollte, indem man „die Beziehungen der Realitäten untereinander umstürzte, […] zur Beschleunigung der allgemeinen Gewissens- und Bewusstseinskrise […] beisteuern.“68
3. Literatur des Surrealismus und ihre Ziele
a. Wunderbare Bilder
Die Sehnsucht nach der Erfahrung des Wunderbaren machte auch vor der Literatur nicht halt. Werke genügten erst dann den surrealistischen Ansprüchen, wenn sie dem Leser diese ermöglichten69, weshalb man nach Methoden suchen musste, um das Wunderbare an das Wort zu binden.
Die Einheiten, durch die den Menschen das Wunderbare erfahrbar gemacht werden sollte, wurden Bilder genannt.70 Je mehr und je stärkere Bilder der Künstler demnach verwendete, desto wirkungsvoller wurde der Text in den Augen der Surrealisten. Eindrucksvolle Bilder konnte man schaffen indem man Wörter71 „aus ihrem ursprünglichen Kontext und […] Bedeutungshorizont herauslöst[e]“72 und sie dann überraschend neu kombinierte. Dabei konnte man entweder mit kontrastierender Kombinatorik73 oder mit eigentümlichen Metamorphosen74 arbeiten. Die ungewöhnlichen Verbindungen, die so entstanden, erschufen im Kopfe des Betrachters unwillentlich fremdartige, überraschende Imaginationen: die Bilder.75 Als Schnittstelle von Sichtbarem und Imaginärem76, von Wunderbarem und Wirklichem, war das Bild somit der Inbegriff der literarischen Surrealität.
[...]
1 Vgl. Breton, André: Die Manifeste der Surrealismus, Hamburg 1986, S. 64.
2 Vgl. ebd., S. 24.
3 Vgl. ebd., S. 26.
4 Vgl. ebd., S. 27.
5 Vgl. ebd., S. 29.
6 Vgl. ebd., S. 41.
7 Vgl. Aragon: Malerei, S. 624.
8 Vgl. Schneede: Uwe M.: Die Kunst der Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film, München 2006, S. 19.
9 Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 19.
10 Ebd., S. 19.
11 Vgl. ebd., S. 52.
12 Vgl. Hilke, Manfred: L’écriture automatique- Das Verhältnis von Surrealismus und Parapsychologie in der Lyrik von André Breton, Frankfurt am Main 2002, S. 57.
13 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 22.
14 Vgl. ebd., S. 22.
15 Ebd., S. 64.
16 Vgl. ebd., S. 64.
17 Ebd., S. 64.
18 Vgl. ebd., S. 64.
19 Vgl. ebd., S. 19.
20 Vgl. ebd., S. 20.
21 Vgl. ebd., S. 215.
22 Vgl. ebd., S. 217.
23 Vgl. Hilke: Lyrik von André Breton, S. 64.
24 Ebd., S. 64.
25 Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 23.
26 Vgl. Hilke: Lyrik von André Breton, S. 64.
27 Vgl. Hilke: Lyrik des André Breton, S. 64.
28 Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 76.
29 Vgl. ebd., S. 76.
30 Vgl. ebd., S. 77.
31 Vgl. ebd., S. 77.
32 Vgl. ebd., S. 80.
33 Vgl. ebd. , S. 80.
34 Vgl. ebd., S. 81.
35 Vgl. ebd., S. 44.
36 Vgl. ebd., S. 41.
37 Ebd., S. 41.
38 Vgl. Aragon, Louis: „Die Malerei auf dem Prüfstand“, in: Surrealismus in Paris 1919-1939, hrsg. v. Karlheinz Barck, Leipzig 1990, S. 624.
39 Breton, André [u.a.]: „Interview“, in: Surrealismus in Paris 1919-1939, hrsg. v. Karlheinz Barck, Leipzig 1990, S. 674.
40 Ernst, Max: „Was ist Surrealismus“, in: Als die Surrealisten noch recht hatten, hrsg. v. Günter Metken, Stuttgart 1976, S. 325.
41 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 53.
42 Breton: Manifest, S. 18.
43 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 48.
44 Vgl. Aragon: Die Malerei, S. 624.
45 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 48.
46 Vgl. Ebd., S. 48.
47 Vgl. Aragon, Louis: „Eine Traumwoge“, in: Surrealismus in Pars 1919-1939, hrsg. v. Karlheinz Barck, Leipzig 1990, S. 76.
48 Ebd., S. 76.
49 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 48.
50 Vgl. ebd., S. 53.
51 Aragon: Traumwoge, S. 76.
52 Ebd., S. 76.
53 Aragon: Malerei, S. 624.
54 Vgl. Aragon: Traumwoge, S. 73.
55 Argon: Malerei, S. 622.
56 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 52f.
57 Vgl. Breton: Manifest, S. 16.
58 Ebd., S. 16.
59 Vgl. ebd., S. 15.
60 Vgl. ebd., S. 15.
61 Breton: Manifest, S. 26.
62 Ebd., S. 26.
63 Ebd., S. 27.
64 Ebd., S. 27.
65 Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 51.
66 Vgl. ebd., S. 51.
67 Vgl. ebd., S. 52.
68 Ernst: Was ist Surrealismus, S. 352.
69 Vgl. Breton: Manifest, S. 18.
70 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 48.
71 Vgl. ebd., S. 142f.
72 Ebd., S. 144.
73 Vgl. ebd., S. 142.
74 Vgl. ebd., S. 144.
75 Vgl. Schneede: Kunst des Surrealismus, S. 142f.
76 Vgl. ebd., S. 143.