Diese Arbeit geht der Frage nach inwieweit die Brüder Grimm durch ihre wissenschaftliche Arbeit und ihre Veröffentlichungen einen elementaren Beitrag zur kulturellen Identität des deutschen Volkes geleistet haben und welcher Motivation sie dabei folgten.
Durch die fortschreitende Urbanisierung und dem damit einhergehenden Herausbilden eines Bildungsbürgertums, stieg die Angst des Aussterbens der Erzähltradition im 19. Jahrhundert. Dieses Verlangen erkannten die Grimms und wussten es zu bedienen. Dabei konnten sich die beiden Brüder nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern auch politisch Gehör verschaffen und feierten einen märchenhaften Erfolg.
Werden sie zum einen als Revolutionäre bezeichnet, welche den Grundstein der germanistischen Literaturwissenschaft legten und mit ihrem literarischen Schaffen das Volk in Zeiten des politischen Umbruchs einten, gelten sie gleichzeitig immer wieder als Schwindler, die ihre Märchen nicht durchs Land ziehend vom niederen Volk sammelten, sondern schlichtweg kopierten und später weiter den Ansprüchen und Gegebenheiten der Gesellschaft anpassten.
Deshalb soll im Folgenden zunächst das Zeitalter der Romantik näher beleuchtet werden, um mit dem Wissen über die vorherrschende politische Situation und Literatur der Zeit im Anschluss das Leben der Gebrüder Grimm und ihr Schaffen zu untersuchen. Es sollen dabei das Vorgehen und die Methoden der Gebrüder, entsprechend der Leitfrage dieser Arbeit, kritisch hinterfragt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Das Zeitalter der Romantik
1.1. Die Phasen der Romantik
1.2. Das politische Geschehen der Zeit
1.3. Die Literatur der Romantik
1.4. Der nationale Volksgeist
2. Das Leben der Gebrüder Grimm
2.1. Das literaturwissenschaftliche Schaffen der Gebrüder Grimm und ihr Beitrag zur kulturellen Identität des deutschen Volkes
2.2. Grundsätze zur Gestaltung der Märchen
3. Die Phantasie vom Volk
4. Fazit
Literatur
Einleitung
ÄMärchen gelten vorrangig als ein Erbe, das aus einem gemeinsamen geis- tigen Besitz, dem grundlegenden Mythos eines ursprünglich einheitlichem ± indogermanischen ± ,Volksstammes`, für das deutsche Märchen überliefert ist.³1 Dies ist ein Zitat der Gebrüder Grimm, welche mit ihrem Schaffen das Alte bewahren wollten und dabei Neuem den Weg bahnten. Es war im frü- hen 19. Jahrhundert, in der Epoche der Romantik, in der das deutsche Volk sich durch die Bedrohung Napoleons gerne auf das nationale Gut besann und alte Märchen und Sagen halfen, aus dem tristen Alltag in das Mystisch- magische zu entfliehen. Durch die fortschreitende Urbanisierung und dem damit einhergehenden Herausbilden eines Bildungsbürgertums, stieg die Angst des Aussterbens der Erzähltradition. Dieses Verlangen erkannten die Grimms und wussten es zu bedienen. Dabei konnten sich die beiden Brü- der nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern auch politisch Gehör verschaffen und feierten einen märchenhaften Erfolg. Ihre Intention dabei, so betonten sie wiederholt, sei die Sorge um das Verlorengehen der Ver- gangenheit. In dieser Arbeit soll untersucht werden inwieweit die Gebrüder Grimm durch ihre wissenschaftliche Arbeit und ihre Veröffentlichungen ei- nen elementaren Beitrag zur kulturellen Identität des deutschen Volkes ge- leistet haben und welcher Motivation sie dabei folgten. Werden sie zum einen als Revolutionäre bezeichnet, welche den Grundstein der germanisti- schen Literaturwissenschaft legten und mit ihrem literarischen Schaffen das Volk in Zeiten des politischen Umbruchs einten, gelten sie gleichzeitig im- mer wieder als Schwindler, die ihre Märchen nicht durchs Land ziehend vom niederen Volk sammelten, sondern schlichtweg kopierten und später weiter den Ansprüchen und Gegebenheiten der Gesellschaft anpassten. Dafür soll im Folgenden zunächst das Zeitalter der Romantik näher be- leuchtet werden, um mit dem Wissen über die vorherrschende politische Situation und Literatur der Zeit im Anschluss das Leben der Gebrüder Grimm und ihr Schaffen zu untersuchen. Es sollen dabei das Vorgehen und die Methoden der Gebrüder, entsprechend der Leitfrage dieser Arbeit, kri- tisch hinterfragt werden.
1. Das Zeitalter der Romantik
Im Folgenden soll zuerst die Epoche der Romantik kurz beschrieben wer- den, bevor das politische Geschehen zu Lebzeiten der Gebrüder Grimm sowie der sich daraus entwickelnde Einfluss auf die Literatur der Romantik und den Volksgeist der Bürger dargestellt werden.
1.1. Die Phasen der Romantik
Die Bewegung der Romantik existierte von etwa 1793 bis 1830, späte Aus- läufer mit eingeschlossen noch bis etwa 1850, in ganz Europa, in Deutsch- land etwa von 1793 bis 1830.2 Dieser Zeitraum lässt sich in drei Phasen gliedern, die Frühromantik (etwa 1793 bis 1804), die Hochromantik (etwa 1804 bis 1816) und die Spätromantik (etwa 1816 bis 1830), wobei sich die- se Phasen nicht klar voneinander abgrenzen lassen.3 Das Agieren der Brü- der Grimm lässt sich der späten Hoch- und der Spätromantik zuordnen.
Die ersten literarischen Werke der Frühromantik lassen sich bereits ab 1789 finden, allerdings noch sehr zögerlich und hauptsächlich von dem ge- rade mal zwanzigjährigen Tieck. Seine Texte lassen zwar schon erste An- zeichen des Phantastischen und Wundersamen zu, weisen aber zu dieser Zeit noch deutliche Spuren der spätaufklärerischen Unterhaltungsliteratur auf.4
Kennzeichnend für die Phase der Hochromantik ist die Heidelberger Grup- pe, die zwischen 1805 und 1808 in Heidelberg existierte und später an- dernorts fortwirkte. Sie war durch eine historisch-philologische Ausrichtung geprägt, beispielsweise zu erkennen in der Volksliedsammlung Arnims und Brentanos Des Knaben Wunderhorn (1805/06; 1808) oder in den ersten Auflagen der Kinder- und Hausmärchen (1812/15) der Gebrüder Grimm.5
Neben den Gebrüdern Grimm, gilt auch E.T.A. Hoffmann als eine Haupt- vertreterin der Spätromantik, welche auch als Schwarze Romantik bezeich- net wird. Werke wie ÄDer unheimliche Gast³, ÄVampirismus³ (1819/1821), Die Geheimnisse³ (1821) oder ÄDer Elementargeist³ (1821) lassen ihre Zugehörigkeit zur Schwarzen Romantik bereits im Titel erkennen. Diese zeichnete sich unter anderem durch die Faszination für das Böse, das Düs- tere, das Unerklärliche, das Abgründige der Seele und die dunklen Seiten des menschlichen Daseins aus.6
1.2. Das politische Geschehen der Zeit
Die Französische Revolution, die sich über den Zeitraum von 1789 bis 1799 erstreckte, war die Folge einer Wirtschaftskrise, welche das soziale Gleichgewicht störte, viele Menschen existentiell bedrohte und auf politi- scher Ebene zu Ratlosigkeit führte.7 Im Zuge der Revolution kam es zu ei- ner gesellschaftlichen und politischen Neugestaltung Frankreichs, welche sich auf den damaligen deutschen Verbund (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) auswirkte und unter anderem auch einen Teil zu seiner Auflösung im Jahr 1806 beitrug. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Vorrede 1812 gab es demnach keinen deutschen Kaiser mehr, mehrere deutsche Staaten waren dem Rheinbund beigetreten und schlossen einen Bund mit Napoleon. Dies führte wiederum zu vielen Änderungen auf deut- scher Seite, unter anderem war auch die katholische Kirche von den Aus- wirkungen der Revolution betroffen und wurde langsam zurückgedrängt, die Expansion Frankreichs war 1812, zur Veröffentlichung der ersten Aufla- ge der Kinder- und Hausmärchen, noch nicht beendet.8
1.3. Die Literatur der Romantik
Durch die Revolution erlebten Wort und Rede eine gesellschaftliche Auf- wertung und gewannen an Bedeutung, das Bürgertum entwickelt sich in Folge dessen zu einem ÄKaufpublikum³, was den Schriftsteller allerdings abhängig vom Markt werden lies. Die Kunst und Literatur reflektieren dabei die gesellschaftliche Identität.9 Die inhaltlichen Tendenzen der Romantik waren emanzipatorische, konservative und kosmopolitische Haltungen und Liberalismus. Die Urbanisierung sowie die Beschleunigung und Entwick- lungsprozesse in Wirtschaft, Technik und Politik wurden von vielen Bürgern mit Skepsis betrachtet. Im Volk begann eine Verklärung der Vergangenheit als Folge dieser Entwicklung.10 Diese Sehnsucht zeitloser Gegenwärtigkeit drückt sich unter anderem in der Sammlungstätigkeit der Gebrüder Grimm aus, Überliefertes zu sichten und zu dokumentieren.
1.4. Der nationale Volksgeist
Durch die Besinnung auf alte Werte und Traditionen schufen die Gebrüder Grimm mit der Schöpfung der Volksmärchen eine Vorstellung vom Volks- geist bei den Bürgern unterer sozialer Schichten. Der Volksbegriff erlebt eine Aufwertung und ein wachsender Nationalgeist drückte sich in Sprache, Mythos und Volkspoesie aus.11 Als Folge dessen stießen die authentisch wirkenden Werke als Wiedergabe von vermeintlich aus dem Volk stam- menden Geschichten auf großes Kaufinteresse.
2. Das Leben der Gebrüder Grimm
Die Gebrüder Grimm, Jacob (geb. 1785 ± gest. 1863) und Wilhelm (geb. 1786 ± gest. 1859) wuchsen mit drei Brüdern und einer Schwester in einer hessischen Beamten- und Pastorenfamilie auf. Ihr Vater starb bereits 1796 und Jacob wurde bereits mit elf Jahren die Rolle als Familienoberhaupt zu- teil. Finanzielle Unterstützung erhielt die Familie von einer wohlhabenden Tante. Nach ihrem Abitur begannen die beiden Brüder, so wie es vom Va- ter vor seinem Tod bestimmt wurde, in Marburg Jura zu studieren. Wilhelm schloss das Studium ab, Jacob dagegen nicht. In dieser Zeit wirkte der Ein- fluss ihres Professors Friedrich Carl von Savigny ab 1803 prägend auf bei- de Brüder, sowohl in der wissenschaftlichen Arbeit, als auch durch gesell- schaftliche Kontakte. 1803 reiste Jacob Grimm auf Einladung von Savigny nach Paris um ihn beim Quellenstudium zu unterstützen. Die Trennung war für beide Brüder so unerträglich, dass sie daraufhin beschlossen ihr Leben lang zusammen zu leben und zu arbeiten. Die Brüder wurden daraufhin in die Künstler- und Wissenschaftlergruppe ÄHeidelberger Romantiker³ aufge- nommen. Diese Gruppierung zählt als die Wortführer der literarischen Romantik in Deutschland. Durch das Zusammentragen von Volksbüchern und das Studium der Pariser Minnesängerhandschrift durch Jacob Grimm, fanden die Brüder ab 1805 ihre Sammelleidenschaft und lebten diese bis etwa 1815 aus. 12 Zu Beginn trugen sie ab 1805 in Zusammenarbeit mit Achim von Arnim und Clemens Brentano, für deren Liedersammlung, viele Geschichten zusammen. Als diese ihre Geschichten aber nicht verwende- ten, planten die Brüder als Fortsetzung mündlich überlieferte Sagen zu Märchen zu sammeln und diese selbst zu veröffentlichen. Erst auf Basis dieser zusammengetragenen Stoffe konnte eine ernsthafte Auseinander- setzung erfolgen. Die erste Auflage der Kinder- und Hausmärchen wurde 1812 veröffentlicht, es folgten bis 1850 fünf weitere Auflagen. Die Kinder- und Hausmärchen werden jeweils von einer Vorrede eingeleitet, welche sich nicht durch politische Statements äußert, sondern mit der Kulturge- schichte und der Situation befasst, in der die Kinder- und Hausmärchen publiziert werden und welche auch Einfluss auf diese nehmen. Die Gebrü- der Grimm unterstreichen dabei immer wieder, die Märchen unverfälscht, also in reiner Form, veröffentlicht zu haben.13 Neben ihrer Tätigkeit als Kin- dermärchenbuchautoren gelten die Brüder bis heute auch als bedeutsame Germanisten. Zu ihren Forschungsgebieten zählten unter Anderem die Lite- raturgeschichte, Sprachwissenschaft, Volkskunde sowie die Rechts- und Religionsgeschichte. Sie zählen als Begründer der Germanistik und der deutschen Philologie. Populäre Hinterlassenschaften, die heute noch als bedeutend gelten, sind beispielsweise das ÄDeutsches Wörterbuch³, die ÄDeutsche Grammatik³, ÄDeutsche Mythologie³, ÄDeutsche Sagen³ und ÄDeutsche Altertümer³.14 Finanziell waren die Brüder als Bibliothekare, Pro- fessoren und Politiker stets gut aufgestellt. Zwischen 1808 und 1815 war Jacob für wechselnde Regierungen in Westfalen tätig, mitunter für König Jerome Bonaparte und das preußische Außenministerium. Ab 1816 bis 1829 waren beide Brüder als Bibliothekare in Kassel angestellt. In dieser Zeit haben sie die meisten und erfolgreichsten Werke veröffentlicht. Nach anhaltenden Spannungen mit dem hessischen Kurfürsten wechselten die Brüder 1830 zur Universität Göttingen, wo sie neben der Bibliothekars- auch eine Professorenstelle antraten.15 Beide Brüder lehrten an der Univer- sität Göttingen, wurden aber 1837 wegen ihren liberal gesinnten politischen Protesten aus dem Universitätsdienst entlassen.16 Ab 1840 wurden die Grimms vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. als Mitglieder der ÄAkademie der Wissenschaften³ mit einem Sondergehalt nach Berlin beor- dert. Auch wenn sie in eine gehobene und gut bezahlte Position gesetzt wurden, wurde ihnen somit auch politische Zurückhaltung abverlangt.17 Ab 1848 zog Jacob als Abgeordneter des Rheinpreußischen Bezirks Essen- Mühlheim in die Frankfurter Nationalversammlung in die Paulskirche ein.18
[...]
1 Vgl. Pikulik. Die sogenannte Heidelberger Romantik. 1987, S. 209
2 vgl. Weimar, K (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. De Gruyter: Berlin 2008, S. 326
3 vgl. Reallexikon (2008), S.327 f.
4 vgl. Reallexikon (2008), S.328
5 vgl. Reallexikon (2008), S.328
6 vgl. https://lektuerehilfe.de/literaturepochen/romantik/spaetromantik
7 vgl. Engler, Winfried (Hrsg.): Die französische Revolution. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1992, S. 75
8 vgl. Die französische Revolution (1992), S. 144
9 vgl. Schmitz-Emans, Monika. Einführung in die Literatur der Romantik. Wiss. Buchges., Darmstadt 2004, S. 26
10 vgl. Einführung in die Literatur der Romantik (2004), S. 24
11 vgl. Kellner, Beate. Grimms Mythen.Studien zum Mythosbegriff und seiner Anwendung in Jacob *ULPPV ³'HXWVFKHU 0\WKRORJLH" Lang, Frankfurt a. M. 1994, S. 21
12 vgl. Belemann, Claudia. Die Brüder Grimm (2017) ± planet wissen https://www.planet-wissen.de/kultur/literatur/maerchen/pwiediebruedergrimm100.html
13 vgl. Kinder- und Hausmärchen (1819), S. 8
14 vgl. https://www.uni-goettingen.de/de/jacob+grimm+%281785+bis+1863%29+und+wil helm+grimm+%281786+bis+1859%29/74645.html
15 vgl. Belemann, Claudia. Die Brüder Grimm (2017) ± planet wissen
16 vgl. https://www.uni-goettingen.de
17 vgl. Belemann, Claudia. Die Brüder Grimm (2017) ± planet wissen
18 vgl. Belemann, Claudia. Die Brüder Grimm (2017) ± planet wissen